The National – „Laugh Track“ (feat. Phoebe Bridgers)
on life, music etc beyond mainstream
2023 21 Okt
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Fahrradfahren, Fotosequenzen 2 Comments
Es gab zwei Disziplinen des Kunstunterrichts in der Oberstufe, die mir besonders am Herzen lagen: Fotosequenzen und Kollagen. Letztere meist surrealistisch angehaucht, gemäss des damals grossen Vorbilds Max Ernst, dessen Einfluss mir letztendlich auch den Zugang zur Kunsthochschule verschaffte. Aber auch Erstere haben es in sich, verlangsamen sie doch die Wahrnehmung, vertiefen sie dadurch und schaffen Raum für Kontemplation. Beiden gemeinsam ist die Möglichkeit, sich durch das Hineinträumen in das Selbstgeschaffene in eine Parallelwelt zu katapultieren, einhergehend mit einem Training der eigenen Fantasie. Irgendwann in meinem Leben muss es den bis heute wirksamen Entschluss gegeben haben, nicht unbeträchtliche Anteile meines Ichs in Fantasiewelten auszusiedeln, weil sie in der sogenannten Realität nicht genügend Nährboden und Bestätigung finden. Die provokante Frage „Woran glaubst du eigentlich?“ würde ich also heute beantworten mit: „An Fiktion und Einbildungskraft.“ „Träum‘ weiter!“ wäre aus meiner Sicht kein Vorwurf, sondern positive Affirmation.
2023 16 Okt
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: licorice pizza 4 Comments
Ein Film, eine Frau, eine Gegend. Bin ein bisschen verliebt in alle drei. Licorice Pizza heisst der Film mit Kultpotential („Lakritz-Pizza“ ist eine Umschreibung für die Vinylschallplatte). Die brünette junge Lady heisst Alana und man möchte ihr folgen, so wie der 15-jährige dickliche Schuljunge es tut auf einem Schulhof im Fernando Valley, unweit von Hollywood, in den Siebzigern. „Wie alt bist du, zwölf?“ „Geh mit mir essen, wir sind füreinander bestimmt.“ „Ganz gewiss nicht, du bist ein Kind!“ Sie kommt dann doch in die von ihm vorgeschlagene Location, setzt sich am Bartresen neben ihn, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ihr Körper explosiv, mit dem Ausdruck Was-um-Himmelswillen-tue-ich-hier-überhaupt. „Starr mich nicht so an, hör auf zu atmen …“. Grinsend, locker und milchgesichtig bestellt er zwei Coke. Befürchte, ich werde mir diese Szene noch zigmal reinziehen, so gut ist das gespielt. Alana kommt mir merkwürdig bekannt vor, ein leichtes deja-vu. Freute mich nach dem Film, den ich in drei abendlichen Etappen auf Amazon Prime genossen hatte, auf die Hintergrund-Recherche, wie so oft. Zunächst hier auf dem Blog, wo er ja schon besprochen wurde, dann im Netz. Wollte alles wissen, dabei kommt es raus: die Attraktive ist Teil einer Band, mit ihren zwei Schwestern, die im Film eine Familie spielen, mit deren leibhaftigen Eltern. Vielleicht wirkt vieles deshalb so frisch, weil es aus dem echten Leben gegriffen ist. Das gesamte persönliche Umfeld der Darsteller und des Regisseurs Paul Thomas Anderson ist involviert: Freunde, Nachbarn, der kalifornische Lokal-Kolorit. Die Band jedenfalls heisst Haim, wie der Nachname der drei jewish siblings. Sie ist gerade mit Taylor Swift auf Welttournee und ein Video der Band auf Youtube verzeichnete mal eben 22 Millionen Klicks. Vor ein paar Jahren entdeckte ich ihren Song „Gasoline“, spielte auf Gitarre mit, weil er mir gefiel. Die Mädchen wirkten very tough. Daher also die Vertrautheit. Tief im Hippocampus war es abgespeichert: im Jahre 2012 haute mich kurz nach Mitternacht in der geliebten Harald Schmidt Show eine Frauenband vom Hocker, mit Alana an den Keyboards und der Gitarre. Den Film Licorice Pizza schaute ich nun nochmals an und von Haim ein paar Videos dazu. Old Sugardaddy auf Nabokovs Spuren? Vielleicht, aber die Musik ist wirklich gut, mit ganz viel Herzblut. Und wenn ich solche Filme sehe, dann bin ich gerne wieder zwanzig.“
