Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Meine Erfahrung mit Zigeunern (mit Sinti und Roma-Bezeichnungen habe ich Probleme, weil ich nie weiss welcher Gruppe derjenige angehört, von dem die Rede ist – früher wussten viele es selbst nicht oder es war ihnen egal. Sie waren stolz auf die Bezeichnung „Zigeuner“) begann im Studium in Würzburg, als wir noch die Welt retten wollten und in einem Stadtteil von Würzburg, den man heute Problemviertel nennen würde, mit Sozialarbeit begannen. Damals hiess es „Zupferviertel“, heute „Klein-Moskau“. Dort gab es überwiegend Kasernen mit Besatzungssoldaten, Sozialbauten und aus dem Betrieb genommene Kasernengebäude, in denen dann Menschen wohnten, Wasser und Klo auf dem Flur, es wurde nie saubergemacht. Dort lebten arme Familien, Frauen mit Kindern unterschiedlichster Couleur, die wiederum von den Soldaten lebten und verarmte alte Leute. Die weissen Soldaten nannte man die Zupfer (Baumwolle), die schwarzen Bimbos und die Zigeuner eben die Zigis. Es wohnten viele Zigis dort, seit Generationen sesshaft in Würzburg, sie unterschieden sich in nichts von den anderen Bewohnern und ihre Namen klangen sehr „deutsch“: Weiss, Lehmann, Winterstein, Herzberger, Grünblatt.

 

 

 

 

Wir richteten eine Vorschulgruppe ein für Kinder, die aus den öffentlichen Kindergärten wegen Verwahrlosung und Aggressivität hinausgeflogen waren, eine Hausaufgabenbetreuung und einen Jugendclub für die Älteren, bekamen Räume die wir erst renovieren mussten, finanziert von der Katholischen Hochschulgemeinde.

Die Zigis lebten überwiegend von Autohandel und -reparatur oder von Sozialhilfe, es gab vier grosse Clans, die sehr gefürchtet waren, auch über die Grenzen des Viertels hinaus. Wir Studenten waren als Helfer bekannt und respektiert, man konnte auch als Studentin unbehelligt nachts durch die Benzstrasse (genannt „Das Tal der langen Messer“) laufen; in den gutbürgerlichen Vierteln ging das für Mädels nicht immer gut aus.

Nachdem die Stadt sich geweigert hatte, einen dringend benötigten Zebrastreifen an der Kreuzung, an der unsere Vorschule lag, zu genehmigen malten wir in der Nacht selbst einen. Die Zigis standen Schmiere.

Die Elterngeneration der Zigis hatten das KZ – meist Dachau – überlebt. Ich arbeitete damals für die Stadtteilzeitung und hatte einmal zusammen mit einem Kommilitonen ein Interview mit dem alten Herzberger (Name geändert, die Nachfahren leben noch dort) über seine Vergangenheit durchgeführt. Ob er Roma oder Sinti war, wusste er selbst nicht, er wollte als Zigeuner bezeichnet werden. Auch er hatte Dachau überlebt. Es begann düster und traurig, aber nachdem seine Frau viertelstündlich eine Runde Slivowitz servierte wurde es zunehmend fröhlicher, am Ende sangen wir die Internationale und anderes Liedgut. Das Tape habe ich noch.

In Würzburg war es noch Usus, dass sich die Ehemaligen SS-Verbände regelmässig in einem Lokal in der Innenstadt trafen – dies wurde auch so in der Zeitung angekündigt (Mitglieder der 4. SS-Sturmtruppe treffen sich am … ). Immerhin 1977.

Herzbergers verfolgten dies aufmerksam und als es mal wieder soweit war, wurde Alarm geblasen und jeder männliche Zigi über 14 machte sich mit einem Knüppel unter der Jacke auf zum entsprechenden Lokal. Ich mit dem Fotoapparat hinterher. Es gab eine filmreife Prügelei, mit reichlich Prellungen und Blutergüssen, angeblich kam niemand ernsthaft zu Schaden. Ein wehrhaftes Volk.

In unserer Studentengruppe mussten wir uns dann mit unserer klammheimlichen Freude auseinandersetzen und ob man Gewalt befürworten darf, wenn sie die richtigen trifft.

Manchmal frage ich mich, wer mehr von unserer Arbeit profitiert hat: Die Kinder unserer Zielgruppe oder die braven Bürgerkinder unter den Studenten, die die dunkle Seite der Welt vielleicht sonst nie kennengelernt hätten. Zumindest sind sie dankbar dafür. Die Kinder lernten die hellere Seite kennen – wir nahmen sie mit in die Uni, unsere WGs, machten Wochenendausflüge mit Gitarre und Lagerfeuer, viele begleiteten wir jahrelang. Beim 25-jährigen Jubiläum sahen wir sie wieder als Erwachsene, uns fiel auf dass sie sprachlich wortgewandter und verbalisierungsfähiger waren, als man sonst vom „Prekariat“ gewöhnt ist. Den Arbeitskreis gibt es bis heute, also über 50 Jahre.

 

Da sitzt das Haustier, abgerichtet,

und es wird ihm klar:

Es gibt auch noch das andre

nicht versklavte Exemplar.

(F.J. Degenhardt, Zigeuner hinterm Haus des Sängers)

 

 
 

Geht’s noch?

Nein, es geht nicht, ging noch nie, irgendwie. Bei Lars von Trier geht’s, bei Fassbinder ging’s noch nie so gut. Ich habe also nachgeladen: Teil 2 über Regisseure, die ich nicht mag. Dann besteht die Gefahr, dass man ihre Filme auch nicht mag oder gar nicht erst versteht oder sich gar nicht drum bemüht. Auch wieder schade, aber mach was dran!

Lars von Trier und Fassbinder sind beide Antipathen, aber bei letzterem fällt mir Verschiedenes schwerer auszuhalten, die Portion Selbstmitleid und Weinerlichkeit ohne jegliche ironische Brechung, der Versuch Klischees darzustellen und dabei selbst in gesellschaftskritisch sein sollende Klischees zu verfallen und vor allem die mangelnde selbstreflexive  Distanz; das Bespeien der Nachkriegsgesellschaft aus dem Abgrund der eigenen Kraterpersönlichkeit heraus und das Dauergejammer nach Liebe (Warum läuft Herr R. Amok?), mit der er letztlich nichts anfangen konnte, obwohl sie ihm von vielen zugetragen wurde. Er lebte zeitlebens mit der Mama in der Wohnung und Mama kreuzte auch am Drehort mit der Gulaschkanone auf, um das Team durchzufüttern, eine Magensonde im Dauerbetrieb. Der Freigeist war in Wirklichkeit ein unabgelöster Käfigtiger und mit Muttersöhnen muss frau vorsichtig sein – eine wirklich glückliche Beziehung hat er nicht gebacken bekommen, darüber mährte er sich in einem überdauernden Es-geht-nicht (das sich bei vielen Muttersöhnen findet) in seinen Filmen aus, die er im Halbjahrestakt auf das Publikum abschoss. Manchmal geht’s halt eben doch, bei ihm eben nicht, irgendwann sollte man das auch mal einsehen. Wie Elvis Presley (der den ersten Song seiner Mama widmete – Thats alright Mama, everything you do) endete er als Sack, ernährte sich von Pillen und verstarb in den hellen Dreissigern. Seine sogenannten Frauenfilme waren ein Anbiedern an die Frauenbewegung, das war damals comme il faut, ohne das ging’s nicht, (die Revoluzzerzeit hatte genauso strenge Regeln wie diejenigen, gegen die sie revoltierte, man muss sich nur einmal die Szeneklamotten anschauen – da findet man das grösste Uniformlager der Welt mit Jeans, Khaki-Parkas, US-Schlafsäcken und Palästinensertüchern. Als ich mal im Dirndl 1975 in die Uni ging, machte man sich ernsthaft Sorgen um meine seelische Gesundheit. Alte Jeans, T- Shirts und Turnschuhe, im Sommer vielleicht noch’n Herrenunterhemd, aber nur für die Mädels, sonst warste draussen in der Szene). Soviel zum Sprengen aller Grenzen und Freiheit für alle. I wasn’t born to follow …

