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Archives: Jon Hassell

Vor mehr als drei Jahren erhielt ich zum Geburtstag ein Päckchen mit einem ganz besonderen Magazin, das schon auf den ersten Blick aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Eher ein Buch als eine Zeitschrift, Hardcover, im Postkartenformat, mehr als 200 Seiten, edles, haptisch angenehmes Papier, Fadenbindung. Auf der Vorderseite ein Gemälde in sanften Ocker- und Pastelltönen, eine weite, fast menschenleere Landschaft, als käme sie aus dem 19. Jahrhundert. Analog Sea Review wurde 2018 von Jonathan Simons und Janos Tedeschi gegründet und hat zwei Redaktionssitze, einen in Freiburg im Breisgau und einen in Austin/Texas. Das Journal, von dem bisher drei oder vier Ausgaben erschienen sind, wird ausschließlich durch rund 200 Buchhandlungen in den USA und in Europa vertrieben, nicht online. Es gibt zwar eine Website; diese enthält jedoch ausschließlich die Postadressen der Redaktionen. Zur Kontaktaufnahme – beispielsweise um den aktuellen, kostenfreien Newsletter mit Auszügen aus der kommenden Ausgabe zu bestellen – bleibt nichts anderes übrig, als einen Brief oder eine Postkarte zu schreiben. Die Zeitschrift selbst enthält Gedichte, Interviews, Essays und Prosa, teilweise in Auszügen, dazwischen Abbildungen von Gemälden. Das inhaltliche Zentrum ist das analoge, das echte Leben als Kontrast zum Digitalen mit seinen Surrogaten, grellen Oberflächen und Social Media- Überbietungswettbewerben. Analog Sea geht es um unmittelbare Erfahrungen, Begegnungen face to face, das Sonntag-Nachmittags-Gefühl der Leere, wie man es vor dem Internetzeitalter erleben konnte, Innerlichkeit, Selbstreflexion, (Tag)Träume, Einsamkeit und was daraus entstehen kann: Erfahrung und Kreativität. In zwei ausführlichen Interviews, einem auf Deutsch, einem auf Englisch, erläutert Jonathan Simons seine Anliegen, die sich nicht nur auf den individuellen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Bereich beziehen.

Ausgabe zwei von Analog Sea Review las ich während der Pandemie, ebenso wie Walter Benjamins kleine Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Das stärkte meinen Widerstandsgeist, ich verweigerte einiges, in der Überzeugung, dass das Digitale keine echten Erfahrungen bringt, und ich nahm gravierende Nachteile in Kauf.

Um ein paar bekannte Namen aus Analog Sea Review zu nennen: Ausgabe zwei enthält Texte von Henry David Thoreau, Ray Bradbury, Robert Bly und Albert Einstein; in Ausgabe drei finden sich Texte von Virginia Woolf, Rainer Maria Rilke, Jorge Luis Borges, Wim Wenders, Susan Sontag, C. G. Jung, Robert Macfarlane und Ralph Waldo Emerson. Der Frauenanteil ist verschwindend gering. Ein Werk, auf das sich der Verleger Jonathan Simons gern bezieht, ist Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels aus dem Jahr 1967. Ausgabe zwei von Analog Sea Review veröffentlicht einen anderen Text von Guy Debord: La Dérive. Der Text wurde 1956 auf Französisch veröffentlicht, voilà. Es handelt sich um den Schlüsseltext einer Bewegung, die die Kulturtechnik des Umherschweifens in einem räumlichen Gelände, beispielsweise einer Stadt, beschreibt (hier ein Wikipediaeintrag dazu). In den ersten Zeilen von La Dérive gibt es einen Satz, der mir ein Aha-Erlebnis beschert hat: „The concept of dérive is inextricably linked to the effects of psychogeography (…)“ Ich bin sicher, dass Jon Hassell mit dem Konzept von La Dérive vertraut war, hatte er doch eines seiner Alben Psychogeography benannt. Die Titel einiger Tracks fügen sich ins Konzept des Drifting ein: Aerial View, Neon Night (Rain), Freeway, Midnight, Waterfront District, Favela, Emerald City, Cloud-Shaped Time.

