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Die Grille in der Musik

 

„So einfach die Musik der Grillen klingt, so ausgefeilt ist ihr Instrument: Die mit 135 Nano-Zähnchen besetzte Schrill-Ader auf der Unterseite des rechten Deckflügels wird mit ruckartigen Spreizbewegungen über eine gekrümmte Leiste auf dem linken Flügel gestrichen. Die Vibration überträgt sich auf je zwei trommelfellartige Flügelfelder. Damit diese frei schwingen und den Ton weit abstrahlen, hebt das Grillenmännchen beim Fideln die Flügel an. So ist das unermüdliche „zirp … zirp … zirp …“ in offenem Gelände und bei Windstille fast 100 Meter weit zu hören.“ (NRW Stiftung: Natur Heimat Kultur).

Der Klang von Grillen ist an sich schon wunderschön, noch dazu erinnert er uns an heiße Sommertage, an ruhige Abende auf der Terrasse, an Urlaubstage am Meer. Nun mischt die Grille allerdings auch in der Musik kräftig mit und es erstaunt nicht, wenn wir unter den Grillen-Liebhabern eine Menge alter Bekannte finden. Beginnen wir 1985, damals erschien HYBRID, eine tolle Schallplatte von Michael Brook, der sich von Brian Eno und Daniel Lanois unterstützen lässt. Auf dem Stück Pond Life hören wir sie, die Grillen.

Auch Harold Budd verarbeitet den Klang der Grille in seiner Musik, auf der Platte Pearl von 1984 findet sich das Stück An Echo of Night und hier zirpen sie wieder, die Grillen. Brian Eno und Daniel Lanois, das nur nebenbei, sind auch hier wieder mit von der Partie.

1995 erschien bei TRAUMTON Michael Rodachs Musik für Fische. Auf dem Hintergrund der Musik von Grillen spielt sich das musikalische Geschehen des titelgebenden Musikstückes Musik für Fische ab.

Im Jahre 1957 erschien La Jalousie, ein Roman von Alain Robbe-Grillet. Im Französischen hat die Jalousie eine zweifache Bedeutung, zunächst ist damit der Sonnenschutz gemeint, dann aber auch die Eifersucht. Mit dieser Doppelbedeutung spielt der Autor. In Deutschland erschien das Büchlein unter dem Titel Jalousie oder die Eifersucht. Heiner Goebbels entdeckte den Text und schuf 1993 das geniale Hörstück La Jalousie – Geräusche aus einem Roman. Neben dem Ensemble Modern hören wir – wer hätte es gedacht – Grillen. Grillen sind eben für eine ganz besondere Atmosphäre zuständig.

Abschließend sei noch einen wunderbaren Film von Jim Jarmuscherinnert: DEAD MAN. Die Musik zum Film spielte kein anderer als Neil Young ein. Auf dieser Scheibe, die, das ist mal sicher, zu meinen Lebens-Top 100 gehört, kann man Grillen hören … unglaublich!

Plattenausleihen, das ist schon eine schwierige Kiste, aber unter Freunden, na klar, kein Problem. Und wenn dann mal eine Scheibe verloren geht, dann muss man das eben aushalten. Anlässlich des Todes von Niels Henning Orsted Pederson am 19.April 2005 hatte ich sie ausgeliehen, diese wunderbare Duoplatte: Paul Bley & NHOP, allein schon die Titelliste dieser Ausnahmeplatte haut den Liebhaber dieser beiden Musiker aus den Puschen: „Meeting“,“Mating of Urgency“, „Carla“, „Olhos de Gato“, „Paradise Island“, „Upstairs“, „Later“, „Summer“, „Gesture Without Plot“. Im Juni und Juli 1973 wurde die Platte damals aufgenommen (hätte ich das geahnt, damals hatte ich gerade das Abitur hinter mir und von beiden Musikern noch nie gehört). Das herrliche „Olhos de Gato“ wurde von Carla Bley komponiert, „Gesture Without Plot“ von Annette Peacock, alle anderen Stücke schrieb Paul Bley.

 
 

 
 

Die Freude über den Fund war so groß, dass ich sofort Lust verspürte, einmal zu schauen, ob Paul Bley nochmals mit NHOP eine Platte eingespielt hatte. Meine Erinnerung täuschte mich nicht, diese Platte war die einzige Aufnahme dieser beiden. Allerdings gab es ein Nebenprodukt meiner Suche durch die Paul-Bley-Abteilung meines Plattenschrankes: die erstaunliche Feststellung, dass der Meister mit fast allen mir bekannten Bassisten dieser Welt zusammengespielt hat, Hier meine Liste der Bassspieler, die mit Paul Bley musiziert haben: Percy Heath, Peter Ind, Charles Mingus, Stu Woods, Dick Youngstein, David Holland, Jaco Pastorius, Jesper Lundgaard, Eddie Gomez, Kent Carter, Ron McClure, Bob Cranshaw, Marc Johnson, Jay Anderson, Barre Phillips, Furio Di Castri und natürlich Gary Peacock, Steve Swallow und Charlie Haden. Ja und, man glaubt es kaum, auch Annette Peacock spielte in einer Gruppe um Paul Bley den (electric) Bass und zwar auf Annette and Paul Bley – Dual Unity von 1971.

Was ich noch erzählen wollte, als der Freund die LP wieder gefunden hatte, mussten wir sie sogleich gemeinsam anhören, wenigstens eine Seite. Die Begeisterung war riesig, vor allem auf Seiten des Freundes, sodass ich mich entschloss, ihm besagte Platte gleich nochmal auszuleihen. In diesem Moment entdeckte ich in einer Ecke des Raumes eine mir unbekannte Platte, die ich allerdings zu gerne gehört hätte. Klar, ich bekam sie ausgeliehen, auch das eine wundervolle Platte und, wie es der Zufall will, auch diese Scheibe wurde 1973 aufgenommen, und auch auf dieser Platte spielen Wegbegleiter Paul Bleys eine wichtige Rolle. Die Rede ist von Don Cherry und seiner Relativity Suite mit dem Jazz Composer’s Orchestra (Carlos Ward, Charlie Haden, Ed Blackwell, Sharon Freeman, Paul Motian, Carla Bley, Dewey Redman und anderen).

