Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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2024 16 Feb

New Blue Sun

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Lautlos schieben sich die Blätter des virtuellen Dschungels auseinander und ein paar Augen mit länglichen Pupillen werden im phosphoreszierenden Dunkel sichtbar. Hyperfuturistisch archaische Flötentöne und scheinbar zufallsgenerierte Trommeln schlagen durch den aufkommenden Nebel. I Swear, I Really Wanted To Make A „Rap“ Album But This Is Literally The Way The Wind Blew Me This Time bekennt der Musiker während die milchsonnigen Blätter zu hyperboliodem Staub zerfallen und ein pulsierendes Licht sich zwischen den knorrigen Stämmen hindurchschlängelt. Leise unaufdringlich und dennoch ganz nah The Slang Word P(*)ssy Rolls Off The Tongue With Far Better Ease Than The Proper Word Vagina. Do You Agree? Kein Ausweichen, der virtuelle Dschungel ist tief, die Songtitel bizarr, plakativ und anschaulich und der verhaltene Beat würde in jedem Rap-Song bestens als Intro oder Bridge funktionieren. Aber diesmal stand der Wind anders, weiter in das Weglose hinein. That Night In Hawaii When I Turned Into A Panther And Started Making This Low Register Purring Tones That I Couldn’t Control … Sh¥t Was Wild. Die Glühwürmchen schimmern in zunehmender Größe wie helle Lampions, drängen sich in das Bewusstsein, öffnen sich weit in die vermeintliche Monotonie der Virtualität und lassen Geister der Parallelwelt ihre fließenden amorphen Tänze in leuchtenden kortikalen Bahnen, die nach warmem, feuchten Boden riechen und den Hörer freundlich umschließen, irgendwo im Zeitlosen durchschweben. Dreams Once Buried Beneath The Dungeon Floor Slowly Sprout Into Undying Gardens. Exzellente Fourth World Music, da gibt es nicht mehr zu sagen, nur zu hören!

 
 

2024 11 Feb

Ein Rückblick auf 2023

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Das Jahr 2023 war spannend und es ist viel passiert. Nicht nur hier auf dem Blog, sondern auch in der Kulturwelt. Es entstanden viele wunderbare und innovative Klänge und Ideen, so dass ich hier nur eine kleine, sehr subjektive Auswahl präsentieren will, von denen aber jedes Album, jedes Buch eine besondere Rolle für mich gespielt hat. Besonders berührt hat mich Ryuichi Sakamoto’s 12 als letzte Skizzen, die doch so vollendet erscheinen, vor seinem Ableben. Immer wieder habe ich über ihn geschrieben und er war musikalisch ein wichtiger Begleiter über wenigstens vier Jahrzehnte. Seine Musik hat mir das Tor zur japanischen Pop- und Ambientmusik mehr geöffnet als jeder andere japanische Musiker.

Von meiner Bestenliste will ich drei Alben noch einmal besonders hervorheben: Da ist einmal die englische Percussionistin Bex Burch, die mit ihrem überwiegend in Chicago eingespielten Debütalbum ein beeindruckendes und sensibles, tiefgründiges Werk vorlegt. Dann ist da Volker Bertelmann a.k.a. Hauschka, der mit Philantropy seinen schon auf früheren Alben eingeschlagenen Weg in der Arbeit mit präparierten Konzertflügeln eine höchst eigenwillige Musik zu kreieren konsequent fortsetzt. Man hört hier die jahrelange Erfahrung in der Produktion von Filmmusik, für die er ja auch 2022 einen Oskar (Im Westen nichts Neues) erhielt. Seine Klangräume sind bilderzeugender, intensiver, cineastischer, ohne dass die Musik in Eigenwilligkeit und Originalität auch nur die geringsten Abstriche zeigen würde. Wunderbar. Und schließlich gibt es eine Reunion (ich stehe Wiedervereinigungen alter Bands gerne skeptisch gegenüber, weil das Reproduktionsbedürfnis hinsichtlich des alten Oeuvres meist verstörend hoch und die innovative Qualität oft eher bescheiden ist) der Krautrockband Agitation Free, die sich nur mit einem neuen Bassisten und sonst in alter Besetzung, neu erfinden und Raum für die zwischenzeitlichen musikalischen Entwicklungen der einzelnen Bandmitglieder gibt. Ein überraschendes, komplexes und vielschichtiges Album im Flow des Augenblicks – Momentum.

 
 

    1. Ryuichi Sakamoto – 12
    2. Biosphere – Inland Delta
    3. Brian Eno – Top Boy
    4. Bex Burch – There’s Only Love And Fear
    5. Midori Takada & SHHE – MSCTY V&A Dundee
    6. Hans Joachim Roedelius/Arnold Kasar – Zensibility
    7. Vince Clarke – Songs Of Silence
    8. Hauschka – Philantrophy
    9. Agitation Free – Momentum
    10. Fabio Anile/Stephan Thelen – Music For Piano And Strings
    11. Kayhan Kalhor/Toumani Diabate – The Sky Is The Same Colour Everywhere
    12. Ami Dang – The Living World’s Demands
    13. Eivind Aarset & Jan Bang – Last Two Inches Of Sky
    14. The Gurdjieff Ensemble, Levon Eskenian – Zartir
    15. Fred Again.. & Brian Eno – Secret Life
    16. Sonar – Three Movements
    17. The Pitch & Jules Reidy – Neutral Star
    18. African Head Charge – A Trip To Bolgatanga
    19. Raz O’Hara – Tyrants
    20. Nils Økland/Sigbjørn Apeland – Glimmer
    21. Craven Faults – Standers
    22. Sebastian Rochford/Kit Downes – A Short Diary
    23. Alva Noto – Kinder Der Sonne
    24. Kai Schumacher – Tranceformer
    25. Ensemble 0 – Jojoni (Made To Measure, Vol. 49)
    26. Laurel Halo – Atlas
    27. John Cale – Mercy
    28. Peter Kruder/Roberto Di Gioia – “- – – – – – – – – -“
    29. Penguin Cafe – Rain Before Seven…
    30. Trees Speak – Mind Maze
    31. Grandbrothers – Late Reflections
    32. Eraldo Bernocchi/Hoshiko Yamane – Sabi
    33. Lol Tolhurst/Budgie/Jacknife Lee – Los Angeles