2023 15 Feb

Two kinds of blue

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This is fascinating. One album that grows more and more with time (first encounter lingering), the other one catches immediately (old love never dies – bringing back memories of tropical London, 1990, meeting Jon in South Kensington). The former is Lucrecia Dalt‘s take on South American traditions, „!Ay!“ (2022, The Wire‘s album of the year), songs, bass, electronics, and all, the latter Jon Hassell‘s double vinyl, called „Psychogeography“ (just released), Jon‘s reworking of studio and home recordings of materials and improvs from the days of 1990’s „City: Works of Fiction“. The sound is ace. Sketches, the gift of special moments, some shots in the dark. Two records, two kinds of blue, very fine. Excellent pressing in the case of the Jon’s Ndeya edition with inspiring liner notes by Hassell himself (track by track notes, and damn good ones!), Adam Rudolph and Jeff Rona. 

 

 


Yesterday: One night, years and years ago, some of us journalists joined Jon Hassell, and in that Norwegian pub that had nothing exotic or fourth world-like in its ambience, I introduced Jon to the great-great daughter of Gustav Mahler who was a cellist in a Symphony Orchestra. And that was special. Punkt has always been about the closing of circles.  (m.e.) 

 

Tomorrow: Renowned Norwegian artists celebrate the music of the influential trumpet player and composer Jon Hassell. The influential American trumpeter and composer Jon Hassell passed away on June 26, 2021. This year Hassell would have turned 85, and we wish to honor him with a memorial concert at Victoria on his birthday on March 22. This evening you will hear an all-star team of Norwegian musicians who have all either collaborated with Jon Hassell or have a relationship to his music.

On stage are three generations of inspired trumpeters, in addition to former members of Hassell’s band, who played with him both live and in studio. Several of them collaborated with him on Jon Balke’s „Siwan“ project and played with him at the Punkt Festival in Kristiansand. The music this eveningwill be composed by, or inspired by, Jon Hassell. The memorial concert is produced in collaboration with Punkt, which Hassell visited several times, and is organized in consultation with Hassell’s family. We hope you will join us on Tuesday. See you there!

LINE UP: Nils Petter Molvær – trumpet, Arve Henriksen – trumpet, Kristina Fransson – trumpet, Harpreet Bansal – violin, Eivind Aarset – guitar, Jon Balke – keys, Helge Norbakken – percussion, Jan Bang – live sampling, Erik Honoré – live sampling, keys, Arnaud Mercier – sound


The concert has been streamed live on youtube.
You missed it? Here we go

 

Beim legendären Mana-Treffen auf Sylt hätte ich fast ein Strandkonzert von den Sheriffs of Nothingness eingekauft, aber dann kam es anders. Vom Morsumer Kliff hatte mir Lajla erzählt, bevor ich das erste Mal dorthin fuhr. Als ich in den letzten Jahren immer wieder zu der Insel reiste, liess mich der Gedanke nie los, einmal nach „Klein Afrika“ aufzubrechen, wie ein Teil dieser uralten Landschaft genannt wird, und nicht wegen der Hitze, die mir auf einem klassischen Sonntagspaziergang dort engegenschlug. The more frequently you return to it, the greater the rewards. The bass line suspending Hassell’s eastern melody for “Chemistry” will start to glow. The synthesized horn of “Delta Rain Dream” will transform into a meadow. The cycled trumpet sample of “Rising Thermal 14° 16′ N; 32° 28′ E” will hypnotize you.  Nein, nachts, mutterseelenallein, und so kam es dann – in dem Rucksack waren, unter anderem, eine Taschenlampe, ein nicht gerade leichter Lautsprecher von Sonos, der von meinem Ipad angesteuert werden konnte, und Sprudelwasser. Als erstes kramte ich die Taschenlampe heraus, und machte mich auf den Weg, den ich tagsüber im Schlaf fand, im Sternenlicht aber nur zaghaft betrat.

