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2023 30 Okt

Die Farbe Gelb

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Ein Tag im Jahr 2100, mitten in Deutschland, wie könnte das sein? Von uns wird es niemand mehr erleben. WDR 5 und das Literaturbüro NRW haben einen Wettbewerb ausgerufen, an dem 367 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben. Das Thema lautete: „Ein Tag irgendwo in NRW im Jahr 2100“. Die drei Gewinnertexte wurden von zwei Sprecherinnen und einem Sprecher gelesen und finden sich unter diesem Link. Vor jeder Lesung steht ein Statement der jeweiligen Autorin bzw. Person. Tief beeindruckt hat mich die Erzählung „Die Farbe Gelb“ von Iris Antonia Kogler. Die Lesung beginnt bei Minute 24:18 und endet bei 37:03, dauert also etwa 13 Minuten. Der Link ist verfügbar bis 31.10.2024. Der Sprecher des Textes hat eine ausgezeichnete Performance hingelegt.

 

2023 15 Okt

I once was lost

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Ist es noch ein Fall von Synchronizität, dass ich in meinem Blogbeitrag über The Analog Sea Review vor knapp zwei Wochen über die Kulturtechnik des Umherschweifens schrieb und gerade einen Kurzfilm sah, in dem jemand davon erzählt, wie er sich mit dem Auto verirrte? Im Anschluss spricht die Regisseurin Emma Limon unter anderem darüber,  inwieweit sie von der Ästhetik aus David Lynchs Twin Peaks beeinflusst war, besonders von Szenen im Diner. „I once was lost“ changiert zwischen Arthouse, Dokumentation und Spielfilm, dauert knapp elf Minuten, lief in der Sendung Kurzschluss auf ARTE und ist bis 5.12.2024 in der Mediathek verfügbar.

 

 

Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen
mit Fahrrad und Schimmel. Leichthändig

schiebt sie den Griff, hält sie die Zügel
hinter ihr das tänzelnde Pferd. Das flache
Licht aus den Niederungen, die weißen Wolken.
Ein Sekundenbild und mir fällt die Skulptur
Cloud Gate in Chicago ein, der gespiegelte Himmel,
unter dem ich mir beim Fotografieren
zuschaue, gleichzeitig oben und unten bin,
mich aber nicht wirklich sehe.
Dies alles hat nichts mit dem Mädchen zu tun,
nicht die Gedanken an Vermeer. Nur der Wunsch,
den Tag auf den Kopf zu stellen, ist real.
Pferd und Mädchen werden kleiner,
nach der Kurve habe ich sie verloren.
Bleibt der Moment. Splitter unter der Haut.
Der Gedanke, vieles wäre heute möglich, wäre leicht.

 

Aus: Barbara Zeizinger – Schon morgen wird alles gewesen sein. Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg 2023

 
 
 

 
 
 

Martina Weber: Dein Gedicht „Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen“ ist mein Lieblingsgedicht aus deinem neuen Gedichtband. Schon das erste Bild mit dem Mädchen, die auf einem Feldweg unterwegs ist und mit einer Hand ihr Rad schiebt und mit dem anderen ein Pferd führt, löst viel bei mir aus. Ich finde es gar nicht so einfach, ein Rad mit einer Hand zu schieben, ich denke sofort an einen Freund von mir, der sein rotes Rennrad mit der linken Hand, die er in der Mitte des Lenkers hielt, durch Freiburg schob. Dann skizzierst du knapp die Umgebung und gelangst zur Cloud Gate Skulptur in Chicago, führst das etwas aus und bemerkst, dass es nichts mit dem Mädchen zu tun hat. Dass du dabei auch Vermeer erwähnst, lässt mich sofort an die Dienstmagd mit dem Milchkrug am Fenster denken und ich übertrage die Stimmung und das Licht aus diesem Bild in das Bild vom Mädchen mit Fahrrad und Pferd, obwohl es im Gedicht heißt, es gäbe keinen Zusammenhang mit Vermeer. Das ist ja der Trick der Verneinung: Etwas, was verneint wird, wird benannt und ist daher präsent. Im restlichen Teil des Gedichts folgen weitere Gedanken, die vom Eingangsbild gelöst sind, dann wird das Bild des Mädchens wieder aufgenommen, wie es verschwindet. Ein starkes Bild sind die Splitter unter der Haut. Die Wirkung der Begegnung ist geradezu körperlich. Ein Handlungsdruck. Der Schlusssatz setzt fort, dass Möglichkeiten spürbar sind. Das Mädchen mit dem Rad und dem Pferd hat Energie ausgelöst und etwas in Bewegung gebracht.