In Wirklichkeit konnte er mit Frauen nichts anfangen und wenn er sie im Fang hatte, quälte er sie wie der schlimmste 50-er-Jahre-Familienmacho, den er dann in seinen Filmen wieder projektiv verprügeln konnte. Dabei hatte der Bursche durchaus Talent zu erzählen und in Bilder und Tableaus umzusetzen, Narrative gelangen ihm besser als Satiren, Parabeln und Gesellschaftskritik, Berlin Alexanderplatz war ein guter Wurf, ebenso Die Ehe der Maria Braun, wobei die Differenziertheit der Figurenzeichnung immer etwas zu wünschen übrig lässt. Effie Briest kann sich auch sehen lassen, wobei man der „Gullaschy“, wie wir sie immer nennen, öfter ein „Hallo wach!“ zurufen möchte. Oder einen Espresso hinstellen. Die Kälte des Menschen und die Kälte der Welt konnte er gut darstellen, weil sie auch in ihm selbst wohnte, darunter brodelte es. Die Filme waren die Überdruckventile für den eigenen Dampfkessel, da gab es eine Not loszuwerden – eine Form der Affektabfuhr in einer unverarbeiteten Form, die ich bei LvT so nicht finde. Der hat seine Sachen durchgearbeitet, vorverdaut und in verarbeiteter Form von sich gegeben, hat sich selbst weitgehend verstanden und die nötige professionelle Distanz zu Protagonist und Geschehen. LvT stellt dar und schildert, Fassbinder übergibt sich. Bei wenigen Filmen – wozu ich Alexanderplatz zähle, war ihm anscheinend gerade mal nicht schlecht. Bei Angst essen Seele auf übergibt sich dann auch noch der Zuschauer.

 

 
 

Lars von Trier beschäftigt sich gern mit Frauen und ihrem Innenleben, beobachtet Frauen, dreht über Frauen, bildhaft und szenengewaltig. Aber er berichtet nur scheinbar über Frauen, in Wirklichkeit berichtet er über Männer und ihre Art, die Frauen zu sehen, zu fürchten und zu dämonisieren, vor allem das Letztere.

The Male Gaze, eine bekannte Sichtweise, aber diesmal nicht in Form einer voyeuristischen Ausbeutung, Idealisierung und Objektualisierung der Frau und ihrer Reize im Film und das Bedienen von Männeraugen durch Schönheit, sondern die Verzerrung der archetypischen Frauen-Imagines durch den geängstigten Mann. Da kennt er sich verdammt gut aus. Wobei er sich durchaus selbst auch in diese Gruppe subsumiert, das spürt man und das macht den an sich relativ dysphorischen Kerl doch um einiges sympathischer. Zumindest kann er mehr als antisemitisch oder sonstwie dumm daherschwatzen. Insbesondere seine späteren Filme (ich beziehe mich hier insbesondere auf Antichrist, Melancholia und Nymphomania, aber auch Dogville und Breaking the Waves fliessen mit ein), letztere arbeiten ebenfalls mit archetypisch-mythischen Bildern der verschlingenden, kastrierenden, kindermordenden Frau und ihrer durch nichts endgültig zu befriedigenden Lust, die auch mal über Leichen geht, wenn nicht gleich über einen ganzen Friedhof. Die phrygische Göttin Kybele verlangte die Kastration von ihrer männlichen Fanbase.

Justine in Melancholia, die sich masochistisch mit einem auf die Erde zurasenden Planeten zu paaren bereit ist und bei der Hochzeitsfeier im Brautkleid einen anderen Mann benutzt, um ihrer Depression zu entkommen, ist so eine Gestalt. Antares, der Planet, ist inzwischen auf der Zielgeraden – der Zuschauer erfährt einen Impact als Justine mithilfe ihrer Drahtschlinge nachmisst, dass das Dingens schon sehr viel näher gekommen ist – hier eine gelungene Ikonographie. Das fährt einem in die Knochen. Antares ist ein Antagonist zu Ares, dem männlichen Kriegsgott, somit könnte man ihn durchaus als weibliches Gegenprinzip verstehen, aber ein Stück überwältigende Weiblichkeit, die sich ebenso zerstörerisch verhält wie der Kriegsgott und damit den Frauengestalten LvTs durchaus das Wasser reichen kann – in diesem Fall eher das Feuer.

„SIE“ – die namenlose Frau in Antichrist – lässt ihr Kind fahrlässig zu Tode kommen, um bei ihrem Orgasmus nicht gestört zu werden, verstümmelt ihm vorher die Füsse; laut Freud auch ein Kastrationssymbol, verfällt dann dem Wahnsinn und zerquetscht ihrem Mann die Hoden, der vorher vergeblich versuchte sie mit den Mitteln von Logik und Wissenschaft – er ist Psychologe – zu heilen; fast tötet sie ihn.

Der zweite Impact ist die Schlusseinstellung: „ER“, auch namenlos und damit entindividualisiert und somit als der „Mann als solcher“ gezeichnet, taumelt schwerverletzt durch den Wald, ihm – und damit dem Zuschauer – kommt eine schwallartig zunehmende Horde gesichtsloser Frauen entgegen – überflutend und beängstigend, ausgestossen aus dem Schoss der grossen Mutter Erde, einer Büchse der Pandora, sich unendlich schnell vermehrend und damit erinnernd an Homo Faber, den  die Fruchtbarkeit des Urwaldes anekelte, die ständige Feuchtigkeit, Gärung und Vermehrung – „wo man hinspuckt keimt es!“ Die beängstigende Gebärpotenz der Frau. Damit entlässt uns der Regisseur wieder in unsere eigene Psychose, manchen Mann in die Frauenangst und den Frauenhass, manche Frau in die Betroffenheit darüber, wieviel Angst sie auszulösen imstande ist und wie das in ihre Beziehungen hineinwirkt. Und wieviel sie selber überhaupt dafür kann.

Wie Frauen wirklich sind, erfährt man bei LvT nicht und er ist klug genug das einzugestehen, wenn man ihn danach fragt.

In Nymphomania wird das Thema der unersättlichen Frau bis zum Überdruss des Zuschauers ausgereizt – die Frau als schwarzes Loch, das keinen Boden und keine Begrenzung mehr finden kann. In Dogville – ein Machwerk aus dem Rape-and-Revenge-Genre – ereilt Grace ihre verdiente Kollektivschuld, Strafe gleich im Vorfeld; sie wird als Sklavin gehalten, bis sie ihre Ketten sprengt und tabula rasa macht und in Manderlay dann nochmal einen Zahn zulegt. Die eher auf eine Theaterbühne passende Kulisse hebt den Film auf eine Ebene des Artifiziellen und Überindividuellen, erneut eher eine Parabel als ein Narrativ.

Die Frauen bleiben rätselhaft und ihre Sexualität hart an Abgründen manövrierend oder in diese hineinstürzend.