In Lichter des Toren schrieb Botho Strauss eindrücklich über die Vorzüge des Dummbleibens. Kleine prosaische Vignetten, die nicht lyrisch sind und doch etwas freischwebend Assoziatives beim Leser auslösen, das Interpretationen offen lässt. Auch hinsichtlich des Gebrauchs der Dienste Google und Wikipedia könnte dies eine Rolle spielen, weil nämlich die Gefahr besteht, dass sie einen aseptischen, sterilen Bildungshorizont eröffnen, der in ortloser, wegloser und geschichtsloser Weise darauf verzichtet, sich Wissen durch das Machen von Fehlern (eine aktive Handlung, kein Befingern auf der Screen) und das Sammeln von Erfahrung anzueignen. Niemals möchte ich auf all die szenischen Erinnerungen verzichten, wann und unter welchen Lebensumständen mir Entdeckungen oder Erkenntnisse zuflossen. Stattdessen steht nun ständig alles zur Verfügung, wie Billigramsch in einer Grabbelkiste, lädt ein zum Overload. Is the Internet a storykiller? Laut Rilke, um noch einen zweiten Dichter herbei zu zitieren, hat ein Jedes seine Zeit. Der digitale Kosmos hingegen eröffnet eine Unzeit, die Dinge zu Undingen (Byung-Chul Han) degradiert und durch die Aussparung von zeitgemässem Erfahrungswissen eine massive Indifferenz schafft. Alles ist gleich: Bomben schlagen in der Ukraine ein, Flüchtlingsboote kentern im Mittelmeer, während benachbarte Titelzeilen verkünden, dass Frau Krause aus Berlin ihren Hund abgöttisch liebt, oder dass man Nudeln am besten bissfest kocht. Der brandaktuelle Blogeintrag von gestern ist schon heute kalte Suppe und auf dem grossen Müllberg Instagram stapeln sich millionenfach die Fotos. Neulich googelte ich den mir unbekannten Begriff Abgleich, der bislang kein Bestandteil meines Wortschatzes war. Wenn beispielsweise jemand einen Kommentar oder eine Mail schreibt, dann findet kaum Abgleich statt: Klarstellungen und Korrekturen wie im persönlichen Gespräch, auch das instinktive Abtasten des Gesprächspartners fehlen. Was kann man sagen, was sollte man verschweigen? Die Worte kommen beim Gegenüber nicht eindeutig an, oft herrscht das Flaschenpost-Prinzip. Missverständnisse und Fehlinterpretationen wuchern, das Gesagte versinkt in einer wagen Zwischenwelt, einem Geisterraum oder um ein biblisches Motiv zu bemühen: im medialen Fegefeuer. Ein Strohfeuer, das sich zum Flächenbrand ausbreitet. Es wundert nicht, wenn einen zuweilen die Lust befällt, ins analog gesicherte Diesseits zu entfliehen, diese neue Gartenzwerg-Idylle. Wer erinnert sich noch an diesen erlösenden Ort, wo wir einen Körper haben und von Natur aus fehlbar sind? Wo wir basteln und sortieren, uns zusammenraufen, streiten, lieben. „Stolpern und Stottern“ – dies sei die dem Menschen angemessene Daseinsform, schrieb der Soziologe Dietmar Kamper. In der Welt von Null und Eins ist so etwas schwerlich abzubilden, dort machen Musk und Porno die Musik. Ein Mädchen geht an mir vorbei, hält ihr Smartphone vor die Nase, schaut in ihr eigenes Gesicht. Was sucht sie dort? Ich nehme ein Buch zur Hand, schon bin ich bei mir.