 
 

 

Ein letztes Treffen einer Familie in einem Sommer für Sommer von allen Familienmitgliedern besuchten Ferienhaus ist das Thema des großen Romans Abschied von Chautauqua (2005) (siehe auch der Beitrag vom 28.2.2012, manafonistas.de).

2011 veröffentlicht der Rowohlt-Verlag Emily, allein. Eine alte Frau, von allen verlassen, muss einen Neuanfang wagen (siehe auch manafonistas.de vom 28.2.2012). Damals schrieb ich: Und natürlich ist auch Emily, allein ein echter Stewart O´Nan. Der 1961 in Pittsburgh / Pennsylvania geborene Schriftsteller ist nicht nur ein Meistererzähler, ein Meister auch darin, Menschen, die gemeinhin niemand sonderlich beachtet, ein Denkmal zu setzen. Dieser zutiefst menschliche Autor, der vor seinem Leben als Autor Flugzeugingenieur gewesen war, wendet sich immer wieder – im Grunde auch schon in seinem Erstlingswerk Engel im Schnee von 1993 – Menschen zu, die sich durch nichts besonders auszeichnen, die aber um ihr Leben und das ihrer Mitmenschen kämpfen. Jetzt ist es also Emily. Stewart O´Nan-leser werden sich erinnern …

2019 hat Stewart O´Nan nun die Trilogie beendet, Henry persönlich ist erschienen, aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel. Und auch in diesem Roman passiert nicht viel. Henry, viele Jahre mit Emily glücklich verheiratet, lebt nun im Ruhestand. Geschildert wird sein Alltag. Am liebsten arbeitet Henry in seiner Werkstatt oder repariert irgendwas am Ferienhaus in Chautauqua:

 

„An trägen Sommernachmittagen, wenn sich die Hitze und der Geruch von heißer Teerpappe im Dachgebälk sammelten, blickte Henry von seinem jeweiligen Tagesprojekt auf, um die Richtigkeit des Lebens zu genießen und vor sich hin zu nicken, als wäre es ein Geheimnis. Irgendwie war es das auch.“

 

 

 

 

Zum Vatertag bekommt Henry ein kleines Grundig-Radio geschenkt. „Neben Mittelwelle und UKW empfing es auch Kurzwellensignale und ausländische Sender und erinnerte ihn an das alte Philco seiner Eltern, das kryptische Stimmen aus dem Äther hervorgezaubert hatte. Der Empfang war gut, und es gab einen Knopf, mit dem man die Sender fest einstellen konnte. Er nahm sein neues Spiezeug, wie Emily es nannte, überall mit hin …. und im Keller schuf er dafür auf seiner Werkbank Platz.“

Einmal schildert O´Nan, wie Henry die Trauerfeier für seinen Hausarzt besucht:

 

„… Im Stillen fand er die große Menschenmenge einschüchternd und stellte sich seine eigene Trauerfeier vor. Die seiner Mutter war gut besucht gewesen, teils, weil sie jung gestorben war. Bei seinem Vater waren weniger Leute gekommen. Ehrlich gesagt, war ihm diese Variante lieber. … Innerlich schreckte er zurück, wohl wissend, dass er gezwungen sein würde, etwas zu sagen. Er war ein guter Mensch. Er wird uns fehlen. Beides wahr, aber unzureichend. Wie fasste man ein Leben in einer einzigen Zeile zusammen? … Wozu diente eine Beerdigung, wenn nicht dazu, über die eigne Sterblichkeit nachzudenken und darüber, wie man die Zeit, die einem noch blieb, am ehesten verbrachte? … Wer würde sich zur festgesetzten Stunde an ihn erinnern? Kenny? Arlene? Was würden sie sagen – dass er eine gute, großzügige Seele gewesen sei? Ein guter Vater? …“

 

O’Nan hat für uns die Zeit noch einmal zurückgedreht und Henry, dem Ehemann, ein eigenes Buch gewidmet. Und so begleitet der Leser noch einmal das Paar, Emily und Henry, die Kinder, die Enkel … und all das aus der Sicht von Henry, persönlich.

Dieses Jahr möchte ich keine Jahreshitliste anbieten, sondern einfach nur 33 Platten aus dem Jahre 2019 nennen, die mir im nahezu vergangenen Jahr sehr gut gefallen haben. Platzierungen gibt es nicht, die Auflistung ist rein zufällig. Zusätzlich erwähne ich noch jeweils mein Lieblingsstück der betreffenden Platte, es wird / werden zunächst der / die Musiker genannt, dann der Schallplattentitel und am Schluss das Musikstück.