Schon Freud musste passen, wenn es um die Frage ging, was das Weib eigentlich wirklich will. Auf die naheliegende Idee, einfach mal seine Frau oder Tochter zu fragen, kam er nicht. Dabei sah man bei Anna sehr gut was sie NICHT wollte, nämlich noch einen Übervater an ihrer Seite, mit dem sie dann auch noch das Bett teilen und sechs Kinder grossziehen müsste. Das Besetztsein durch ihre Eltern und ihre Unterwerfungstendenz war bei ihr gravierend genug, die Herzensthrone waren gewissermassen schon besetzt; eine gesunde erwachsene Abgrenzung und Lösung ist in ihren Briefen nirgends zu spüren. So liebte sie nur Personen, die auch ihr Vater lieben konnte – Frauen.

Das hätte dem Alten zu denken geben können. Oder lieber eben doch nicht, man muss ja nun nicht alles wissen, was schmerzlich am eigenen Narzissmus kratzt. Da stochert man lieber weiter in Frauenseelen …

Somit ist jeder Film von LvT ein raffiniertes Vexierspiel mit doppelter Brechung und multiplen Verzerrungen von einem Betrachter der Betrachtenden der Betrachteten. Aber auch die Gutartigkeit und das Opferwerden der Frauen finden ihren Platz in manchen Filmen wie Breaking the Waves oder Dancer in the dark – hier sind wiederum die Männer toxisch und ihre Lynchjustiz sehr nahe. Man bleibt sich nichts schuldig, letztlich. Die Frauen verschwinden hinter ihren Bildern wie Nachbar Gott in dem bekannten Gedicht von Rilke, das von schmerzlicher Getrenntheit handelt, der letztlich nicht ganz zu eliminierenden Getrenntheit zwischen den Geschlechtern. Zu viele Bilder, als dass man sich noch sehen könnte.

 

2023 5 Aug

Geht’s noch?

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Ja, es geht! Aber warum geht’s? Wenn doch so vieles schon nicht mehr geht! Bei Woody-Allen-Komödien geht’s zum Beispiel nicht mehr. James Dean geht auch nicht mehr, zumindest bei mir nicht. John Wayne ging noch nie. Nouvelle Vague ging immer, aber jetzt auch nicht mehr. Bunuel staubt auch schon etwas ein. Rocky Horror geht merkwürdigerweise immer noch, läuft seit seinem Erscheinen ununterbrochen in München in einem kleinen Flohkino an der Isar jeden Sonntag und die chronifizierten Fans finden sich sonntags ein mit Taschenlampen, Regenschirmen, Kochbeutelreis, Wasserpistolen, Klopapier und den anderen Accessoires. Muss man nicht mitschleppen, dafür gibt’s Fanpackages an der Kasse. An meinem Geburtstag nächstens will ich da hin! Mein Mann weiss es nur noch nicht, aber gleich weiss er’s …

Clint Eastwood geht immer, aber nur als Schauspieler, nicht als Regisseur.

Warum funktioniert ein Kultfilm einer längst vergangenen Epoche immer noch und hat nichts von seiner Faszination verloren? Wobei fraglich ist, ob er nur bei den angejahrten 68ern noch geht oder auch bei jüngeren Generationen. Wäre mal ’ne Doktorarbeit wert!

Warum funktioniert Easy Rider immer noch ungebrochen in unserem Emotionshaushalt? Vielleicht weil es mehr eine Komposition ist als ein Film? Ein ständiges Fliessen, es geht weiter und immer weiter: gone, gone, gone beyond; gone beyond beyond – die Herz-Sutra; der Film hatte für mich schon immer eine buddhistische Anmutung. Über alles Hinausgehen hinausgehen, kein Haiku, aber ein Koan. Der Film fliesst wie ein Fluss. Egal, was gerade passiert ist, man kann es wieder verlassen und es geht weiter, wird transzendiert und das nächste flüchtige Ziel angesteuert und wieder verlassen. Das nimmt den Dingen die Schwere. Gleichzeitig sehen wir auch eine Innenansicht, Seelenbilder und – bewegungen, die wohltuende Illusion, sich selbst entkommen zu können und sich in psychedelischen Bildern aufzulösen oder mit ihnen zu verschmelzen, die Freiheit durch das Aufgeben der eigenen Grenzen. Der Soundtrack ist dabei natürlich nicht wegzudenken, er fliesst mit dem Geschehen. The river flows …

Das hat mir bei Wim Wenders immer so gefehlt: Der Drive! Bei ihm kleben die Figuren am Boden, bei Easy Rider schweben sie tänzerisch einen Meter oben drüber. Ein grosser Wurf von Dennis Hopper hinter der Kamera, vor ihr eher in einer Sancho-Pansa-Rolle agierend – sympathisches Understatement. Und der nette Sidekick mit der Kreation eines neuen Verbums: to bogart.

Mit Jack Nicholson als ausgefuchstem saufenden Anwalt und Peter Fonda als stillem Grübler mit einem Händchen für die Frauen – ein furioses Trio. Hinzutretende Frauen werden natürlich wieder verlassen, hier klingt das Klischee des in den Sonnenuntergang reitenden Helden wieder an, ein bisschen Freddy Quinn, ein bisschen Winnetou, ein bisschen Irgendeiner wartet immer!; Freiheit war damals noch Männerfreiheit.

Der psychedelische Trip im Hippiecamp wirkt dabei als einziges Element etwas unbeholfen. Eher, als versuche sich Hopper symbolüberladen in Sachen Surrealismus, ohne einen wirklichen Draht dazu zu finden – oder als hätte er nie etwas wirklich Gutes geschluckt. Das können andere besser, auch ohne jemals einen Trip eingeworfen zu haben.

Aber egal – es geht weiter und immer weiter, man will zum Karneval nach New Orleans. Ist das jetzt das Shangri-La? Nein, da wartet nur der Pusher – aber es kann ja wieder weitergehen, neue Räume tun sich auf, flüchtige Begegnungen blitzen auf und verglühen wieder. Das Böse kristallisiert sich in den Sesshaften, den Unbewegten, den konservativen Hinterwäldlern, in ihren eigenen Grenzen erstickt und brutalisiert, die nur kurz aufscheinen, denen es aber gelingt, das Leuchten eines anderen Lebensentwurfs zu zerstören.

Den Tod sehen wir von aussen, die Kamera geht auf Distanz, von weitem sehen wir zerschmetterte und brennende Überreste, keine Leichen, kein Blut. Wo sind die beiden Ermordeten? Wir müssen doch trauern! Die Kamera schwenkt in den Sommerhimmel. Natürlich sind sie schon längst wieder unterwegs auf ihren Harleys in den sundown und ins nächste Abenteuer. To some other town

In den Olymp, wo die Mythen hausen!

 
 

 
 

Und jetzt steckt Euch eine an und dann:
„Don’t bogart that joint, my friends!“

 

2023 16 Jul

Junkfood ohne Nährwert

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The Whale (USA 2022), Darren Aronofsky

 

Der Plot dürfte bekannt sein: Ein schwerst adipöser Lehrer kann seine Wohnung nicht mehr verlassen, sich kaum mehr bewegen, beschäftigt sich mit Essen, Gay-Pornos und Online-Seminaren über Literatur, bei denen seine Webcam ausgeschaltet bleibt. Er scheint ein guter Lehrer zu sein. In dieser Rolle kann er „ganz Geist“ sein, seinen Körper vergessen und wird von seinen Schülern wertgeschätzt. Ein Quäntchen Lebensinhalt, immerhin … und ein Fall von Fatshaming.