Barbara Zeizinger: Ich finde sehr schön, wie du das Gedicht analysierst. Ich kann jetzt nachträglich gar nicht sagen, wie ich auf diese ganzen Zusammenhänge gekommen bin. Jedenfalls nicht bewusst. Ich weiß nur noch, dass ich ähnlich wie du die Geschicklichkeit des Mädchens, es war ein eher zierliches Mädchen und ein großes Pferd, bewundert habe.

Martina Weber: Ausgangspunkt für deine Gedichte sind meist äußere Eindrücke oder Erfahrungen, die du dann mit Überlegungen, Gedanken oder Erinnerungen kombinierst, die nur teilweise mit den äußeren Eindrücken zu tun haben und wodurch die Gedichte ihre Tiefe entfalten und im Lesenden weiterwirken. In deinem Gedichtband „Morgen wird alles gewesen sein“ sind Anlässe deiner Gedichte beispielsweise eine Landstraße, auf der du sehr oft unterwegs bist, die L 3111), Ausstellungsstücke im Hessischen Landesmuseum und eine Reise in die USA. Für mich sieht es so aus, als ob dir die Themen geradezu zufallen und nie ausgehen.

Barbara Zeizinger: Das ist sehr schmeichelhaft, aber nicht ganz zutreffend. Manchmal habe ich den Eindruck, mir fällt überhaupt nichts ein. In Bezug auf viele Gedicht in dem neuen Lyrikband hast du allerdings recht. Bei den Gedichten über die Straße L 3111 habe ich geradezu Ausschau nach Ereignissen, Landschaften usw. gehalten, nach einer Werbetafel, einem Krötenzaun, einem Kreuz an der Böschung usw. Bei diesen Gedichten fiel es mir leicht, sie assoziativ weiterzuspinnen.

Martina Weber: Am 4. Oktober hast du in der Kunsthalle Darmstadt aus deinem Gedichtband gelesen und im Gespräch mit Kurt Drawert gesagt, dass du einen Ort veränderst, indem du darüber schreibst. Von Autorinnen und Autoren ist man eher die Aussage gewohnt, dass sie sich selbst durch das Schreiben verändern, aber einen Ort …? Wie meinst du das?

Barbara Zeizinger: Das bezog sich auf die Frage von Kurt Drawert, ob ich durch mein Schreiben einen Ort „töte“. Der Ort ist ja objektiv da. Aber wie ich oder jemand anders ihn wahrnimmt, kann sehr unterschiedlich sein. Das meinte ich mit verändern. Aber das muss keine feste Wahrnehmung sein, man kann Orte, je nach eigener Verfassung unterschiedlich empfinden. Jedenfalls ist es sehr subjektiv. Bin ich glücklich, kann mir ein objektiv hässlicher Ort gefallen und umgekehrt. Und natürlich verändere auch ich mich durch diese Begegnungen und Wahrnehmungen. Das schreibe ich in dem einen Gedicht: „Wenn der Mais geerntet sein wird, / die Dunkelheit wieder früher einsetzt, / werde auch ich mich verändert haben.“

Martina Weber: In einem Gedicht, das du einer verstorbenen Freundin gewidmet hast, zählst du prägende Lektüreerfahrungen auf: Marx, Erich Fromm und „Der Tod des Märchenprinzen“, einen autobiographischer Roman, der 1980 erschien. (Ich kenne das Buch, habe es aber später gelesen.) In diesem Gedicht erwähnst du auch die Leichtigkeit jener Jahre. Würdest du sagen, dass es die 70er Jahre waren, in der auch deine Studienzeit lag, die dich am meisten geprägt haben, was deine Lebenshaltung betrifft?

Barbara Zeizinger: Das ist ein sehr komplexes Thema. Von der englischen Schriftstellerin Hilary Mantel gibt es das Zitat „jede Generation hat ihre eigenen Leidenschaften“ und ja, natürlich haben mich die 70er Jahre geprägt, ich war jung, habe studiert, viel Neues entdeckt. Das war eine Zeit, in der wir optimistisch waren, dachten, wir könnten die Welt verändern. Heute denke ich darüber viel differenzierter. Das Gedicht ist in erster Linie eine Hommage an meine Freundin, mit der ich damals alle diese Gedanken geteilt hatte. Aber auf einer anderen Ebene erzählt es auch davon, dass wir in gewisser Weise typisch für die 70er Jahre waren, also nicht so einmalig, wofür wir uns hielten. Alle in unserer Umgebung lasen Marx, Erich Fromm, Mitscherlich, alle hatten Enzensbergers „Kursbuch“ abonniert. Wobei der „Tod eines Märchenprinzen“ eher mit Augenzwinkern erwähnt wird.