 

    1. Anna Gourari: Exclusive Affinity: Arvo Pärt: Variationen zur Gesundung von Arinuschka
    2. Louis Sclavis: Characters On A Wall: La dame de Martigues
    3. Ethan Iverson & Tom Harrell: Common Practice: Live At The Village Vanguard 2017: The Man I Love
    4. Avishai Cohen & Yonathan Avishai: Playing The Room: Azalea
    5. Gianluigi Trovesi & Gianni Coscia: La Misteriosa Musica Della Regina Loana: Gragnola
    6. Sylvie Courvoisier, Mark Feldman ‎– Time Gone Out: Homesick for Another World
    7. Bushman’s Revenge: Et Hån Mot Overklassen: Happy Hour For Mr Sanders
    8. Daniil Trifonov / Destination Rachmaninov – Arrival: Vocalise
    9. Branford Marsalis Quartet: The Secret Between The Shadow And The Soul: The Windup
    10. Mats Eilertsen: Reveries And Revelations: Appreciate
    11. Joe Lovano: Trio Tapestry: One Time In
    12. Keith Jarrett: Munich 2016: Somewhere Over The Rainbow
    13. Wilco: Ode To Joy: Love s Everywhere (Beware)
    14. James Yorkston: The Route To The Harmonium: Like Bees To Foxglove
    15. Various Artists: Stumm433: Irmin Schmidt 4:33
    16. Van Morrison: Three Chords And The Truth; You don`t Understand
    17. Rolf Kühn: The Best Is Yet To Come (9 LP Box): Yellow And Blue: Both Sides Now
    18. Laurie Anderson, Tenzin Choegyal & Jesse Paris Smith: Songs from the Bardo: Listen without Distraction
    19. Nick Cave & The Bad Seeds: Ghosteen: Waiting For You
    20. Rabbia / Petrella / Aarset: Lost River: Night Sea Journey
    21. Lorenzo Feliciati, Michele Rabbia: Antikythera: Parapegma
    22. The Lumen Drones: Umbra: Inngang
    23. Frode Haltli: Border Woods: Taneli`s Lament (Sorrow Comes To All)
    24. Stein Urheim: Simple Pieces & Paper Cut-Outs: Blavals
    25. Marco Ambrosini & Ensemble Supersonus: Resonances: Rosary Sonata No. 1
    26. Giovanni Guidi: Avec Le Temps: Tomasz
    27. Sokratis Sinopoulos: Metamodal: Lament
    28. Dominic Miller: Absinthe: Ténèbres
    29. Mats Eilertsen: And Then Comes The Night: After The Rain
    30. Erlend Apneseth Trio with Frode Haltli: Salika, Molika: Salika, Molika
    31. Trond Kallevåg Hansen: Bedehus & Hawaii: Flanellograf
    32. Olivier Messiaen / Ciro Longobardi: Catalogue d’Oiseaux VIII. L’alouette calandrelle
    33. Daniele Di Bonaventura: Garofani Rossi: Grandola vila morena

 

… und wer möchte, kann sich eine Auswahl aus den genannten Titeln in der Sendung Jazz Funkt am 04.01.20 von 19:00 bis 21:00 Uhr anhören und zwar im „Freies Radio Für Stuttgart“ // www.freies-radio.de

 

 

Das Leben: Gebrauchsanweisung“

 

„Ein Buch, das man jedes Jahr mindestens einmal lesen sollte.“ Harry Rowohlt hat das über ein Buch gesagt, das bei mir schon jahrelang darauf wartet, gelesen zu werden. Es handelt sich um ein höchst seltsames Werk, das schon von der äußeren Erscheinung Respekt einflößt. Geliefert wird das Ganze in einem Karton, dort finden sich neben dem eigentlichen 850 Seiten starken Buch, ein Beiheft mit Marginalien und ein Tütchen mit einem Puzzle. Der Verlag „Zweitausendeins“ brachte das Werk in deutscher Sprache im Jahre 1982 als erster heraus, der Titel: “Das Leben: Gebrauchsanweisung“, die französische Originalausgabe “La Vie mode d´emploi“ erschien 1978, der Autor war Georges Perec. Der Schweizer Diaphanes-Verlag, Zürich, gab das Buch (und überhaupt das ganze Werk des Autors) 2017 neu heraus, sodass man “Das Leben: Gebrauchsanweisung“ jetzt für bezahlbare 25,00 Euro kaufen kann, während die Bücher früherer Zweitausendeins-Auflagen, die mit Beiheft und Puzzle geliefert wurden, kaum unter 100,00 Euro zu haben sind.

Georges Perec, geboren 1936 in Paris, wuchs als Sohn polnischer Juden in Frankreich auf, musste die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. 1940 starb sein Vater, der als Freiwilliger in der französischen Armee gedient hatte, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort vergast. Ein letztes Mal noch sah Georges Perec seine Mutter am Bahnhof Gare de Lyon, dann musste er als kleines Kind von sieben Jahren von seiner Mutter Abschied nehmen, das Trauma seines Lebens.

Das Kindheitstrauma (der Vater stirbt, die Mutter verschwindet) versuchte er mit Hilfe von Psychoanalysen zu überwinden, aber eben auch durch das Schreiben von Romanen. Wenn Perec, man nennt ihn zurecht gerne den französischen James Joyce, etwa einen Roman schreibt, in dem der Buchstabe “e“ komplett fehlt, dann ist das eben keine bloße Spielerei, sondern verweist auf das “Verschwinden“ als Lebensthema. Überhaupt muss man wissen, dass Perec sich der “Oulipo“ der „l’ouvroir de littérature potentielle“, (Werkstatt für potenzielle Literatur) verbunden fühlte. Autoren dieser Vereinigung gaben sich Regeln auf, nach denen sie schreiben wollten, man verzichtete auf Buchstaben, schrieb auf Grund mathematischer Vorgaben usw. …

“Das Leben: Gebrauchsanweisung“ stellt in dieser, aber auch anderer Hinsicht ein Meisterwerk dar. Perec nimmt von einem Pariser Mehrfamilienhaus die Fassade weg und schaut nun, wie in eine Puppenstube in die verschiedenen Räume des Hauses, von den einzelnen Wohnräumen, Schlaf- und Badezimmern, Fluren, Treppenhäusern, bis hinunter in den Heizungsraum, den Kellerräumen, dann wiederum über den Fahrstuhlschacht bis hinauf in die Dienstmädchenzimmer. Die Beschreibung der einzelnen Räume und deren Gestände, sowie deren Geschichten erfolgt nun höchst regelgeleitet. In 99 Kapiteln werden mindestens 107 Geschichten erzählt, zu Ende erzählte, unvollendete, wahre und erfundene Geschichten, spannende, informative und einfach nur interessante Erzählungen, die manchmal etwas miteinander zu tun haben, meist aber nicht, 1467 Personen kommen in den “Romanen“ (so der Autor) vor.