Eine befreundete Krankenschwester versorgt ihn, sie scheinen zusammengeschmiedet wie Gargantua und Pantagruel. Eine dicke Made in ihrem gleichfarbigen Kokon – Khaki – eine Tarnfarbe. So ist man zunächst mit den Show-Werten von Charly beschäftigt – abwechselnd angerührt, angeekelt, insgeheim so mancher auch schadenfroh und fühlt sich zuzeiten auch zurückversetzt in Becketts fatalistisches All that fall mit seinem spezifischen Topos des ewigen Wartens – letztlich ist Godot ja doch der Tod und in diesem Fall lässt der nicht allzu lange auf sich warten.

Er meldet sich sogar gleich zu Anfang, als Charly einen Herzanfall erleidet und nur durch das Vorlesen des Aufsatzes einer Schülerin über Moby Dick wieder zu Atem kommt – auch hier geht es um einen Wal, der getötet werden soll, als Metapher für den gierigen und verschlingenden Anteil seiner selbst. Der weitere Hinweis auf das langweilige Leben der Wale im allgemeinen und das vielleicht ebenso empfundene Leben des Autors von Moby Dick wirft ihn um … bzw er gesundet daran; soviel kindliches Einfühlungsvermögen bewegt ihn und weist zurück auf den Konflikt mit seiner Tochter, die er vor Jahren verlassen hat um eines jungen Lovers willen und um deren Verständnis er in Dauerschleife wirbt. Es beginnt insofern recht vielversprechend. Leider identifiziert sich der Regisseur zunehmend mit seinem Hauptdarsteller, dem nach jedem Anfangsschub gleich wieder die Puste ausgeht und der zur externen Sauerstoffzufuhr greifen muss – und das ist auch das weitere Procedere und Schicksal der Filmhandlung: die Puste reicht nicht. Und leider fehlt dem Regisseur auch die externe Sauerstoffzufuhr. Die restlichen anderthalb Stunden ist man voyeuristisch, fasziniert und abgestossen beim Beobachten von Charlys monströsem Körper und seinen schweisstreibenden Mühen, der allein den Film aber nicht zu tragen versteht, genauso wenig wie die Unterwerfung unter seine kiebige Tochter und ihrer entnervenden Daueraggressivität – eine Figur ohne Tiefenschärfe, ebenso wie die Krankenschwester und der junge Preacherman, dessen Funktion im Handlungsgefüge sich mir nicht wirklich erschlossen hat, ausser dass er sich im Schutzpanzer seiner kruden sektierischen Religion genauso eingeigelt hat wie Charly in seinem Fett, die Tochter in ihrer Aggressivität und die Krankenschwester in einer Form von nicht deutlicher werdendem Frust, auch eine Person die nirgends verortet scheint und keine erkennbare Geschichte hat, also letztlich kein Interesse weckt. Die Figuren bleiben platt.

Man findet sich als Zuschauer eher wieder in einer Position, die vergleichbar ist mit dem Betrachten von RTL2-Realityshows wie etwa Hartz und herzlich, die die sogenannte Unterschicht – jetzt als Prekariat benahmt – neu definiert und in Form eines Menschenzoos vorführt.

Früher war diese Schicht soziologisch beschrieben als arbeitende Klasse, fleissig malochend, standesbewusst und damit revolutionäres Potential, zumindest hätten’s die deutschen Studenten gern so gehabt. Leider wollten die zu Befreienden gar nicht befreit werden. Jetzt besteht die Unterschicht aus einem Cluster von Personen, die eben gerade NICHT arbeiten, von öffentlichen Mitteln leben und ketten-rauchend in einer Dauerregression vor dem Fernseher verfetten.

 

 

 

 

RTL2 schildert verständnisvoll und teilnehmend deren schwieriges Leben, die Kamera erzählt nebenbei eine ganz andere Geschichte:

Wenn der Sozialhilfeempfänger klagt, dass er keine Reha für seine chronische Bronchitis bekomme oder das Skilager für die Kinder nicht erschwinglich sei, schwenkt sie klammheimlich auf übervolle Aschenbecher, Plasmafernseher, Laptops, Designeroutfits und kunstvoll gestaltete künstliche Fingernägel (eine Art Erkennungszeichen dieser Gruppe), auf dass der Steuerzahler bemerke, wo seine Gelder bleiben. „Parasiten am Volkskörper“ nannte man das früher irgendwann einmal. Ein hundsgemeines Vorführen der ohnehin Abgehängten und einmal mehr eine zynische Ausbeutung, mit der man die Zuschauer erfreut die nun froh sein können, nicht so auszusehen und um diese Loser-Situation im Leben noch einmal herumgekommen zu sein. Und trotzdem den Sozialneid schürt. Auch so ein Schneewittchenspiegel, der uns unsere hässliche Seite zeigt.

Einige Stars dieser Serie haben inzwischen Kultstatus, eigene Blogs und Twitterkanäle und der erste hat bereits seine eigene Sendung im Bezahlfernsehen – aber zurück zu Moby Dick.

Freilich gibt es auch anrührende Momente – insgesamt aber zu dünn gesät, um ein wirkliches Filmerlebnis mit Tiefgang zu gerieren. Da hätte man mehr daraus machen können, wenn man schon Aronofski heisst und bisher viel Brauchbareres abgeliefert hat.

Dem Oscar-Team ging es wohl ebenso: So schnappte der Hauptdarsteller im Fatsuit (Brendan Fraser, früher durchaus ein Sixpack-man) dem Regisseur den ebenso sauer wie wohlverdienten Oskar als bester Schauspieler weg und Aronofsky guckte in die Röhre. Es gibt doch noch so etwas wie Gerechtigkeit.

Das Ende driftet dann vollends ins Theatralisch-Sentimentale: Ein unangebracht melodramatischer Showdown mit halbwegs versöhnter Tochter, bei dem Charly vom Boden abhebt, ins Meer watet und sich dann in Licht auflöst. Schluchz!

Von Aronofsky ist man Besseres gewöhnt, anscheinend hat er mehr auf die Oskars geschielt anstatt einen kritischen Blick auf sein Werk zu richten. So bemerkt der Zuschauer, dass er zwar konsumiert, aber nicht wirklich satt wird und ein paarmal zuviel kompensatorisch in die Popcorntüte gelangt hat.

Und so bleibt der Film Junkfood mit Geschmacksverstärkern, aber ohne wirklich sättigenden Subtext und intellektuellen Nährwert.

 

2023 26 Jun

Schauder und Idylle

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Die Welle (D, 2008) von Dennis Gansel
nach dem gleichnamigen Roman von Morton Rhue , 1981
basierend auf einer wahren Begebenheit in den USA

 

Es gibt Filme, die ersparen einem eine 4-wöchige Selbsterfahrungsgruppe, indem sie ein Übertragungsgeschehen in uns wachrufen, das uns mit neuen Nebenräumen des eigenen Kellergeschoßes konfrontiert, in dem auch mal dringend abgestaubt werden sollte. Man verlässt dann das Kino reichlich erschüttert – letztlich am meisten über sich selbst. Auch das ein Kriterium für einen guten Film.

Der Film Die Welle handelt von der Unternehmung eines progressiven, aber auch etwas naiven Lehrers, mit seiner Klasse eine Projektwoche zum Thema „Autokratie“ durchzuführen. Der Lehrer – ein grandioser Jürgen Vogel – ernennt sich selbst zum Autokrator, die Klasse zu seiner Gefolgschaft. Es wird Uniformierung vereinbart, eine Begrüssung durch Handzeichen, Gehorsam. Dann bekommen die Schüler beigebracht im Gleichschritt auf der Stelle zu marschieren – die Schule erbebt. „So kann man Brücken zum Einsturz bringen!“.