Martina Weber: Ich könnte mir auch vorstellen, dass du in den 70ern Gedichtbände gelesen hast, die für dich – jedenfalls zunächst – prägend waren, und zwar auch US-amerikanische Lyrik und vielleicht auch die Übersetzungen ins Deutsche, die damals auf den Markt kamen, beispielsweise Rolf Dieter Brinkmanns Herausgabeband „Silverscreen“ von 1969. Ein Gedicht aus einem anderen deiner Gedichtbände ist im Café der berühmten City Lights Buchhandlung in San Francisco angesiedelt.

Barbara Zeizinger: Brinkmann war ein Muss. Dazu kamen viele Lyriker und Lyrikerinnen, da würde ich vor allem Hans Magnus Enzensberger erwähnen, Erich Fried, Wolf Wondratschek, aber auch Hilde Domin und Rose Ausländer. Außerdem amerikanische Autoren der Beat Generation wie Allen Ginsberg mit seinem „Howl“. Jahre später habe ich bei einer USA Reise mit meiner Tochter „City Lights Books“ besucht und daneben das Lokal „Vesuvio“, in dem viele Fotos an die damalige Zeit erinnern. Da ist das von dir erwähnte Gedicht entstanden. Zuletzt habe ich übrigens die gesammelten Gedichte von Wisława Szymborska gelesen. Wunderbar!

Martina Weber: Du hast auch einige Romane veröffentlicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du bereits an einem neuen Schreibprojekt arbeiten würdest.

Barbara Zeizinger: Das stimmt. Ich schreibe an einem Roman, der zur Hälfte fertig ist. Wie alle meine Romane erzählt er eine Familiengeschichte, diesmal über mehrere Generationen. Wie ich schon in der von dir erwähnten Lesung gesagt habe, beschäftigt mich in letzter Zeit (wahrscheinlich, weil ich inzwischen älter bin) die Frage, wie frühere Generationen gelebt haben, ob und inwiefern sie eine Wahl hatten, wie sie ihr Leben gestalten konnten. Gleichzeitig frage ich mich, inwiefern unser Leben durch gesellschaftliche Gegebenheiten geprägt und beeinflusst ist. Also die fast philosophische Frage nach Möglichkeiten und Einschränkungen der Selbstbestimmung. Das wollte ich auch oben bei den Ausführungen zu dem Gedicht über meine verstorbene Freundin ausdrücken.

 

Martina Weber: Vielen Dank, liebe Barbara, für die Einblicke in dein Schreiben und Leben!

Website von Barbara Zeizinger:
http://www.barbarazeizinger.de/

Anlässlich ihres Gedichtbands „Wenn ich geblieben wäre“ (2017) habe ich mit Barbara hier auf Manafonistas bereits ein Interview geführt.

 

Vor mehr als drei Jahren erhielt ich zum Geburtstag ein Päckchen mit einem ganz besonderen Magazin, das schon auf den ersten Blick aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Eher ein Buch als eine Zeitschrift, Hardcover, im Postkartenformat, mehr als 200 Seiten, edles, haptisch angenehmes Papier, Fadenbindung. Auf der Vorderseite ein Gemälde in sanften Ocker- und Pastelltönen, eine weite, fast menschenleere Landschaft, als käme sie aus dem 19. Jahrhundert. Analog Sea Review wurde 2018 von Jonathan Simons und Janos Tedeschi gegründet und hat zwei Redaktionssitze, einen in Freiburg im Breisgau und einen in Austin/Texas. Das Journal, von dem bisher drei oder vier Ausgaben erschienen sind, wird ausschließlich durch rund 200 Buchhandlungen in den USA und in Europa vertrieben, nicht online. Es gibt zwar eine Website; diese enthält jedoch ausschließlich die Postadressen der Redaktionen. Zur Kontaktaufnahme – beispielsweise um den aktuellen, kostenfreien Newsletter mit Auszügen aus der kommenden Ausgabe zu bestellen – bleibt nichts anderes übrig, als einen Brief oder eine Postkarte zu schreiben. Die Zeitschrift selbst enthält Gedichte, Interviews, Essays und Prosa, teilweise in Auszügen, dazwischen Abbildungen von Gemälden. Das inhaltliche Zentrum ist das analoge, das echte Leben als Kontrast zum Digitalen mit seinen Surrogaten, grellen Oberflächen und Social Media- Überbietungswettbewerben. Analog Sea geht es um unmittelbare Erfahrungen, Begegnungen face to face, das Sonntag-Nachmittags-Gefühl der Leere, wie man es vor dem Internetzeitalter erleben konnte, Innerlichkeit, Selbstreflexion, (Tag)Träume, Einsamkeit und was daraus entstehen kann: Erfahrung und Kreativität. In zwei ausführlichen Interviews, einem auf Deutsch, einem auf Englisch, erläutert Jonathan Simons seine Anliegen, die sich nicht nur auf den individuellen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Bereich beziehen.