Aber nun springt der Perec nicht einfach von Raum zu Raum, nein, auch hier folgt er einer Regel: „ Er hat sich das Ganze aufgerastert auf ein zehn mal zehn Felder großes Schachbrett und setzt einen Springer darauf. Und dieser Springer muss auf seinem Parcours jedes Feld einmal – und nur einmal – besetzt haben. Das ist ein mathematisches Problem, das man lösen kann, und das ist jetzt die Regel für die Kapitelfolge in dem Werk.“ (Jürgen Ritte)

Erzählt wird, wie im wahren Leben, von Handwerkern, Arbeitern, Rechtsanwälten, Ärzten, Mördern, Erpressern, Spekulanten und vielen mehr. Im Mittelpunkt steht allerdings doch eine einzige Person, ein Millionär, seine Name Bartlebooth. Wer erinnert sich nun nicht an Melvilles „Bartleby“, dem bei einem Notar beschäftigten Kopisten, der früher einmal in einem Büro der Post gearbeitet hatte, in dem er mit unzustellbaren Briefen beschäftigt war, und nun mit den Worten „I would prefer not to“ mehr und mehr aus der Welt verschwindet und schlussendlich stirbt.

Unser ziemlich seltsame, sehr reiche Bartlebooth nun, hatte die Idee, sich zunächst einmal im Malen von Aquarellen ausbilden zu lassen, um dann eine Weltreise zu unternehmen und 500 Häfen zu besuchen und zu malen. Diese 500 Aquarelle schickte er an Gaspard Winckler, der die Bilder auf Holzplatten aufzuziehen und Puzzles daraus zu fertigen hatte. Auch er wohnte, wie Bartlebooth, in unserem Haus.

 

„Die Kunst des Puzzles beginnt mit den von Hand ausgeschnittenen Holzpuzzles, wenn der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen sucht, die der Spieler lösen muß. … Jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; … jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.“ (Das Leben: Gebrauchsanweisung S. 15 und Kap 44, S 316f).

 

Von den Weltreisen heimgekehrt, wollte Bartlebooth diese Puzzle-Teile wieder zusammensetzen. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.

Für alle, die jetzt eher davor zaudern, das Buch zu lesen, sei noch einmal Jürgen Ritte, Professor an der Sorbonne und Perec-Experte, zitiert: „ … man (kann) das Buch mit einem unglaublichen Spaß lesen, mit einer unglaublichen Freude, mit einem Lustgewinn an den ganzen Geschichten, die er da zusammenerfindet und uns erzählt, ohne dass man diese Regeln kennt. Das sind Regeln, die ihm, dem Autor, helfen, etwas zustande zu bringen. Man kann sich daran erfreuen, dass man sie erkennt, dass man sie identifiziert, aber es funktioniert auch sehr, sehr gut, wenn man diese Sachen gar nicht weiß.“ Zum Schluss eine Kostprobe aus dem Roman:

 

Manchmal stelle er sich vor, das Haus sei so etwas wie ein Eisberg, dessen Stockwerke und Dachgeschosse den sichtbaren Teil gebildet hätten. Jenseits der ersten Ebene der Keller hätten die unter Wasser liegenden Massen begonnen: Treppen mit schallenden Stufen, die sich um sich selbst drehend nach unten führen würden, lange gekachelte Korridore mit von Metallgittern geschützten Kugelleuchten und mit Totenköpfen und gemalten Inschriften gekennzeichnete Eisentüren, Lastenaufzüge mit vernieteten Wänden, mit riesigen, unbeweglichen Propellern ausgestattete Lüftungsschächte, Feuerwehrschläuche aus metallüberzogenem Tuch, dick wie Baumstämme, auf gelbe Schieber von einem Meter Durchmesser gerichtet, zylindrische Schächte, direkt in den Felsen gebohrt, betonierte Stollen, stellenweise von Luken aus Milchglas durchbrochen, Verschläge, Bunker, Kasematten, mit Panzertüren versehene Tresorräume. Weiter unten gäbe es so etwas wie das Keuchen der Maschinen und für Augenblicke mit rötlichen Lichtern ausgestrahlte Vorräte. Enge Verschläge gingen auf riesige Säle, auf unterirdische Hallen hoch wie Kathedralen, mit Gewölben über und über von Ketten, Rollen, Kabeln, Röhren, Kanalisationsleitungen, kleinen Eisenträgern bedeckt ….“ (Vierundsiebzigstes Kapitel: Maschinenraum des Aufzugs 2 , Seite 563)

 

Natürlich spielt auch Musik in diesem Buch eine gewisse Rolle, genannt werden die Komponisten Paul Dukas (1865-1935), französische Komponist; Johann Sigismund (Kusser oder Cousser), deutscher Komponist, ungarischer Abstammung (1626-1695); Franz Liszt (1811-1886) und Frédéric Chopin ( 1810-1849). Zuweilen werden auch besondere Stücke genannt: W.A. Mozart: „Türkischer Marsch“, „Smanie implacabili che m´agitate“ (aus Cosi Fan Tutte); Claude Debussy: „Children’s Corner“, Gerry Mulligan: „Far East Suite“; Hans Neusiedler: „Tänze“.

Übrigens, ein paar Tage vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec am 3. März 1982 an Krebs.