 

Nachts bekommen Rundwege eine andere Dimension – da ist ja niemand, und selbst ein harmloser zweiter Wandersmann würde einem erstmal, als Schatten, einen gehörigen Schrecken einjagen. Bei diesem Rundweg, der auf dem verlassenen Parkplatz begann, den viele von euch kennen, kramte ich als erstes die Taschenlampe heraus, denn das Licht der Sterne war viel zu fahl und meist von Wolkenschleiern verdeckt. Harmonic motion is limited and all attention is centered around the embellishment of a single melodic line. Hassell is playing lead on these songs, but his performances often blur seamlessly into the backing tracks. Es gibt eine nicht ganz ungefährliche Stelle auf diesem Weg (wenn man sich blöd anstellt), ein schmaler Steg, mit recht steilem Abhang zur Linken, den ich Schritt für Schritt in Angriff nahm, das künstliche Licht mein Beschützer, und schliesslich, nach einer halben Stunde etwa, setzte ich mich an eine höhlenartige Einbuchtung, stellte die Box nahe am Wattenmeer auf, und froh, einen windfesten dicken Mantel zu tragen, liess ich „Possible Musics“ laufen, von Jon Hassell und Brian Eno, von Anfang bis Ende, und wie die Zeit sich in der Folge verhielt, ob sie dahinflog oder stillstand, blieb ihr selbst überlassen, ich mischte mich in nichts ein, und liess mich von den Klängen einfangen (wie seit Jahrzehnten schon), von den Schlangenlinien der Trompete, den Trommeln von Nana Vasconcelos, und einmal, als ich es donnern hörte, schaute ich kurz zum Himmel, eine Täuschung der Sinne, so fein verwoben war der verhaltene Donner mit Brians elektronischen Schatten.

 

Es ist einer der wenigen Tricks, die ich gut beherrsche, und die – auch wenn sich das wenig logisch klingt – auf die Zeit zurückging, als ich in meiner Kindheit ein Buch voller Zauberkunststücke studierte: in touristisch hochfrequentierte Orte am besten nur in der Nachsaison reisen, und dann hinein ins Abgelegene, in die Unzeiten: wind on wind, wind on water. Je leerer eine Bühne ist, desto mehr bewegen sich die  Dinge, die gar nicht da sind, Areale von Traum und Wirklichkeit rücken nah aneinander. Hassell’s landscape is an invented one—an imagined culture, where high technology and mysticism are blended together. Nachdem „Possible Musics“ in meinem abgelegenen Erdwinkel verklungen war, liess ich, aus purer Sentimentalität, diesen Song von Bob Dylan laufen, in dem er um noch eine Tasse Kaffee bittet, bevor er aufbricht, zum nächsten Tal. Dann fing es tatsächlich noch an prasselnd zu regnen, und ich zauberte aus meinem kleinen Rucksack einen faltbaren blauen Regenschirm (dessen Farbe von der Nacht verschluckt wurde), und eine noch halbvolle Thermoskanne Kaffee. The north and the south of you, post-psychedelic, lush, sensuous, and otherworldly. Jon‘s experiment was to imagine a ‚coffee coloured‘ world. Eine Bö riss mir auf dem Rückweg den Regenschirm aus der Hand, und ich war gut beraten, ihn nicht im Dunkeln von Klein-Afrika zu suchen.