Ausgabe zwei von Analog Sea Review las ich während der Pandemie, ebenso wie Walter Benjamins kleine Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Das stärkte meinen Widerstandsgeist, ich verweigerte einiges, in der Überzeugung, dass das Digitale keine echten Erfahrungen bringt, und ich nahm gravierende Nachteile in Kauf.

Um ein paar bekannte Namen aus Analog Sea Review zu nennen: Ausgabe zwei enthält Texte von Henry David Thoreau, Ray Bradbury, Robert Bly und Albert Einstein; in Ausgabe drei finden sich Texte von Virginia Woolf, Rainer Maria Rilke, Jorge Luis Borges, Wim Wenders, Susan Sontag, C. G. Jung, Robert Macfarlane und Ralph Waldo Emerson. Der Frauenanteil ist verschwindend gering. Ein Werk, auf das sich der Verleger Jonathan Simons gern bezieht, ist Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels aus dem Jahr 1967. Ausgabe zwei von Analog Sea Review veröffentlicht einen anderen Text von Guy Debord: La Dérive. Der Text wurde 1956 auf Französisch veröffentlicht, voilà. Es handelt sich um den Schlüsseltext einer Bewegung, die die Kulturtechnik des Umherschweifens in einem räumlichen Gelände, beispielsweise einer Stadt, beschreibt (hier ein Wikipediaeintrag dazu). In den ersten Zeilen von La Dérive gibt es einen Satz, der mir ein Aha-Erlebnis beschert hat: „The concept of dérive is inextricably linked to the effects of psychogeography (…)“ Ich bin sicher, dass Jon Hassell mit dem Konzept von La Dérive vertraut war, hatte er doch eines seiner Alben Psychogeography benannt. Die Titel einiger Tracks fügen sich ins Konzept des Drifting ein: Aerial View, Neon Night (Rain), Freeway, Midnight, Waterfront District, Favela, Emerald City, Cloud-Shaped Time.

 

Popsongs in der Gegenwartsliteratur gibt es eine ganze Menge. Und man sollte die Songs kennen, weil sie eine weitere Interpretationsebene bieten können. Gerade habe ich die Besprechung eines Prosatextes vorbereitet, der mit einem Song beginnt, der im Radio läuft: Sommer of ’69 von Bryan Adams.

 

Auch wenn der Drogenfahnder Ray Nicolette die Eigenschaften, die ihren Status als Benachteiligte ausmachen, klar benennt – sie ist eine Frau, ihre Hautfarbe ist schwarz, sie ist schon 44 Jahre alt und sie verdient als Stewardess einer kleinen mexikanischen Fluggesellschaft nur 16.000 Dollar im Jahr – Jackie Brown lässt sich nicht beirren. Im Jahr 1997 war es noch nicht üblich, dass das Flugpersonal in den USA sein Gepäck beim Sicherheitscheck durchleuchten lassen musste. Noch vor dem 9/11 wird Jackie Brown von Quentin Tarantino diese Praxis geändert haben.

Die Songs spielen hier eine große Rolle. Across 110th Street von Bobby Womack steht für den Wunsch, das Ghetto hinter sich zu lassen. Das bildet den Rahmen eines Films, in dem mehrmals Handfeuerwaffen zum Einsatz kommen, das Töten aber nicht so abstoßend dargestellt wird wie beispielsweise in Pulp Fiction.

Die schönste Szene spielt in Jackie Browns Wohnung, nachdem sie aus der U-Haft entlassen wurde, gegen eine Kaution, für die der Kautionsmakler Max Cherry verantwortlich ist, der sie am Vortag abgeholt und nach Hause gebracht hat. Wir befinden uns im Jahr 1997. Es geht hier nicht um den Austausch über Musik. Es geht darum, einen Bezug zueinander aufzubauen, einander zu vertrauen. Die Worte sind nur das eine. Die Gesten, die Stimmen, die Haltung der Körper sind es, die erzählen. Und die Gesichter. Entscheidungen werden in diesem Film binnen Bruchteilen von Sekunden getroffen, vor allem weichenstellende Entscheidungen. Wird etwas bereut, am Ende des Film? Sehen Sie in die Gesichter. Jackie Brown ist ein Kultfilm.