Auf den Spuren der Obstdiebin – Eine herbstliche Reise in die Picardie
 
 

 

Und noch eins: für Zwischenzeiten sorgen, möglichst viele. Wie habe ich jedesmal aufgeatmet, und ruhiger geatmet, sooft eine dramatische Geschichte unterbrochen wurde mit einem „in der Zwischenzeit“. Die Zwischenzeiten, sie stehen in deiner Macht. Daß du sie dir nicht nehmen läßt! In den Zwischenzeiten, auf den Zwischenstrecken, da geschieht´s, da ereignet es sich, da wird’s, da ist´s. Suchen, innehalten, rufen, rennen, die Wälder, die kleinsten, vor allem die, durchstöbern, die Hauptstraßen, die Städte, die Weiler, vor allem die, peinlich in Augenschein nehmen, ja. Aber in der Zwischenzeit den Weg hinter den Gärten zu nehmen, das kann nicht schaden.

 

 

Das war an der Regionalbahnstation Saint-Christophe von Cergy, gedacht wohl als Zentrum der Zentren der Neuen Stadt, als Name jener der längst verschwundenen Kirche da, gewidmet dem einstigen Ortsheiligen, dem Christophorus, dem Fährmann, der einst auf seinem Rücken das Kind Christus, das dabei schwer und schwerer wurde, nachts über einen Fluß getragen hatte, über alle Flüsse, und so auch hier über den Fluß Oise. An der Stelle der Kirche Saint-Christophe steht nun, was das Wahrzeichen der Neuen Stadt sein soll, ein Stahlgerüst in Gestalt einer mindestens kirchturmhohen Arkade, unter die eine monumentale (Durchmesser zwölf? Sechszehn Meter – nachzuschauen im Internet) stählerne, im Raum zwischen den Speichen allerdings den Blick hinauf in den freien Himmel durchlassende Uhr angebracht ist, mit römischen Ziffern, von I bis XII.

 

 

Die Abteile hatten sich zwar nicht geleert, aber viele Plätze waren frei, und man konnte, weg von der engen Treppe, für sich sitzen, im Abstand zu den spärlich gewordenen anderen. Wir saßen? Wir lasen? Wir schauten aus den Zugfenstern? Wir seufzten? Nichts von gleichwelchem „wir“. Kein „wir“ mehr heute. “No Milk today, my love has gone away“? …

Hell war es zusehens geworden in den Abteilen, die offen ineinander übergingen, bis zum ersten Wagen vorn an der Lokomotive, wo ich saß mit dem Rücken zur Fahrt, bis zum letzten hinten, wo sich hinter der Glastür die Gleise wegspulten; hell von der nach Pontoise, und spürbarer noch, nach Osny und Bossy I´Aillerie, von Mal zu Mal weniger besiedelten, da und dort, wie auf Restflächen, kultivierten, mehr und mehr aber wie verwilderten Landschaft – die Strecke führte flußauf durch das Auental der Viosne _; hell von den, Halt für Halt, sich vergrößernden Leerräumen im Zug, die mich an weiße Stellen auf – nur den alten? – Landkarten denken ließen; …

 

 

Und gleich wieder ausgestiegen, an der in jeder Hinsicht unvergleichlichen Haltestelle von Lavilletertre, fern vom weder sicht- noch hörbaren Dorf. … Als einziger ausgestiegen, glaubte ich mich an der Station allein. Ein tiefes Ein- und Ausatmen, mehrmals. Da stand es wieder, das ehemalige Bahnhäuschen, längst geschlossen, und verrammelt. Immerhin war es frisch gestrichen, und würde vielleicht eines Tages neu geöffnet, nur: für wen? Keinen Schalter gab es mehr. Hatte es vielleicht nie einen gegeben? Aber auch kein Fahrkartenautomat irgendwo – eine der Unvergleichlichkeiten des Zughalts von Lavilletertre.

 

 

Weg von der Tierwelt. Heim in die Zivilisation, brav den regulierten Fluß entlang in die Stadt. Wie hieß doch das Lied aus dem anderen Jahrhundert, gesungen von Petula Clark für Amerika und darüber hinaus in die Welt “Downtown“. Ob freillich Chaumont-en-Vexin etwas wie eine Downtown hatte? Außerdem war sie, als Obstdiebin, in einer “Downtown“ nicht am Platz, war da nie am Platz gewesen, hatte sich, vor allem, da nie erwünscht gefühlt. Und wie tat es ihr not, wie bedürftig war sie, wie sehnte sie sich danach, sich endlich wo erwünscht zu finden. Wie im übrigen “downtown“ übersetzen? Mit “Innenstadt“? Nein. Downtown war unübersetzbar. (Noch so eine Unübersetzbarkeit.)

 

 

Es ist noch früh, lang vor dem Abend. Trotzdem sollten die Obstdiebin und ihr Begleiter allmählich aufbrechen. Sie sind aber immer noch in Chars, und zwar wieder in einem Lokal, dem Kebab-vis-à-vis dem “Cafe de l´Univers“. Wie das? Aus Entdeckerlust. Aus Forschungsgeist. Erforschen und entdecken in einer Bude an der Durchfahrtsstraße?

 

 

Zwar war das die Straße, die nach Dieppe an den Atlantik führte und auch so hieß, „Route de Dieppe“. Aber erst einmal war es zum Meer noch weit, gut hundert Kilometer nordwestwärts. Und außerdem: jetzt nur kein Meer, nur von hier nicht weg ans Meer. Hier ist es. Da spielt es sich ab, hier und jetzt im Landesinnern. Wahr: die „Route de Dieppe“, die Departementalstraße 915, nachdem sie die Ile-de-France verlassen hat, auf ihrem Teilstück quer durch den westlichen Zipfel der Picardie bis zum Übergang in die Normandie, Dieppe als Endpunkt, hat dazu den Beinamen „Route du Blues“, und beginnt gleich oben auf dem Vexinplateau, kurz nach der Ortsausfahrt von Chars, eine amerikanische Meile und soundso viele russische Werst vor dem Dorf Bouconvillers, wo vor dem Wirtshaus “Cheval Blanc“, am Rand der „Route du Blues“, zur Mittagszeit, ungefähr auf halben Weg zwischen Paris und dem Meer, ein Laster hinter dem anderen parkt.