 

Lajla hat, anders als andere Menschen damals (mein Glück!), Schwierigkeiten, wenn ihr meine jüngere Stimme aus den Neunziger Jahren begegnet, in Wiederholungssendungen im Radio. Sie konnte sich mit meiner älteren Stimme weitaus mehr anfreunden, als mit dem weichen soften hellen, vielleicht auch androgynen „Samt“ lang vergangener Jahre. Daran musste ich denken, als ich vor Tagen auf Anfrage ein altes Jon Hassell-Porträt vom November 1990 bekam, das damals in der „Studiozeit“ des Deutschlandfunks lief. Gute zehn Minuten daraus werde ich in meinen „Augusthorizonten“ senden, mit zwei Interviewauszügen, und meiner etwas anderen Stimme. Es war schon ein wenig Gänsehaut dabei, diesen tropischen Talk im heissen Londoner Sommer jenes Jahres aufleben zu lassen: ich sehe Jon wieder vor mir, urbane Sounds von Kensington dringen durchs gekippte Fenster, und mischen  sich mit Hassells Fantasien zum Dschungel der Grossstadt. Das „Pearl Hotel“, einst beheimatet in 40, West Cromwell Road, hat einen weiteren Auftritt – nights of white satin, nights of devotion, – und einige meiner Sätze scheinen so surreal, als könnten sie glattweg aus Italo Calvinos Buch „Die unsichtbaren Städte“ stammen. Nach einer Nacht mit „City: Works of Fiction“ vergebe ich diesem Album einmal mehr fünf Sterne.

 

2021 27 Jun

Jon Hassell 1937-2021

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One time I had the opportunity to see him on stage, here at the Fabrik in Hamburg.

Thank you for the music.

 

 

„Sonic evidence of the modular synthesizers, granular synthesis, and convolution reverbs used and applied during the production of „Sing The Glaoming“ process are audible, though never so excessively they negate the voice-centric essence of the project. Side A’s “Phonaestheme” begins with a single voice thrice intoning ‘ghlei,‘ after which other vocal parts gradually emerge, some spoken and some sung. Just before the two-minute mark, a female voice enters with a figure one might encounter on a Meredith Monk recording, and vocal parts of varying pitches and durations are woven into an endless series of combinations, the result more than a little hypnotic. Development advances organically from one episode to the next, with the brief re-emergence of ‘ghlei‘ followed by the bright dance of a voice intoning ‘glint.‘ Halfway through, the voices take on a supplicating quality reminiscent of Le Mystère des Voix Bulgares. During one sequence, wave-like movements and transitions call to mind the structural design of Music for 18 Musicians, but “Phonaestheme” never sits still long enough to assume a singular structural form.“ („Sing The Gloaming“ is a wonderful album by Prof. Simon Kirby et al, fully glowing, glimmering four stars, and no. 34 of my year’s end list)

 

Ich entdeckte Jon Hassell durch einen Raga- und Sitar-Kurs, den ich am College besuchte, wo mir „Vernal Equinox“ sehr empfohlen wurde. Als ein von Natur aus trotziger Mensch beschloss ich, diese Platte zu ignorieren und mich in eine andere, weniger gehypte Platte namens „Power Spot“ zu vertiefen. Der Titel klang muskulös und bedrohlich, und ich erwartete, dass die Musik nach Blut riechen würde. Doch während ich zuhörte, wurde mir klar, dass dies eine viel schlüpfrigere und seltsamere Art von Musik war.

 

Der krasseste und unmittelbarste Titel für mich war ‚Miracle Steps‘. Was ist das für ein Lied? Wenn es ein Geschmack wäre, wäre es eine überreife Mango. Ein Geschmack, der zwischen süß und schleimig schwankt. Wenn es ein visuelles Erlebnis wäre, dann wäre es die verzerrte, verführerische Silhouette von Jessica Rabbit, die sich aus einer Zwangsjacke herauswindet. Auch wenn mir die Liner Notes sagen, dass dieser Track eine bearbeitete Trompete und Trommeln enthält, sehe ich nicht, dass diese Objekte diese Geräusche erzeugen. Ich höre eine Mischung aus Lemuren, Elefanten und Zugpfeifen, die neben den Ästen der Bäume, die auf die Erde fallen, zirpen.