 
 

 
 
Der Film funktioniert nur im englischen Original. Hier ein Auszug aus einem Dialog:

Ordell: That shit works my nerves, you and that motherfucker being so buddy-buddy.

Jackie: Hey, if I wasn’t so buddy-buddy with that motherfucker, this wouldn’t work.

Ein Haus voller Gäste bringt Risiken, vor allem, wenn jemand dabei ist, der eigentlich auf der No-Go-Liste landen sollte. Am Ende wirbeln Schaumstückchen wie riesige Schneeflocken durch eine verwüstete Villa eines Hollywood-Studiochefs in Beverly Hills. Slapstick und komische Überraschungen, rasendes Tempo und Langatmigkeit, aber auch die melancholische Stimmung eines einsamen, ausgestoßenen Statisten, der in der Filmbranche Anschluss sucht, treffen in Blake Edwards Film The Party (auf deutsch: Der Partyschreck) zusammen. Bemerkenswert ist, wie hier der Zeitgeist der späten 60er Jahre eingefangen wird, inklusive der Gepflogenheit in der Filmbranche, Rollen an Frauen nur als Gegenleistung zu vergeben. Die Villa wirkt luxuriös, riesig und unüberschaubar, so wie die Flure in immer weitere Zimmer führen. Die technische Ausstattung ist exklusiv auf dem allerneuesten Stand und wird von einem Schaltbord im Wohnzimmer bedient, wodurch die Tretflächen über den geräumigen Wasserbecken im Wohnraum verschoben und ein Stimmungsfeuer in einer Schale entfacht werden können. An den Wänden hängen zahlreiche abstrakte Gemälde. Auch die Gastgeberfamilie selbst erscheint für die upper class repräsentativ: Der Sohn liegt bäuchlings im Schlafanzug auf seinem Bett, schießt – jederzeit einsatzbereit – Darts mit Gummipfeilen und trägt einen Soldatenhelm mit Camouflage-Gebüsch. Die Tagesdecke hat ein Ford-Design, neben dem Bett steht ein Telefon und auf einer Kommode lehnt ein Spielzeuggewehr. Die Tochter war unterwegs und kehrt mit einer Gruppe von Freunden zurück, mit dabei ein indischer Elefant, auf dessen Haut Hippiesprüche aufgemalt sind: „Go naked.“ „The World is flat.“ Gegen diese politisch nicht korrekte Verwendung nationaler Symbole seines Landes protestiert der Partyschreck Hrundy Bakshi. Um Peter Sellers einen indischen Touch zu geben, hat man seine Haut getönt und seine Augen mit Kajalstift umrandet. Außerdem spricht er so, wie man annimmt, dass ein Inder Englisch spricht. Im Jahr 1968 fand man das witzig. Heute würde es mit dem Label „kulturelle Aneignung“ versehen werden und die Sensitive-Reading-Abteilung würde das Filmprojekt stoppen. In der Schlussszene gibt es noch einen kleinen Trick, wie man nach einer Party eine weitere Verabredung arrangieren kann – und der seit Jahrzehnten erfolgreich angewandt wird.

 
 

Das Wetter an der nordfranzösischen Küste in der Nähe des Pizzaautomaten ändert sich schnell. Heute, zur Zeit der Dämmerung, waren wieder Pferde am Strand, zuerst die Spuren ihrer Hufe. Am Horizont drei Tiere zu sehen, doch als sie sich wieder zurück zum Ufer bewegten, waren es fünf. Eine Frau in langem weißen Kleid starrt ins Weite. Filmaufnahmen. Handkamera. Die Unberechenbarkeit von Wind.

 