The first impact has landed – in den Zuschauerraum weht ein Schauder – aber nicht von der negativen Art, nein – sondern von der Macht eines gleichgeschalteten Kollektivs und seiner Durchschlagskraft. Und ja, auch von der Geborgenheit unter Gleichgesinnten und ihrer Verführung. Es entsteht ein „Wir“ wo vorher viele smartphonehypnotisierte „Ichs“ waren. Das springt rasch in den Zuschauerraum über.

Einen ähnlichen Impact konnte ich bei der ikonischen Szene aus Cabaret beobachten, als eine friedliche Biergartengesellschaft ihren Nachmittag geniesst, ein blonder Junge glockenhell und nett anzusehen „Tomorrow belongs to me“ singt, die übrigen Gäste mit einstimmen, die Gesichter sich aber zunehmend aggressiv verzerren und am Ende alle aufstehen und den deutschen Gruss entbieten. Schauder und Idylle – hier mehr Schauder, in der „Welle“ zuerst noch Idylle. Die Klasse, zuvor in die üblichen Interessen-Grüppchen zersplittert, man ist en vogue und weniger en vogue, schliesst sich in einer ungewohnten Einigkeit zusammen, bisherige Outsider werden integriert und gestützt, dem „Autokraten“ wird Gehorsam gezollt. Es macht sich eine Form von Solidarität breit, die auch den Zuschauer aufatmen lässt, der um die Folgen von Autokratien weiss. Aber der Verstand ist ein Idiot, sobald ihn ein Gefühl anspringt. Man suhlt sich also mit im Gemeinschaftsleben, in dem alles zusammen getragen und ertragen wird.

Aber auch Brüche und Verwerfungen werden gezeigt: Unterschwellige Rivalitäten machen sich breit unter den testosterongebeutelten Jungs, während die Mädels besonnener bleiben: eine Rauferei im Schwimmbad unter Wasser – metaphorisch für zunehmende Aggression unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; ein türkischer Mitschüler wird attackiert. Die Klasse kreiert sich ein Logo, drängt zunehmend an die Öffentlichkeit auf der Suche nach mehr Geltung. Ein Anfang, wie wir ihn aus der Geschichte bereits kennen.

Das Misstrauen einer kleineren Gruppe von Schülern gegen das Experiment wächst, die zunehmende Abgrenzung nach Außen, der Kadavergehorsam und die Gewaltbereitschaft beunruhigt einige, es entwickelt sich eine Widerstandsbewegung. Diese sensibilisiert uns in einer Art, dass wir nun auch die Gefahr wittern, die die Idylle zunehmend durchtränkt. Flugblätter werden geschrieben. Eine Szene, in der eine Schülerin nachts in der Schule Flugblätter auslegen will und Angst vor Entdeckung hat, zitiert das Sophie-Scholl-Motiv und wirft den Zuschauer in einen Zustand quälender Ambivalenz, der die Idylle nicht verlassen will. Plötzlich ist man gegen Sophie Scholl eingenommen, als hätte sie etwas Wertvolles zerstört.

Schliesslich scheitert das Experiment dramatisch, der Lehrer wird festgenommen und kann sich nun an einem ruhigen Ort mit seinen eigenen Seelenräumen auseinandersetzen. Und seiner Unkenntnis über das Schicksal des Zauberlehrlings und der Unterschätzung der destruktiven Kraft von fehlgeleiteter Autoritäts- und Vatersehnsucht seiner Schüler in einer vaterlosen Gesellschaft. Den hätte ich nur zu gern auf der Couch gehabt …

Zurück bleibt eine traumatisierte Klasse und ein sekundär traumatisierter Zuschauer. Was hat man erlebt? Den Sog des diktatorischen Faschismus und sein Geschick, Idyllen zu inszenieren.

Der Titel zu diesem Beitrag ist geklaut, es ist der Titel eines Buches von Gudrun Brockhaus (Jahrgang 1947), die darin viel selbsterlebte Idyllen, Volkslieder, Lagerfeuerromantik, Gemeinschaftsschauder, Mutterschaftsidealisierung ihrer Kindheit analysiert, und immerzu mit dem eigenen Erleben verknüpft.

 

 

 

 

Der Faschismus und seine Ästhetik ist weiterhin ein Marktfaktor, vor allem in der Comicwelt und Populärkultur. Natürlich sind die Faschisten die bösen Gegner, aber die Heroisierung als Teilmenge der faschistischen Idyllenreinszenierung findet trotzdem statt.

 

 

 

 

Sozusagen das zweite Leben des Dritten Reichs, wenn nicht gar schon das dritte. Das zweite fand dann wohl statt in der Filmproduktion des kalten Krieges, dem geopolitischen Zusammenschluss mit den USA und der zunehmenden Wiederaufrüstung Deutschlands, als der latente Faschismus die Filmproduktionen diskret durchwebte und umschlich: „Ein Jäger ist ein Heger, der das Schwache und Kranke ausmerzt damit das Gesunde erstarken kann!“ schwurbelte damals der Förster vom Silberwald. Das sass so tief, da musste ein Regisseur noch nicht mal besonders dämlich sein, um dergleichen 1954 flott in sein Kunstwerk einzubauen. Von der brutalen Germanisierung und Christianisierung der Indigenen durch einen gewissen Karl May jetzt mal gar nicht zu reden, da waren die Überlebenschancen eines Indianers direkt proportional zu der Angleichung an das Wertesystem des weissen Bruders Scharlih, oder zumindest musste er dahingehend modifizierbar sein; ein Old Shatterhand-look-alike-Rattenrennen in jeder Folge sozusagen – aber ich schweife ab.

 

 

 

 

Faschistische Ikonik, eine Gemengelage aus Wiederentdeckung, Verdrängung, Modifikation und Stellungnahme mit teils unscharf gezeichneten Rändern, aber auf jeden Fall höllisch interessant für viele. Monumental, überwältigend und mörderisch steckt sie auch in Star Wars; Darth Vader trägt nicht umsonst einen Stahlhelm, dem traut man zu, dass er zum totalen Krieg bläst. Der Schatten der westlichen Demokratie im jungianischen Sinne sieht für mich so aus, zumindest fällt mir Vader da immer als erstes ein.

Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.

 

Ist dieser Film „ein unheimliches Prosa-Gedicht über die Einsamkeit“? Ich habe ihn gestern in völliger Dunkelheit gesehen, auf grosser Leinwand, was dem Zugang und Erleben sicher nicht abträglich ist. Für Uschis psychoanalytisches Filmseminar wäre er wohl ein gefundenes Fressen. Safe Journey!

Peter Bradshaw vermerkt dazu, und das möge als Einstimmung genügen: „Der Film selbst fühlt sich an wie ein hartes, schrumpeliges, verwittertes Objekt, wie die, die man auf der Leinwand sieht. Lange Strecken vergehen völlig wortlos, mit Umgebungsgeräuschen von Meeresspritzern und Nahaufnahmen von Steinen oder Tassen oder dem Zifferblatt des alten Funkgeräts, mit dem der Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten wird. Enys Men ist in kräftigen, satten Farben gedreht und sieht aus, als wäre er in dem Jahr gedreht worden, in dem er spielt: 1973.“  (m.e.)