Und zuletzt blieben wir stehen und äugten in dem einzelnen, anscheinend leeren Quittenbaum an einem der Vexindorfränder nach der einen Frucht, und da war sie, da wölbte sich aus der Laubfläche ein Körper, ein Fruchtkörper, ein einzelner, der einzige.
 
 
 
 

 
 
Ich gratuliere Peter Handke zum Literaturnobelpreis.

Alle Zitate aus: Peter Handke – Die Obstdiebin, Berlin 2017.

2019 9 Okt

Giya Kancheli starb 84-jährig in Tiflis

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Vor einer Woche, am letzten Mittwoch, verstarb Giya Kancheli 84-jährig in Tiflis, seiner georgischen Heimatstadt. The Guardian schrieb: „Leading Georgian composer whose music combined stillness and beauty with expressive outbursts.“ Treffender kann man seine Musik kaum beschreiben. Mir sind nur seine zwölf bei ECM New Series erschienenen Platten bekannt, sie nehmen einen besonderen Platz in meinem Plattenschrank ein. Giya Kancheli veröffentlichte aber auch auf anderen Plattenlabel von 1965 an seine Musik. Demnächst möchte ich ausführlicher auf das faszinierende Werk dieses Komponisten eingehen. ECM veröffentlichte gerade einen interessanten Rückblick auf sein Werk (www.ecmrecords.com/news)

 

 

 

 

Heute höre ich von Giya Kancheli „Silent Prayer for violin, violoncello, string orchestra and tape“ (2007) aus der CD: Kremer, Gidon & Kremerata Baltica – Hymns and Prayers.

Die Beiträge zu dem fünfzigsten, hundertsten und dem einhundertfünfzigsten Plattenschrank waren für mich stets Anlass, über eine ganz besondere Musik oder ein außergewöhnliches Buch zu schreiben. Im fünfzigsten Plattenschrank war das Buch Abendland von Michael Köhlmeier  und die liebevoll gestalteten 10CD-Box Lady Day: The Complete Billy Holiday on Columbia 1933-1944 das Thema; der hundertste Plattenschrank beschäftigte sich mit der Orgelmusik von Olivier Messiaen und am Rande auch mit dem Orchesterwerk Quatuor pour la Fin du Temps. Diese Komposition stand dann im Mittelpunkt der einhundertfünfzigsten Ausgabe des Plattenschrankes.

Olivier Messiaen ist nun auch das Thema, wenn zum zweihundertsten Mal der Plattenschrank geöffnet wird. Und es geht um Vögel. Messiaen zeichnete auf seinen Weltreisen Vogelgesänge auf, ungefähr 700 Vogelrufe konnte er unterscheiden. Sein Zyklus Catalogue d’Oiseaux, 13 Stücke für Klavier, soll heute der Plattensammlung entnommen werden. Dieser Zyklus ist häufig aufgenommen worden: Pianistin Yvonne Loriod, die Messiaen am 1. Juli 1961 geheiratet hat, spielte ihn am 15. April 1954 in der Pariser Salle Gaveau zum ersten Mal (auf Schallplatte 1959 erschienen), sie ist auch Widmungsträgerin dieser Werke . In den vergangenen Jahren erschienen Einspielungen von Pierre-Laurent Aimard, Anato Ugorski, Martin Zehn und anderen. In diesem Jahr nun (15.3.2019) veröffentlichte der italienische Pianist Ciro Longobardi seine Einspielung des Catalogue d’Oiseaux. Großartig!

 
 


 
 
 
Anlässlich der Uraufführung des Stückes führte Messiaen ausführlich in sein Werk ein:
 
 
„Vor inzwischen rund 30 Jahren begann ich damit, Vogelgesang zu notieren. Meine ersten Trans-kriptionen finden sich verstreut in meinen frühesten Werken. Leider hatte ich damals keine Erfahrung und wusste nicht immer, welchem Vogel ich dies oder jenes Lied zuordnen sollte. Später holte ich mir Rat bei Spezialisten auf diesem Gebiet und lerne sehr viel auf geführten Wanderungen … Nachdem ich das getan hatte, war ich in der Lage, mit meinen eigenen Flügeln zu fliegen (nicht in übertragener Bedeutung oder als Wortspiel gemeint). Und so ziehe ich jedes Jahr im Frühling mit Bleistiften, Radiergummis, Notenpapier, Zeichenblock und einem riesigen Feldstecher bewaffnet los und reise in verschiedene Regionen Frankreichs auf der Suche nach meinen Lehrern. So entstand mein Catalogue d’oiseaux für Soloklavier … Alles stimmt genau: Die Melodien und Rhythmen des Solisten und die seiner Nachbarn, der Kontrapunkt zwischen den beiden, die Antworten, Ensembles und Augenblicke der Stille sowie die Übereinstimmung des Lieds mit der jeweiligen Tageszeit.

Besonders schwierig war es, die Klangfarben zu übertragen, vor allem auf dem Klavier: Wir alle wissen, dass die Klangfarbe sich aus der größeren oder geringeren Anzahl an Obertönen ergibt. Deshalb musste ich ungewöhnliche Tonverbindungen ausprobieren. Andererseits war das Klavier aufgrund seines Tonumfangs und der Unmittelbarkeit der Ansprache das einzige Instrument, das mit so großer Geschwindigkeit und in diesen sehr hohen Lagen sprechen kann, die für einige der virtuoseren Vögel erforderlich sind – wie zum Beispiel die Nachtigall, die Singdrossel, den Schilfrohrsänger und den Teichrohrsänger. Das Klavier ist auch das einzige Instrument, das die rauen, krächzenden und durchdringenden Rufe des Raben und des Drosselrohrsängers imitieren kann, das Scheppern des Wachtelkönigs, das Kreischen des Wasserralle, das Bellen der Silbermöwe, den trockenen und gebieterischen Klang – wie Klopfen auf Stein – des Mittelmeerschmätzers und den sonnigen Liebreiz der Blaumerle oder des Trauersteinschmätzers.