 

Die  Kargheit dieses Stücks fordert den Zuhörer auf, verwirrt zu sein. Ungebunden, versucht dein Gehirn schnell, Lücken zu füllen, und du wirst damit konfrontiert, wie seltsam du bist. Obwohl „Miracle Steps“ nicht gewalttätig oder bedrohlich ist, ist es herrlich unzivilisiert. In der Musik kann man sich nirgendwo hinsetzen. Keine Sicherheitsgurte in Sicht. Insgesamt ist diese Platte verwildert, frei, und ganz sicher aufsässig!

 

(Katie Gately über „Miracle Steps“ aus Jon Hassells Album „Power Spot; übersetzt von D.L. und M.E. – die einzige Produktion von Brian Eno und Daniel Lanois für ECM)

Thela hun ginjeet thela hun ginjeet
Thela hun ginjeet thela hun ginjeet
Thela hun ginjeet thela hun ginjeet

(King Crimson)

 

Pfingstsonntag von Aachen nach Partenkirchen, ein Solo mit dem in die Jahre gekommenen Tojoten. Gute acht, neun Stunden gebrettert. Das GPS führte mich durch eine bedrohliche Regenkulisse in Tirol. Angekommen im Hotel Alpina für eine Nacht. Warum fahre ich am nächsten Morgen nach Grainau zur neuen Seilbahn, die einen in knapp zehn Minuten von 800 Höhenmeter nahe ans Gipfelkreuz transportiert, in knapp 2800 Metern? Eine elende Warterei zuvor, Kaiserwetter und Pfingstmontag.

 

Als ich letzte Stufen hochging, spürte ich die dünne, zittrige Luft. Ich setzte mich, noch groggy vom Vortag und der halben Mütze Schlaf auf eine Bank. Wollte Charlotte nicht schon oben sein, mit schicken weissen Kopfhörern und der neuen Jon Hassell-CD? In meiner Reisetasche das neue Buch von Michael Pollan, Obertitel: „How to  Change Your Mind“ – wahrlich keines dieser grossmäuligen Ratgeber. Ich schweife ab.

 

Es gab Wochen zuvor einen Vorfall im linken Innenohr, und dann eine Woche vor dem Trip, noch einen. Die Akutmassnahmen griffen, aber hartnäckig blieb die Eustachische Röhre verschlossen, egal, welche Tricks zum Einsatz kamen. Bitter für das Musikhören, ganz bitter. Ich kannte das Problem mit der streikenden Röhre schon von früher, und entwickelte einst, mit jeder Menge ärztlicher Skepsis im Vorfeld, meine Idee einer Druckkammertherapie. Tatsächlich lief es dann so ab: nach zwanzig Minuten Flug Richtung Arrecife baut sich ein sehr schmerzhafter Druck im Ohr auf, der bis zu einer halben Stunde andauern kann. Dann, wie ein Tresor, knackt langsam, Zahnrad für Zahnrad, die verriegelte Röhre auf, und das gute Hören kehrt zurück.

 

Bei den acht Flugexperimenten dieser Art (leider nicht auf Krankenschein) stellte sich ein anhaltender Effekt ein. Wie eine Kur. Nun waren in den Pfingstferien meine bevorzugten Orte sehr teuer und ausgebucht. Dann, verriet mir ein aufgeschlossener HNO-Arzt, tut es auch die Zugspitze.