 

 

 

 

Ein Frau arbeitet isoliert auf einer einsamen Insel für den „Wildlife Trust“, beobachtet eine Blume beim Wachsen, führt darüber Protokoll, ist die meiste Zeit damit beschäftigt ihren widerspenstigen Generator zu starten, hört ihrem Transistorradio zu und liest abends im Bett „A Blueprint for Survival“. In ihrer Vereinsamung kommt es zu einer Lockerung der Realitätsschranke, zu beunruhigenden optischen und akustischen Wahrnehmungsphänomenen. Das ist soweit nicht neu, und viele Blüten des Horrorgenres oder der „Haunted-House-Filme“ arbeiten mit diesem Motiv; von inspiriert bis platt. Ein isolierter Mensch ist bestrebt eine objektlose Umwelt mit Objekten zu füllen, wie wir es aus Deprivationsexperimenten kennen: er betet, meditiert, denkt an seine Lieben und führt Gespräche mit ihnen, bei längerdauernder Isolierung entgleitet dieser Prozess der Steuerung, und die Innenwelt begegnet ihm im Aussen in freundlicher oder bedrohlicher Art. Eine Gelegenheit, die eigenen Gespenster zu begrüssen und sich neu kennenzulernen für die, die mutig genug sind und nicht alles im Aussen verortet wissen wollen wo es gut verstaut ist.

So weit, so gut!

Dieser Film ist nun aber – genau wie seine etwas rätselhaft bleibende Protagonistin – spröder und sperriger, die Umwelt und die Phänomene geheimnisvoller und nicht leicht deutbar, keine unerlösten Geister und Träger von bösen Geheimnissen, sondern eine Welt voller rätselhafter Zeichen und Hinweise ohne klaren Bezug zueinander, in der die Wissenschaftlerin herumirrt. Eine steinerne Skulptur auf dem Berg erinnert offenbar an verstorbene Kinder oder auch anderes.

Die Wissenschaftlerin selbst verhält sich desgleichen rätselhaft – nach jedem Gang zu ihren Blumen wirft sie einen weissen Stein in einen tiefen schwarzen Schacht und lauscht auf das Aufschlagen. In ihrem Protokoll steht lange Zeit „no change“, die Zeit scheint stillzustehen. Der Film bedient sich nicht eines platten Symbolismus, dessen Zeichen wir enträtseln könnten, sondern er belässt uns – und das ist seine Stärke – in einem Zustand der Sinn- und Zusammenhanglosigkeit.

Was bedeutet die oft eingesetzte Farbe Rot auf dem Hintergrund einer eher fahlen Natur? Warum ist der Anorak rot, der Generator, der Benzinkanister? Sie sorgen für Wärme, okay, aber warum dann die eingeblendeten roten Schnürsenkel? Was war mit den 7 Frauen, die herumgeistern? Dem Priester mit dem Baby, der für die Rettung eines Seemanns beten lässt? Man irrt umher, friert innerlich, und versteht nicht, ebenso wie die Frau auf der Leinwand.

Das Ganze erinnert an das Buch des Analytikers André Green über die „Tote Mutter“. Eine Mutter, die nicht tot ist sondern in einer schweren Depression verfangen, traumatisiert oder anderweitig in einer Situation, in der sie ihr Kind zwar versorgen, aber keinen emotionalen Rapport zu ihm herstellen, und seine Annäherungsversuche nicht beantworten kann. Diese Kinder erleben eine überwältigende Leere und Sinnlosigkeit, ein Auf-Sich-Zurückgeworfensein, nachdem sie sich vorher vergeblich damit erschöpft haben, die Mutter aufzumuntern und zu beleben.

Was macht es für einen Sinn, ein Bauklötzchen in den Raum zu werfen, wenn es niemand zurückbringt und ein fröhliches beziehungsstiftendes Spiel daraus entsteht oder ein beruhigendes Ritual? Und daraus Lebensfreude erwächst. Was macht das bei Kleinkindern so beliebte Gugu – dada – Spiel für einen Sinn, wenn niemand da ist, der die Angstspannung beim Verschwinden mitempfindet und die beidseitige Freude beim Wiedersehen?

Ein lebendiges Gefühlsleben kann nicht entstehen, stattdessen eine „Krypta im Ich“, eine Identifikation mit einer Mutter, die keine Lebendigkeit erträgt und weitergibt – es werden immer seltener Steine in den schwarzen Schacht geworfen und auf das Aufschlagen gelauscht, um sich zu vergewissern, dass er nicht grundlos sondern doch noch irgendwie endlich ist. Und die Zeit steht still in den immergleichen vergeblichen Abläufen. Ein junges Mädchen mit erstarrtem Gesicht stürzt sich vom Dach und erleidet eine schwere Verletzung, die Frau hat eine Narbe an derselben Stelle, zum erstenmal blitzt ein Zusammenhang auf.

Das Jemand-Erreichen-Können ist bei diesen Kindern ein zentrales Thema („Ich werf den Ball jetzt bis nach Afrika, dann schauen wir ob er zurückkommt!“ „Schau mal – die Schnur! Meinst Du, die reicht von hier bis zu mir nach Hause?“ ). Gerne wird auch etwas Eigenes in der Praxis zurückgelassen, ein Püppchen, das ich zwischenzeitlich versorgen muss, damit der Faden zwischen uns nicht reisst. Verbindung, Verbindung, diese Kinder hungern danach. Verbindung lässt einen die Welt und sich selbst kennenlernen und verstehen, lässt Lebensfreude entstehen. Die Statue auf dem Hügel bleibt versteinert und erstarrt, auch wenn sie zwischenzeitlich kurz verschwunden ist. Auch nicht zu enträtseln.

Die weissen Blumen, die die Protagonistin bewacht, strecken schliesslich doch ihre Fruchtstempel aus (rot!), bereit zum Kontakt, zu einer Befruchtung; aber schon legt sich wieder eine weisse Flechte wie Schimmel über die Blütenblätter. Wird sie sie töten? Haben sie umsonst die Arme ausgestreckt?

Im Haus ertönen die üblichen rhythmischen Geräusche, zum erstenmal schwingt sich die Frau ein, tritt im gleichen Rhythmus auf den Boden, eine Verbindung ist nun zum erstenmal hergestellt. Die toten Mädchen erscheinen und nehmen den Marschrhythmus auf.

Eine Blume bleibt frei von Schimmel – sie wird gepflückt und woanders untergebracht, die Wissenschaftlerin wirkt hoffnungsvoller und entspannter, die Lieder enthalten Versöhnungsmotive. Ein Priester singt ein Lied über einen Seemann in Not, würdigt aber das Baby in seinem Arm keines Blickes. Er scheint etwas anderes zu betrauern.

Die Natur erblüht (rot!), eine Nacktschnecke entrollt sich, streckt die Fühler aus und wittert die Welt. Die Statue leuchtet rötlich in der Abendsonne. Die Frau lächelt.

So kann der Subtext des Filmes gelesen werden als Reise in eine erstarrte ,zerstörte und von allem abgetrennte Innenwelt, die belebt werden muss damit der Mensch überleben kann.

Ein zehnjähriges Mädchen, das in einem solchen Zustand war, spielte am liebsten mit mir „Eismann“ (oder bo-frost): Der Eismann brachte die dringend benötigte Nahrung, grinste, aber sprach nicht. Oder Doktor: Sie behandelte als grinsender, sprachloser Arzt die Patientin – mein Püppchen – aber auf grobe und uneinfühlsame Weise und war zu keiner gefühlvolleren Handlung zu bewegen, wie sehr das Püppchen auch klagte. Oder sie liess sich einfach zu Boden fallen und spielte „tot“, und genoss in einer sadistischen Abwehr eigenen Leids meine verzweifelten Bemühungen, sie zu verlebendigen, das war unser von ihr eingefordertes Anfangsritual. Jetzt gings mal andersrum, der Spiess war gedreht. „A Blueprint of Survival. Seither weiss ich wie sich eine „tote Mutter“ anfühlt, es war eine für mich quälende Behandlung.

Das gibt nicht nur ein Seminar, das wird ein Wochenendworkshop. (U.M.)