All dies grub sich mit solch poetischer Macht in mein Gehirn ein, dass ich nicht in der Lage war, es ohne Emotion in Musik umzusetzen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen! Die Vögel alleine sind große Künstler. Sie sind die eigentlichen Komponisten dieser Stücke! Wenn manchmal die musikalische Qualität nachlässt, liegt das daran, dass der Komponist sich draußen in der Natur ungeschickt verhalten oder ein störendes Geräusch gemacht hat, also mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen ist, eine Seite umgeblättert oder einen trockenen Ast abgeknickt hat.“

 

„Hören Sie den Vögeln zu, das sind große Meister“, soll der Kompositionslehrer Messiaens, Paul Dukas, zu seinem Schüler gesagt haben. Und dieser sollte später äußern: „Natur, Vogelgesang! Das sind meine Leidenschaften. Sie sind auch meine Zuflucht.“

Jedes der dreizehn Klavierstücke des Catalogue d’Oiseaux wird von Messiaen genau beschrieben. So zum Beispiel  „Die Blaumerle“ (Le Merle bleu) – das Stück Nummer drei:

 

Im Monat Juni. Roussillon, Côte Vermeille. in der Nähe von Banyuls: Kap I’Abeille, Kap Rederis. Ein Felsüberhang, Kliff über dem Meer, das daliegt in Preußischblau und Saphirblau. Schreie von Mauerseglern, Plätschern von Wasser. Die kleinen Landzungen erstrecken sich ins Meer wie Krokodile. ln einer Felsspalte die Blaumerle, deren Gesang darin nachhallt. Ihr Blau ist ein anderes als das des Meers: Veilchenblau, Schiefergrau, Seidenblau, Schwarzblau. Ihr fast schon exotischer Gesang, der an balinesische Musik erinnert, mischt sich in das Rauschen der Wellen. Auch die Theklalerche ist zu hören, die im Himmel hoch über dem Wein und dem Rosmarin flattert. Die Silbermöwen johlen von weither über dem Meer. Die Felswände sind furchterregend. Ihnen zu Füßen ersterben die Wellen in Gedanken an die Blaumerle.“

 

Messiaen wurde am 10. Dezember 1908 in Avignon geboren, er starb am 27. April 1992 in Clichy, Hauts-de-Seine). Er war Professor für Komposition am Pariser Conservatoire (1941–1978) und übte das Amt des Titularorganisten an der Kirche Sainte Trinité (Paris) mit einer Orgel von Cavaillé-Coll (1868), mehr 60 Jahre lang aus.

Musik Produktion Schwarzwald (Teil 7)

 

Schuld hat einmal mehr Jochen. Sein kürzlich hier geäußerter, großartiger Tipp, den 3Sat-Film Brüder Kühn – Zwei Musiker spielen sich frei von Stephan Lamby anzuschauen, animierte mich dazu, die Serie um das Plattenlabel MPS um weitere zwei Folgen zu erweitern: eine, die heutige, beschäftigt sich mit dem älteren der Brüder, Rolf Kühn, die nächste mit dem sehr viel jüngeren Bruder Joachim Kühn (bei beiden geht es natürlich ausschließlich um deren MPS-Zeit).

Erinnert sei an ein Ereignis, das nun auch schon wieder ein gutes Jahr zurückliegt: zum 50-jährigem Bestehen des Villinger Labels MPS traten die Brüder am 8. September letzten Jahres im Franziskaner Konzerthaus auf. In Lambys Film sieht man einen kurzen Ausschnitt, aber auch eine Filmsequenz, in der die Brüder anlässlich des Jubiläums das legendäre SABA/MPS-Studio besuchen.

Was die Zusammenarbeit Kühn-Hans Georg Brunner-Schwer angeht, begann alles im September 1965, als Rolf Kühn mit Friedrich Gulda, Sahib Shihab, Freddie Hubbard, Jay Jay Johnson, Stan Roderick, Robert Politzer, Kenny Wheeler, Erich Kleinschuster, Harry Roche, Rudolf Josi, Alfie Reece, Herb Geller, Tubby Hayes, Pierre Cavalli, Ron Carter und Mel Lewis Music For 4 Soloists And Band No.1 einspielte. Es folgte ein dem Free-Jazz doch sehr nahe kommendes Album Transfiguration mit dem Rolf & Joachim Kühn Quintet und Karl Berger 1967 (als CD 2009).

Rolf Kühn veröffentlichte 1970 Going To The Rainbow. Auf Seite 1 der Platte findet man das 18:21 minütige Titelstück “Going To The Rainbow“ – hier geht aber richtig die Post ab. 1971 brachte Rolf Kühn mit seiner Jazzgroup Devil In Paradise heraus, zu der Eberhard Weber, Tony Oxley, Wolfgang Dauner, Joachim Kühn, Alan Skidmore und Albert Mangelsdorff gehörte – auch eine eher dem Free-Jazz zuzuordnende Platte, auf der es ordentlich zur Sache geht.

“The Day After“ erscheint bei MPS 1972, mit dabei, neben Rolf Kühn, Phil Woods, Peter Warren, Oliver Johnson, Nana Vasconcelos auch Joachim Kühn. The Rolf Kühn Group spielt 1975 dann das Jazzrock-Album Total Space ein, auch hier lohnt ein Blick auf die Besetzung; Bo Stief, Daniel Humair, Kasper Winding, Joachim Kühn, Philip Catherine, Gerd Dudek.