 

 

 

Ich sass auf der Bank. Nach einer Viertelstunde etwa baute sich ein ziemlich schmerzhafter Druck im linken Ohr auf, nicht so schlimm wie bei Flügen, aber nah dran. Ich hiess den Schmerz willkommen. Arbeitete mit Affirmationen, stellte mich aufrecht hin wie ein Musterschüler von Turnvater Jahn, streckte meine Arme zweimal nach vorne, zweimal zur Seite, zweimal nach oben (und als ich dazu ein paar alte Goethe-Verse aus dem West-Östlichen Divan mit Stimmwucht rezitierte, spürte ich den Blick einiger Touris auf mir, die mich für nicht ganz dicht hielten, was bei mir allerdings keine erröteten Wangen, sondern innere Heiterkeit produziert) – „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten / Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen / Rufet die Arme der Götter herbei!“.

 

Ich setzte mich wieder, die Wolken zogen sich zu, das wundervolle Knacken der Röhre setzte ein, es dauerte eine Weile, und die Ohren waren bestens aufgestellt. Ich verweilte zwei Stunden im Höhentraining, und sicherte den Effekt am nächsten Tag mit einer weiteren Seilbahnfahrt ab. Haferlkaffee in der höchsten Berghütte des Landes, mit Bergdohlen. Und dann gingen die Abenteuer weiter. Am Tag nach der Heimkehr legte ich eines meiner Lieblingsalben von King Crimson auf, „Discipline“, den 5:1-Mix von Herrn Wilson. Berauschend.

So mag ich den Sommer. Ich bin nicht verreist, habe ein paar große Brocken meiner to-do-Liste abgehakt und genieße die Ruhe der Stadt während der Zeit der Sommerferien, die hier überall spürbar sind. Ich mag es, wie das Licht in die Wohnung fällt, ich habe noch fast die Hälfte der siebten Staffel von Mad Men vor mir und freue mich schon auf weitere Romane von Steve Erickson, die ich dann endlich lesen will. Amnesiascope. Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann einmal die Dienstleistung eines Krans beanspruchen würde, aber ich werde ihn morgen wahrscheinlich buchen. Es geht hier um die Verwirklichung eines lang gehegten Traums, eines schallgeschützten Zimmers. Auf dem Werbeprospekt sieht man in der einen Hälfte des Hauses dunkle Gestalten, ausgelassen tanzend in blauem Licht, das wie in einer Disko unberechenbar durch die Räume zielt, an der Hausfassade wilde Graffitis. Es sieht nach mindestens ungefähr 90 Dezibel aus und in der anderen Haushälfte sitzt eine Lady in einem warm beleuchteten Wohnzimmer in einem Sessel und blättert lässig in einer Zeitschrift herum. Ein freundlicher Mitarbeiter hat mir das heute Nachmittag demonstriert. „Welche Musik wollen Sie hören?“ fragte er und ich sagte Jon Hassell, aber er hatte dann doch nur irgendeine Popmusik ohne Identität, die aus einem kleinen Gerät dröhnte. Er stellt das Ding in die Silentbox und setzte den Deckel auf. Und dann war es fast still. Wie schätzen Sie die Lautstärke ein? 85 Dezibel, sagte er. Das Silentboard gibt es seit etwas drei Jahren, und es funktioniert so, dass parallel zur Wand in einem Abstand von etwa 13 Zentimentern eine weitere Wand, bestehend aus einzelnen längs verlaufenden Platten über eine an Decke und Fußboden verlaufende Metallschiene eingebaut wird, wobei der Hohlraum mit einer Dämmmasse befüllt wird. Die Platten sind so schwer, dass die praktikabelste Lösung darin besteht, sie mit Hilfe eines Krans in die Wohnung zu befördern, sagte der Mitarbeiter. Ein Kran? Das Zimmer, das ich mit der Wand versehen lassen will, wird dadurch zwar einige kleiner, aber ich hätte dann doch mehr Privatraum. Ich würde es dann nicht mehr mitbekommen, wie das Nachbarmädchen mit ihren Freundinnen spielt und ihre Fähigkeiten auf dem Xylophon weiter entwickelt. Ich könnte einfach auf der Matratze liegen, auf den Baum vorm Fenster schauen und was lesen. Und „City. Works of Fiction“ auch mal lauter stellen.


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