Diese Aufmerksamkeit hätte Jürgen Ploog gern noch erlebt: ein Foto von sich, wie er im Jahr 1974 als Enddreißiger lässig in Jeansjacke, mit vor der Brust verschränkten Armen und mit halb geschlossenen Augen gegen die Motorhaube eines Autos lehnt, hat es auf das Cover eines Essaybandes über die Beat- und Undergroundliteratur geschafft, und das Buch wurde am 17. Juni 2023 sogar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen. Doch in dem Buch „Gegen die Fußgängermentalität“ von Simon Sahner beschränkt sich die deutsche Beat- und Undergroundliteratur mit den Protagonisten Carl Weissner, Jörg Fauser und Jürgen Ploog auf die Zeit der sechziger und siebziger Jahre – wieder einmal, denn es war geradezu ein Trauma von Jürgen Ploog, dass seine Bücher immer wieder in dieser zeitlich begrenzten Schublade landeten und dass seine Arbeit seit 1980 oder 1990 kaum mehr in größeren Kreisen rezipiert wurde. Dabei war Jürgen Ploog mit seinen Publikationen seit 1980 in eine neue Schaffensphase eingetreten und hatte seine Arbeitsmethode auch seither immer wieder verfeinert. „Nächte in Amnesien“, 1980 erschienen, erlebte im Jahr 2014 sogar eine Neuauflage bei MOLOKO PRINT mit einigen neuen Kapiteln. Im Nachwort zu dieser Neuauflage schreibt Jürgen Ploog ein paar Sätze, die sich wunderbar zu einer einführenden Charakterisierung seiner Arbeit eignen: „Wenn der Leser sich fragt, in welches chronotopische Umfeld ihn diese fragmentarischen Episoden entführen (an welche Orte & in welchen erzählerischen Zeitverlauf also), ist er auf dem richtigen Weg. Er hat es mit einem System von Schnittpunkten zu tun, das nur mit einer Umorientierung der Vorstellung zu erfassen ist.“ Was ist mit dieser Umorientierung der Vorstellung gemeint? Es ist das Zentrum von Jürgen Ploogs literarischem Universum. Hier scheiden sich die Lesenden, die Literatur als Konsumgut betrachten, indem sie eine lineare Handlung nachvollziehen, von denen, die dazu bereit sind, die gängigen westlichen Wahrnehmungsmuster rationaler Logik zu verlassen, den Begriff der Realität in Frage zu stellen, und der unberechenbaren Kraft des Zufalls einen wesentlichen Stellenwert einzuräumen. „Europäer wissen nicht, dass sie sich in einem Labyrinth bewegen, dass sie Gefangene eines vorgegebenen Musters sind“, schreibt Jürgen Ploog in „Der Raumagent“. Mit seiner Art, die Welt, das Leben und vor allem sich selbst zu betrachten, ist Jürgen Ploog auch nach seinem Tod am 19. Mai 2020 ein hochinteressanter Autor. Für mich zählt er zu meinen wichtigsten literarischen Einflüssen.

 

Es begann – mit einem Zufall. Ich fuhr mit dem Fahrrad auf der Bockenheimer Landstraße Richtung Alte Oper und entdeckte ein Plakat mit einem Portraitfoto von Jürgen Ploog, der Ankündigung einer Lesung für den 25. Juni 1998: „Schreiben ist eine grundsätzliche Demonstration. Katastrophenberichte eines semantischen Raumfahrers“. Jürgen Ploog stellte die zweite Auflage seines Buches über Burroughs vor („Strassen des Zufalls“). Ich hatte damals noch nichts von Burroughs gelesen, war mit der Lesung überfordert, Neonsplitter, ein viel zu großer Saal und im Publikum fast ausschließlich Männer mit einer Ausstrahlung von Underground, viel älter als ich, und sie wirkten wie Insider bedeutsamer Botschaften, die ich noch nicht begriffen hatte. Ich bestellte „Der Raumagent“ in der Deutschen Nationalbibliothek, ein Titel, der mir gefiel. Ich schlug das Buch im Lesesaal auf, las eine halbe Seite, schlug das Buch wieder zu und gab es zurück. Ich mochte die Stimmung nicht, die Begegnung, die Art, wie sich ein Mann gewaltsam Zutritt zur Wohnung einer Frau verschaffte, die Machtausübung, die aufgesetzte Coolness, der kurze Dialog. Jürgen Ploog war für mich erstmal abgehakt.

 