 

 

 

Die Rezensenten können sich bei diesem Film schwer einigen – die Einschätzung reicht von „schräger Komödie, makabrem Melodram bis zu schwarzhumorigem Buddymovie“ und will angeblich Einblicke in die Mentalität irischer Insulaner liefern. Ich denke, dies wird dem Film nicht gerecht, der einen immer wieder schaudern lässt. Es geht hier nicht um individuelle Reibereien und Kränkungen, sondern um ein Lehrstück, wie sich militante Psychodynamik entwickeln kann –  und sich sowohl im persönlichen als auch globalen Kontext leider oft genug entwickelt.

Es beginnt mit einem Konflikt zwischen Freunden, genauer zwischen einstigen Freunden: einer davon, Colm, möchte sich aus der Beziehung lösen um Zeit für andere Dinge zu haben, ein nachvollziehbares menschliches Bedürfnis. Aber schon beginnt der Diskurs maligne zu entgleisen. Der etwas geistesschlichte Leftover Padráic fühlt sich verletzt und zurückgewiesen. Der Konflikt mündet in eine eskalierende Gewaltspirale, die den Zuschauer zunächst fassungslos macht.

Die Kamera arbeitet mit dem Aufspüren und Akzentuieren von Gegensätzen – die claustrophobische Enge des Zusammenlebens im Dorf, das nichts Idyllisches an sich hat, der Pub, in dem man sich trifft, in dem aber jeder allein am Tisch sitzt. Dagegen abgesetzt: die  Bilder von lockender Weite, sonnenbestrahlten Wolken, sowie der Freiheit des Meeres unter einem immer düsteren Himmel. Und dann dieser harmonischer Soundtrack, der Sehnsüchte weckt, und die Möglichkeit eines Entkommens suggeriert, das die Bewohner nicht zu nutzen wissen, die sich wie Kampfhunde ineinander verbissen haben. In der Ferne tobt allerdings auch der irische Civil War, wir haben 1923, der Bezug zum Kriegsgeschehen ist damit hergestellt.

Das Zusammenleben der Inselbewohner ist eine Aneinanderreihung von Verletzungen, narzisstischen Kränkungen, Übergriffen und Grenzüberschreitungen. Ständige Blicke durch Türen und Fenster nehmen den Zuschauer mit in das Spiel und gewähren Einblicke in Innenräume, die Kamera umkreist lauernd die Protagonisten. Pádraic – eine zunächst sympathische Figur – fungiert hier als der freundliche Mensch ohne Arg, ein tumber Tor ähnlich wie Parzifal oder Simplicissimus, der die Ränkespiele der Welt noch kennenlernen muss und ihnen wehrlos gegenübersteht. Seine Tiere verkörpern ebenso dieses Prinzip der Unschuld und Gutartigkeit, werden aber, wie Pádraic selbst, zusehends zu Opfern.

Wir erleben die zunehmende Entwicklung Pádraics vom Verlassenen zum Täter, als Colms Aggression zusehends autodestruktiv wird, er sich bei jeder unerwünschten Annäherung von Pádraic einen Finger abschneidet und ihm diesen vor die Tür legt: es entsteht ein sadomasochistischer Clinch mit vielfältigen Möglichkeiten des Zurückschlagens für den Verlassenen. Mit jeder Annäherung kann er Colm wieder verletzen – hier kommt es zur paradoxen Umkehrung in dieser Zweierchoreographie – die Annäherung bedeutet nun nicht mehr Beziehungs- sondern Verletzungswunsch, das Spiel folgt jetzt anderen Gesetzen. Die Racheaktionen der beiden eskalieren bis zum Mordversuch, aber auch hier gibt es noch kein Ende, denn nun ist Pádraic der Unversöhnliche, der den Krieg nicht beenden will.

Seine Schwester, hier Verkörperung des Prinzips der Selbstfürsorge und pragmatischen Vernunft, hat die Insel bereits verlassen und in den freundlichen Weiten ihr Shangri La gefunden, sie lockt ihn, aber Pádraic wird ihr nicht folgen, er wird fortfahren sich zu rächen mit immer weiter ansteigender Aggression. Bedrohlich begleitet wird das Geschehen von eine alten schwarzgekleideten Frau, die die Banshee, die Todesfee der irischen Mythologie, repräsentiert; hier als Zeichen für den alles überdauernden menschlichen Todestrieb geschickt in die Handlung eingeflochten. Sie bleibt auch in der Schlusseinstellung als letzter Eindruck zurück – unzerstörbar, uneliminierbar.

Welche Hilfe von der Religion zu erwarten ist, zeigt die gelegentliche Einblendung einer gesichtslosen Muttergottesstatue – Götter sind hier längst zur Allegorie erstarrt und können nicht mehr helfen, liefern keine halt- und sinngebenden Strukturen mehr in ihren Stadien des Zerfalls, und verstehen es besser Kriege auszulösen als zu verhindern, insbesondere in Irland. Eine weisse Banshee! Und Gott verhüllte sein Angesicht, heisst es irgendwo.

Eine „schrullige Farce“ kann ich hier nicht sehen, die Bosheit und Rachsucht drängt sich zunehmend in den Vordergrund und überlagert den durchaus vorhandenen schwarzen Humor. Das – wie ein Rezensent schreibt – „kleine Sterben einer Freundschaft vor der Kulisse des grossen Sterbens im Krieg“ halte ich für Schönfärberei; was wir hier sehen, ist das Entstehen von Kriegen, aus dem Mikrokosmos eines durchaus friedlich lösbaren Beziehungskonfliktes und seiner archaischen Verarbeitung eingedampft. Die Mechanismen der Destruktion sind immer die gleichen.

Eine zutiefst bittere und pessimistische Parabel über den Zustand der Menschheit und ihrer Gewaltneigung, in der alles Gute erstickt, wie der Esel am abgetrennten Finger Colms. Gedreht im Jahr des Ukrainekriegs aus einem von Bürgerkriegen gebeutelten Land. Das hätte Sartre kaum besser hinbekommen, ich denke, er freut sich auf seiner Wolke – zum Rivalisieren mit Mitschreibern neigte er ja nicht – ausser mit seiner Simone, der er als erste Beziehungsamtshandlung die Philosophenkarriere ausredete und sie lediglich bei den Schriftstellerinnen eingeordnet wissen wollte. Die Vorreiterin der Emanzipation liess es sich gefallen und schriftstellerte von da ab.

Wer bei „Im Westen nichts Neues“ auf Distanz ging – und das waren einige, auch verdiente Rezensenten –  wird es hier nicht mehr schaffen. Man baut in diesem Film weniger Reizschutz auf als im Kampfgetöse vom „Westen“, und das Geschehen trifft sodann mitten in die Weichteile.

Und der Film ist nicht vorbei, wenn das Licht angeht, die Gruppendiskussionen waren langwierig. Am besten hinterher noch von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ auflegen (mit Qualtinger) –  eine schöne Abrundung für einen misanthropismus-  und gallensaftgenerierenden Abend.

 
 

Hab nicht gut aufgepasst: Welcher Pyro- und Lasertechniker hat jetzt eigentlich den ESC gewonnen? Angeblich soll sogar gesungen worden sein, wie man hört …

Spässle!

Music isn’t fireworks – Music is feeling.