(… der dänische gitarrist jakob bro inspiriert mich übrigens dazu, gitarrensounds zu suchen, die nicht nach gitarre klingen, sondern so etwas wie „landschaft“ darstellen. ambient guitar könnte man das nennen …)
2023 30 Sep
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: acoustic mikados 2 Comments
Es gab da diesen Moment einer Koinzidenz, als in dem Porträt Zero Gravity über das Leben des Saxofonisten Wayne Shorter ein Konzertausschnitt von Weather Report mit den Worten kommentiert wurde, da habe eine Jazz-Formation den Kult-Status einer Rockband erhalten, die Massen seien zu den Konzerten gepilgert und so mancher Musiker hätte es kaum erwarten können, zu Hause dann das, was er hörte, selber auszuprobieren. So ging’s mir auch. Ich hielt es nicht mehr aus, drückte auf die Pause-Taste der Fernbedienung und gab dem starken Drang nach, diese flirrend-elektrisierende Klang-Botschaft am heimischen Verstärker nun augenblicklich auch höchstselbst zu verkörpern: to sing the body electric. Auf dem Fusse folgte die vertraute Ernüchterung von der blossen Einbildung hin zum Fakten-Check: denn zu den Phänomenen des Heimwerker-Musizierens gehört ja oft die Erkenntnis, dass dem Wunsch Grenzen gesetzt sind mangels Technik, Disziplin, Geschwindigkeit. Pat Metheny sprach davon, als Profi habe man in jahrelanger Arbeit seine Hausaufgaben gemacht, erst dann ginge die Post ab. Wayne Shorter, das zeigen solche Porträts ja immer wieder eindrucksvoll, hatte schon lange vor dieser sagenhaften Kultband seine Ausbildung und Übungsstrecke. Er hatte Glück mit dem Elternhaus, konnte gut zeichnen und liess seiner Phantasie freien Lauf. Dann die Verbindung zu Miles Davis, einem Wegbegleiter, der ihn früh aufs grosse Podium hievte, dort wo Jazz-Historie geschrieben wurde, in den angesagten Clubs der damaligen Zeit. Überhaupt kommt es einem so vor, dass gerade die Siebziger Jahre eine Zeit der Pionierarbeit gewesen sei, so wie es die Malerei ja schon vorher war. Kürzlich bestellte ich ein Buch aus dem Antiquariat, dass mich einst stark prägte, nach langem Zögern, denn man will Vergangenheit schlussendlich auch auf sich beruhen lassen: Der Sprung ins Leere – Objet trouvé, Surrealismus, Zen von Christian Kellerer. Das Buch beschreibt die Mechanismen von Veränderung, wann und warum Zeit und Epochen reif für einen Wechsel waren. Lernt man denn nicht fliegen, indem man mutig ins Leere springt? Wayne Shorter, der im Laufe seines Lebens auch zum Buddhismus fand, konnte fliegen wie kein Zweiter.
2023 11 Sep
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: acoustic mikados 2 Comments
[„… neulich entwarf ich ein stück und nannte es „acoustic mikado“. eine spur aufnehmen, spontan eine zweite oder dritte hinzu – auf das vorangehende jeweils direkt und ohne korrektur reagierend. es könnte der beginn einer serie werden. mikado spielten wir ja als kinder schon gerne. es ging nicht allein um geschicklichkeit, sondern auch um das spiel mit dem zufall. hinzu kommt der ewige reiz des recordings, die anschliessende konfrontation mit dem ergebnis, folglich die möglichkeit reflexiver abstandnahme und einsicht …“]
Man soll die Früchte ernten, bevor sie fallen – das gilt auch für alles, was so unter den Nägeln brennt, bevor dem dann der innere Zensor mittels Schreibhemmung den Garaus macht. Gestern also kurz vorm Zubettgehen noch in eine Talkshow getappt: da sitzt ein junger Mann, über dessen Testosteronspiegel man sich keine Sorgen machen muss, in Papageien-buntem Anzug in seinen besten Jahren und gibt redundant zum Besten, was er meint: dass Wissen wichtig sei für Bildung und man deshalb Fakten gründlich recherchieren müsse. Die ehrenwerte Elke Heidenreich auf dem Platz neben ihm wirft ein, Bildung sei nicht identisch mit Fakten-Wissen, es gehe auch um das eigenständige Verknüpfen von Zusammenhängen. Unsere schillernde, mit Teflon bespickte Testosteronfigur versteht nicht, redet unbehelligt weiter. So geht kein Dialog, denke ich, sondern rabiate Selbstdarstellung. Frau Heidenreich schaut schweigend-pikiert ins Leere und ich schaue mit ihr. Die ebenso anwesende Milliardärsgattin und Schauspielerin Veronica Ferres legt bekräftigend nach und wirft das Stichwort „Herzensbildung“ in die illustre Runde. Mister Teflon scheint jeden ergänzenden Einwand als Angriff zu sehen (Pawlowscher Reflex), hat wohl auch kein Gespür für die Lebenserfahrung älterer Generationen und unsereins schaltet fluchtartig das Gerät ab. Ein kurzer Moment nur, in dem viel passiert ist und etwas unangenehm aufflackerte: mittlerweile darin geschult, sich blutspritzende Tarantino-Filme oder Not-Operationen von Dr. House serienweise anzuschauen (hier wirkt mein Teflon), so wirken doch solche Peinlichkeiten auf mich unverdaulich, fast wie Gewalt.