Fünfzehn Jahre später erschien mein erster Gedichtband. Im Feedback wurden immer wieder die Schnittstellen zwischen den Sätzen hervorgehoben. Ich beschloss, dem „Raumagenten“ eine zweite Chance zu geben. Diesmal sprang der Funke über und ich las mich in den folgenden Jahren durch das Ploog‘sche Universum. In „Facts of Fiction“, einer Zusammenstellung von Essays zu Literatur aus den Randzonen, formuliert Jürgen Ploog „die einzige & wichtigste Frage in der Auseinandersetzung mit jedem Schriftsteller (…): Wie sieht sein Universum aus, was geschieht, wenn man es betritt & wohin führt es mich?“ Im Fall von Jürgen Ploog ist es zunächst leichter zu sagen, was dieses Universum nicht ist: Die als „Stories“ („Nächte in Amnesien“) oder „Erzählungen“ („Raumagent“) betitelten Texte sind keine herkömmlich erzählten Geschichten. Andere Bücher wie „Pacific Boulevard“ oder „Ferne Routen“ sind schon nicht mehr mit literarischen Gattungsbezeichnungen versehen. Was üblicherweise in Kurzgeschichten oder Romanen im Vordergrund steht – das Erzählen einer Geschichte, eine genau austarierte Spannungskurve, faszinierende Charaktere, ein zentraler Konflikt –, das alles spielt in Jürgen Ploogs Prosa überhaupt keine Rolle. Die Storys brechen mit allen Regeln. Es gibt zwar meistens einen Icherzähler, die Erzählperspektive ist jedoch uneinheitlich und kann sich innerhalb eines Textes ändern. Personen werden eingeführt, die im weiteren Verlauf nicht mehr vorkommen. Bestimmte Namen tauchen seit Jahrzehnten in Jürgen Ploogs Büchern auf: Grips, Max, Kiki, Lorita, Maier, Johnnie, Luzi, aber ich wäre nicht in der Lage, besonders viel über sie zu sagen. Wurde Luzi nicht mit einem langen Schal gesehen? Die Figuren scheinen keine Geschichte zu haben, keine Persönlichkeit. Oder haben sie ihre Vergangenheit vergessen? Nur fragmentarische Erinnerungen, eine Begegnung von früher vielleicht. Ein Beziehungsding. Geschäfte. Oder beides zugleich. Jürgen Ploog über Grips, den Piloten: „Etwas hatte seine Erinnerung ausgelöscht, seitdem suchte er sie, er hastete von Ort zu Ort, dorthin, wo Orte miteinander verschmolzen.“ („Ferne Routen“). Das Unterwegssein ist eine Konstante. Verabredungen mit Personen, die einander nicht kennen. Reisen in einen imaginären Raum. Erinnerungen blitzen plötzlich auf. „Wenn ich vom Reisen spreche, dann meine ich eine meditative Übung.“ („Der Raumagent“).

 

Zentral in den Texten von Jürgen Ploog ist ein innerer Zustand, das Bewusstsein, ein Unterwegssein im Bewusstsein, besser noch: an den Rändern des Bewusstseins, an den Rändern dessen, was mit Worten ausgedrückt werden kann. Eine seltsame Art von Trance. Da sind sie wieder, die halb geschlossenen Augen. Drogen sind auch mit im Spiel. Ploogs Texte gehen über die Sprache hinaus, vor allem gehen sie über das westliche Denken hinaus, und sie beziehen das Schweigen mit ein. Bei all den manchmal etwas nervigen Piloten, Agentinnen, Replikantinnen, schrägen Typen und krummen Deals, überraschenden Wiederbegegnungen und unerwünschten Abenteuern ist es auch dies, was mich an Ploogs Prosa fasziniert: Man spürt, man erfährt, dass hier jemand schreibt, der sich schon in den sechziger Jahren an Orten aufgehalten hat, die gewöhnliche Bewohnerinnen und Bewohner Europas nicht erlebt haben: Indien, Nepal, Thailand, Malaysia, Marokko, Mexiko und Venezuela.

 

Reisen nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. „Wenn Zeit reißt, dann sind es die entfernten Bilder, die schlagartig näher rücken.“ („Der Raumagent)

 

Kennzeichen von Jürgen Ploogs Texten: Unberechenbarkeit, Widersprüche, Traumlogik, Magie, Poesie, ungesehene Bilder, etwas Wildes, Weisheit, ein filmischer Blick, ständige Brüche, kosmische Energie, keine „Greifbarkeit“, Genreübergreifend (meist wird Essay und Prosa gemixt), Mysteriöses, Bedrohliches, Unheimliches, Archaisches, Existenzielles, Flüchtiges, ein Freiheitsgefühl, Verunsicherung, Nebensächlichkeiten. Insgesamt eine Zersetzung des sogenannten Realen. An die Stelle des Ursache-Wirkungs-Prinzips tritt Synchronizität.

 

Jürgen Ploog hat seine Schreibmethode in fast allen seinen Prosaarbeiten reflektiert.  „Mein Ziel ist, jenseits von Sprache im schnellen Flacker der Bilder zu sehen. Dies ist im Film, die ist in der Schnitttechnik möglich.“ (Raumagent). Die Schnitttechnik oder Cut-up hat ihren Ursprung in einer zufälligen Entdeckung des Malers und Schriftstellers Brion Gysin in einem Pariser Hotel des Jahres 1959. Er hatte den Tisch, auf dem er malen wollte, mit Zeitungspapier bedeckt, zerschnitt die Zeitung, um den Tisch besser damit abdecken zu können, verschob also die Zeitungsspalten, und bemerkte das kreative Potential, das sich in den Schnittstellen verbarg. Es war dann zunächst W.S. Burroughs, der in seiner Literatur mit der Schnitttechnik arbeitete.