Also sprach der portugiesische Sänger Salvador Sobral ex cathedra, als er 2017 das grosse ESC – Rattenrennen gewann, mit pubertärem Charme in einem viel zu grossen Sakko. Und einem Song, der entfernt nach verräucherten Studentenkneipen mit existenzialistischem Flair, Nächte füllenden Diskussionen, Sozialromantik und einem Hauch von Intellektualiät roch, mit der man damals vergeblich versuchte, erotische Wirrnisse mental zu erfassen und bewältigbar zu verstoffwechseln oder wahlweise die Welt zu retten. Daran erinnert man sich in jedem Fall gerne. Über die logischen Brüche im Text – wenn einer nicht liebt muss der andere eben doppelt soviel lieben – breiten wir einmal den Mantel des Schweigens oder verhandeln es als Paradoxon – als Thema für ein psychologisches Seminar. Eine Mathematik der Gefühle, nu ja, zumindest amüsant, ein bisschen zum Dahinschmelzen, wenn der Schmelzpunkt tiefer liegt, was man ja Frauen gemeinhin nachsagt. Wurde allerdings in „Wenn Frauen zu sehr lieben“ schon 1985 verhandelt und scheint als Lebensmodell nicht wirklich hinzuhauen.

Aber zurück zum Rattenrennen:

1960 – etwa so lange gucke ich schon ESC, damals noch Grand Prix d‘ Eurovision de la Chanson genannt (Satz für die Ewigkeit: Douze points pour l‘ Allemagne, Mann war das spannend!). Damals herrschte in der leichten Muse noch die schwarze Pädagogik, die junge Leute belehrte, dass man noch Träume haben sollte (anstatt zu handeln) und über den Frieden und gegen den Krieg singen sollte (anstatt zu handeln). Ein Antikriegslied hiess tatsächlich „Bumm badda bumm„, womit Geschützlärm verklausuliert war, als ob Krieg nur aus Krach bestünde. Damals meinte man noch Botschaften in süsse Melodien verpacken zu müssen – Beiss nicht gleich in jeden Apfel und Sprich nicht drüber und Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein und Liebeskummer lohnt sich nicht und kleine Italiener haben immer Heimweh nach ihren Freundinnen und sonst anscheinend keine Probleme. Und die Sänger/ innen waren hübsch und sauber mit Kernseife gewaschen.

 
 

 
 

Was in der Erinnerung bleiben wird sind Melodien, Rhythmen und Gesichter der Protagonisten. Einige Songs waren wirklich nicht schlecht: Das pfiffige „Puppet on a String“ von Sandie Shaw, das herrlich mediterran – theatralische „Apres Toi “ von Vicky Leandros, naja, und später dann natürlich „Waterloo“. Merci Cherie hab ich erfolgreich verdrängt, bei Udo Jürgens krieg ich Pickel. Vor ein paar Jahren dann ein zweiter Platz für die sympathischen Common Linnets mit „Calm after the Storm“ mit sehr puristischen optischen Effekten und Country – Einschlag. Ausreisser!

Natürlich weiss ich, wer heuer gewonnen hat – eine Schwedin, plaziert auf einer Art überdimensionierter Sonnenbank wie ein Sandwichbelag, die aussieht wie Pocahontas und sich tatsächlich von den anderen abhob, weil sie ungeschminkt war. (Dürfte übrigens Michas Kragenweite sein). Vermutlich war sie das aber nicht, sondern wurde vorher 4 Stunden in der Maske mit dem Nude-Look versehen: Man wird mühevoll so geschminkt, dass man aussieht als sei man nicht geschminkt – wer’s nicht glaubt, der google „Tilda Swinton“, die hat als erste damit reüssiert. Keine Ahnung wie lange die morgens in der Maske hockt. In den Nagelstudios gibt’s den gleichen Trend – eine Stunde Kreation von künstlichen Gelnägeln die aussehen wie natürliche Nägel. Milchbad-Look heisst das – unten rosa, oben weiss – fetzig, oder? Ich verkneife mir hier mal den Tarzanschrei und lege es ab unter „ungeklärte kulturhistorische Phänomene“, denen ich mich im höheren Alter widmen werde (sogenannte Verzweiflungsprokrastination), kann doch nicht sein dass alles nur auf Kohlemachen hinausläuft, by the way …

Oder?

Der ESC ab Millennium hat keine Botschaften mehr, die Protagonisten drehen sich in ihren Texten um sich selbst und ihre Empfindungswelt, in der Regel um ihre Beziehung (Youre my tattoo, I am your satellite, we are blood and glitter ), das ist die Narzissierung der Wohlstands- und Spasshaben-Gesellschaft, das schwappt in alle Bereiche der Trivialkunst, dazu fuchteln sie wie ein Fitnesscoach auf Speed. In den letzten 10 Jahren wurde zusehends mehr gerappt, klar, damit verjüngte sich die Zielgruppe, während 1960 auch noch die Oma zuguckte und mit den Liedern etwas anfangen konnte. Bei Heavy Metal geht das nicht mehr, obwohl … Opa und Oma sind heutzutage Ü50, da waren die schon in Wacken dabei. Der Uropa noch in Woodstock.

Während es früher noch um Wellsounding und Goodlooking ging, steht nun Andersartigkeit im Focus – als einzige Chance den Preis abzustauben: Man muss sich dramatisch von der Masse abheben. Das führte zu zwei Siegen für Deutschland mit einem Nonsens-Lied von Guildo Horn und einem Quatsch-Rap von Stefan Raab. Das nächste Mal sang eine schöne Frau mit Vollbart, hat auch geklappt. Etwas später dann der knuddelige Portugiese a capella mit einsamem Barpianisten und im zu weiten Anzug. Dann war der Distinktionstrick wieder ausgereizt.

Wenn ich an die – von mir jährlich treulich verfolgten – ESCs des 3. Jahrtausends denke, erinnere ich ausschliesslich das Aussehen der Sänger und die optischen Affekte, keineswegs das Lied. Dafür aber die finnischen Lordi, mit denen man problemlos eine Geisterbahn ausstatten könnte, die Lady mit Vollbart, die queeren deutschen Punker von 2023 und die Nude-loo -Lady im Bitchburner. (Deutschland immer weit vorn und öfter sogar Erster, wenn man nur die Tabelle um 180 Grad drehte).

 
 

 
 

Somit folgt die Darbietung dem Muster eines Infantilisierungsprozesses; wenn man einem Baby ein Lied vorsingt und zeitgleich eine Christbaumkugel hinhält, dann wird es sich nur für letztere interessieren, der visuelle Effekt toppt den akustischen (vermutlich ein Atavismus – in der Steinzeit war das Mammut schon eher zu sehen, als dass man es hörte), Lied und Gesang werden zu einer funktionalisierenden Tonspur, die man – wie auch oft im Film – nur unterschwellig oder auch gar nicht mitbekommt und sich auch nicht mehr daran erinnert; zumindest ich muss immer nachhören, mit geschlossenen Augen. Ein Tonspur-Contest. Dann merkt man auch nicht gleich was mies ist.

Nach einem Jahrzehnt Gerappe setzte man heuer übrigens wieder auf Melodisches – Distinktionstrick. Kunst und Wettbewerb beissen sich, haben sich schon immer gebissen. In einer Konkurrenzsituation wächst selten etwas Gutes; Aussenorientierung und Nach-Nebenan-Schielen statt Sammlung, Kontemplation und eigene Handschrift.

Einen Wettbewerb für Künstlerisches oder auch nur Trivialentertainment auszuschreiben evoziert den Effekt, den man auch in einer Kinderschar beim Wurstschnappen bekommt, in der jeder immer höher zu hopsen versucht als der andere, um gesehen zu werden und das angesabberte Paar Wiener zu bekommen. Was dann entsteht ist eine Freakshow mit Unterströmungen von Hysterie und Verzweiflung – eben ein ESC.

 

 

 
 

R.I.P.

 


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