Musik ganz anderer Art begegnet uns auf der 1978 erschienen Platte Symhonic Swampfire des Rolf-Kühn-Orchestras, hier geht es eher gefällig zu, trotzdem, eine schöne Platte (allerdings, für meinen Geschmack wirklich der Streicher zu viel). Auch diese Scheibe wurde 2009 wiederveröffentlicht. Jazzrock hören wir dann auf der 1973 produzierten Platte Connection 74, es gibt allerdings eine Ausnahme, das wunderschöne Stück “Music For Two Brothers“, ein achtminütiges Duospiel der Kühn-Brothers. (Wiederveröffentlicht 2017)

 

 

 

 

1980 kam dann Cucu Ear heraus, feiner Jazzrock, besonders das Titelstück “Cucu Ear“ und der Titel “Sultans of Jazz“ haben es mir angetan. Manches erinnert mich an Klaus Doldingers Jazzrock-Zeit und in der Tat, mit ihm nahm Kühn Rolf Kühn feat. Klaus Doldinger auf. Allerdings hat diese LP nun überhaupt nichts mit dem späteren Rock-Jazzer Doldinger zu tun, hier spielt er 1962 feinsten Jazz, mit dabei der Organist Ingfried Hoffmann. Tenor Sax, Klarinette und nun noch die Hammond B3, eine ungewöhnliche und richtig gute Soundkombination. Das Brunswick-Label zeichnet allerdings für diese Aufnahme verantwortlich, nicht MPS.

 

 

 

 

Aber zurück zur Plattenfirma des Hans Georg Brunner-Schwer MPS und damit zu einer Riesenüberraschung. Rolf Kühn feiert in vier Tagen, am 29.9. seinen 90. Geburtstag. In Zusammenarbeit mit dem Jubilar bringt MPS eine auf 1000 Exemplare limitierte 9-LP-Vinyl-Box heraus. Hier finden wir drei der oben erwähnten Platten: Total Space, Symphonic Swampfire und Cucu Ear. Gespannt bin ich auf zwei hier erstmals veröffentlichte Live-Mitschnitte, einmal auf den des “Rolf & Joachim Kühn Quartett“ von den Berliner Jazztagen 1966 und dann auf die Aufnahme vom Newport Festival 1967. Hinzu kommen noch die Alben Stereo (2015), Spotlights (2016) und Yellow & Blue (2018). Ein 12-seitiges Booklet vollendet die Box.

„Ein Termin mit Herrn Rihm“, so überschrieb Jochen seinen Beitrag vom 2. Juni über Wolfgang Rihm. Er empfahl damals einen Filmbeitrag des SWR über Wolfgang Rihm, der Titel: “Über die Linien – Grenzgänger des Klangs“. Ich habe den Tipp von Jochen befolgt und mir die Sendung angesehen, nicht nur das, in der Mediathek musste ich die Dokumentation nochmals sehen. Selten hat mich ein Musiker und Komponist so beeindruckt, so überzeugt wie Wolfgang Rihm. Der Film entstand kurz nach einer langen, schweren Erkrankung des Meisters. Rihm, Jahrgang 1952, wirkt ruhig, lebendig, lebensbejahend. Er komponiert und komponiert und hat noch so viel mitzuteilen. Einmal sagt er, es sei ihm, als hätte er in seinem Inneren noch einen dicken Block, da müsse und möchte er noch viele Blätter abreißen. Im Grunde habe er das Gefühl, als schreibe er sein ganzes Leben lang ein einziges Stück. Die Werke, die er schreibe, würden das Frage- und Aktionspotential für das Ins-Werk-Setzen des nächsten Stückes hervorbringen. Man solle sich den Vorgang des Komponierens aber nicht so vorstellen, als würde man einer Glanzstraße bis zum Ziel folgen, es sei eher ein Stochern im Nebel, es gebe keine Sicherheit im Moment des Entstehens eines Stückes, eher Hilflosigkeit.

Wolfgang Rihm ist seit 1985 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik in Karlsruhe, sein Unterrichtsstil: fragend, – produktive Verunsicherung.

In der Dokumentation kommen neben seiner Biographin, Elenore Büning, auch unter anderen Anne-Sophie Mutter, für die Rihm “Gesungene Zeit“ geschrieben hat, und Jörg Widmann zu Wort. Für letzteren hat Rihm “Über die Linie II“ komponiert. Der Komponist, Klarinettist und Dirigent Jörg Widmann erzählt ausführlich über die Entstehung dieses Stückes. “Über die Linie II“, dieses Werk faszinierte mich dermaßen, ich musste mir die Platte sofort kaufen.

 

 

 

 

Die Aufnahmen zu dieser Scheibe entstanden im Konzerthaus Freiburg zwischen 2009 und 2010, es spielt das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, an der Klarinette natürlich Jörg Widmann. Über das Stück schreibt Widmann. „Als die Partitur der Musik für Klarinette und Orchester – Über die Linie II in meinen Briefkasten geflattert kam, war ich zunächst schockiert: ein über 40 Minuten fast ununterbrochener Gesang durch alle, auch die höchsten stratosphärischen Register. So hatte noch niemand für Klarinette geschrieben. Aber, wie sollte ich das jemals spielen können?“

 

The Guardian: „[Uber die Linie II ] must be one of the most substantial, an exacting test of any clarinettist’s control and stamina. The soloist plays almost continuously throughout the 37-minute work that the orchestra sometimes supports and accompanies, sometimes contradicts. The music is full of allusions to past styles, and its effect is fragile and haunting.“

 

Zu dem Werk Requiem-Strophen, 2017 uraufgeführt, sagte Jörg Widmann: „Was ich bei all den geistlichen Werken von Rihm spüre, dass es da etwas Anderes geben muss. Warum kann ich daran glauben – ich, der das höre? Weil es diese Musik gibt. So könnte ich gläubig werden.“


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