 

In seiner ersten Arbeitsphase hatte Jürgen Ploog Texte anderer auseinandergenommen und in harten Schnitten miteinander kombiniert. Im Lauf der Zeit hat er die Arbeit mit der Schnitttechnik stark verfeinert. Ein Beispiel dafür, wie aus einem längeren Text von Thomas Collmer ein typischer Ploog-Text entsteht, kann man in der #6 der Zeitschrift „Rollercoaster“ vom November 2009 bestaunen.

 

Das zentrale Anliegen von Jürgen Ploog besteht darin, mit Hilfe der Schnitttechnik Bilder, Gefühle und Zustände entstehen zu lassen, die bisher nicht artikuliert wurden, die vielleicht gar nicht artikulierbar sind.

 

„Sich niemals auf Sprache verlassen.“ (Unterwegssein ist alles).

 

Das ist der Durchbruch in den Grauen Raum. Das Reisen an imaginäre Orte. Es geht um die Fähigkeit, durch den inneren Raum zu navigieren und das Unmögliche zu denken. Dies ist auch von politischer Bedeutung.

 

Bereits im Jahr 1980 hat Jürgen Ploog seine Methode in dem Text „Showdown des Okzidents“ aus der von ihm herausgegebenen Anthologie „Amok Koma“ geschildert und seine Botschaft formuliert: „Max Lang, ein Pilot in meinen Texten, der selten Bodenberührung hat, kam mit der erstaunlichen Frage: Wohin führt Bewegung im Raum? Oft genug setze ich ihn an einen Ort mit unbekannten Koordinaten & verfolge dann so genau es geht, was passiert. Wenn es eine Botschaft seiner Erfahrung gibt, dann heisst sie wahrscheinlich: Schau dich genau um, wo du bist, sei dir klar, dass es keine Grenzen gibt, ausser dir … Raum ist keine Dimension, die ausserhalb existiert, Raum beginnt hier, um dich (…) Lass dich nicht festnageln, lass dir nicht vorschreiben, wohin die Strasse führt … (…)“

 

„Frage: Was ist das Ziel einer langen Reise?“

„Vergessen.“ (Ferne Routen)

 

Nur das Vergessen ermöglicht es, in den imaginären Raum vorzudringen.

Das ist der Grund, weshalb sich die Figuren im Ploog-Universum kaum an etwas erinnern.

Nächte in Amnesien.

 

Für die Lektüre von Jürgen Ploogs gilt das, was Burroughs über „Naked Lunch“ schrieb: Man kann sie an jeder Stelle aufschlagen und zu lesen beginnen.

2023 6 Aug

Breaking the Waves

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„Die Beseitigung des Egos in den Äußeren Hebriden“. – Rings a bell? Kleiner Tipp: Es ist mehr als acht Jahre her und hat mit dem Blog zu tun. Tatsächlich war es ein Arbeitstitel oder schon der Titel unseres einst geplanten Buches der Manafonisten. Ein Projekt, das die damalige Crew ein paar Wochen oder Monate begeistert hat, bis  es von der Tagesordnung verschwand. Über das Stichwort „Hebriden“ in der Suchfunktion habe ich Teil 2 und Teil 3 einer organisatorischen Mail vom Juni 2015 gefunden. Die Äußeren Hebriden liegen im Nordwesten Schottlands. Ein Gespür für diese Region vermittels Lars von Triers Film „Breaking the Waves“: Gras, Wind und Meer bilden die Koordinaten einer archaischen Landschaft und  eine ziemlich frische Brise kommt hinzu. Der Untergang der jungen, frisch verheirateten Bess Anfang der 70er Jahre wird in sieben Kapiteln und einem Epilog erzählt, die jeweils mit einem Kapitelbild eingeleitet und einem Rocksong der sechziger und siebziger Jahre untermalt werden. Das sind die Songs (im Film werden sie nur jeweils etwa eine Minute angespielt):

 

Mott The Hoople: All the Way to Memphis
Python Lee Jackson: In a Broken Dream
Jethro Tull: : Cross Eyed Mary
Procol Harum: A Whiter Shade of Pale
Leonard Cohen: Suzanne
Elton John: Goodbye, Yellow Brick Road
Deep Purple: Child in Time
David Bowie: Life on Mars

 


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