 
 

      

 

Dieses Mal muss es aber noch einen Unterpunkt zu meiner Best-Of-Music-Liste geben: Female Voices. Einige bemerkenswerte Alben mit sehr unterschiedlichen weiblichen Stimmen off the beaten Track … von sehr leise und intim über die wunderbare reife Stimme von Dorothy Moskowitz bis hin zu exzentrischen, sehr verwaschenen und unter die Haut gehenden Alben. Und über das Erste wurde hier schon zurecht ziemlich viel geschrieben …

 
 

    1. Arooj Aftab, Vijay Iyer, Shazad Ismaily – Love In Exile
    2. Dorothy Moskowitz & United States Of Alchemy – Under An Endless Sky
    3. Yara Asmar – Synth Waltzes And Accordion Laments
    4. Marta & Tricky – When It’s Going Wrong
    5. Niecy Blues – Exit Simulation
    6. Lucinda Chua – YIAN
    7. Youmna Saba – Wishah
    8. Kate NV – WOW

 

      

 

 

Bei den Reissues machen die Japaner einmal wieder das Rennen, allen voran das Ambient-Album Surround von Hiroshi Yoshimura, der in seinen Liner-Notes vorschlägt, man solle es hören wie Luft, die uns umgibt, in die man eintauchen kann, irgendwo zwischen Klang und Musik, irgendwo zwischen den Geräuschen von Schritten, einer Klimaanlage und dem Klappern eines Teelöffels in einer Tasse. Nur unendlich viel schöner. Und dann mal wieder Ryuichi Sakamoto mit Ongaku Zukan, der Musikenzyklopädie, die als Illustrated Musical Encyclopedia hier im Westen 1984 erstmalig veröffentlicht wurde, damals noch mit einigen anderen Stücken wie Field Works mit Thomas Dolby. Immer noch ein Meilenstein.

 
 

    1. Hiroshi Yoshimura – Surround
    2. Ryuichi Sakamoto – Ongaku Zukan
    3. David Sylvian – Do You Know Me Now?
    4. Satsuki Shibano – Wave Notation 3: Erik Satie 1984
    5. Don Cherry, Dewey Redman, Charlie Haden, Ed Blackwell – Old And New Dreams
    6. Nana Vasconcelos – Saudades
    7. Soft Cell – Non-Stop Erotic Cabaret
    8. Tricky – Maxinquaye (Reincarnated)
    9. Pauline Anna Strom – Echoes, Spaces, Lines

 

 

      

 

 

Schließlich bleibt die Liste meines bevorzugten Lesestoffs im letzten Jahr, wobei ich Metzingers Bewusstseinskultur auch nach kontroverser Diskussion hier auf dem Blog für die wichtigste und bedeutendste Veröffentlichung halte. Doch auch alle anderen Titel berühren Punkte in der öffentlichen und kulturellen Diskussion, die drängend und zum Wohle aller noch möglichst ausgiebig durchdacht und diskutiert werden wollen.

 
 

    1. Thomas Metzinger – Bewusstseinskultur
    2. Kohei Saito – Systemsturz
    3. Manfred Spitzer – Künstliche Intelligenz
    4. Gregor Hasler – Higher Self
    5. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden
    6. Helena Barop – Der grosse Rausch
    7. Lisa Feldman Barrett – Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn
    8. Markus Rüther – Sinn im Leben

 

 

Die Welt ist dunkler geworden. Gewalt, Terror und Tod bestimmen vielerorts das Leben der Menschen, oft aussichtslos und verzweifelt ist ihre Situation. Angst treibt sie vor sich her, sie versuchen zu entkommen, wobei viele dann auf einer oft waghalsigen Flucht ihr Leben lassen und als namenlose Tote auf den Grund des Mittelmeeres sinken. Wir vergessen sie nur zu gerne, aber der Schmerz darüber bleibt in unserem kollektiven Bewusstsein bewahrt. Was würden diese toten Seelen uns sagen wollen, wenn wir ihnen begegneten?

Ankoku Butoh, kurz Butoh, wörtlich der Tanz der Finsternis entwickelte sich in Japan Ende der 60er Jahre und wendet sich mit drastischen Darstellungsformen gegen die „grauenerregende artifizielle Harmlosigkeit und Biederkeit“, die sowohl die klassischen japanischen, wie westlichen Tanztraditionen im Wesentlichen ausmachten. Fast nackt, weiß geschminkt und in Haltungen des Schmerzes und des Schreckens, kontortische Verrenkungen und expressive Spasmen provozierten das Publikum von Anbeginn bis an die Grenze des Erträglichen. Bereits die erste Aufführung von Tatsumi Hijikata, Kinjiki (Forbidden Colours) nach dem gleichnamigen Roman von Yukio Mishima endete in einem handfesten Skandal. Butoh ist eine seltsame Mischung aus Elementen des Nō, des Kabuki, des westlichen Ausdruckstanzes und fiktiven schamanistischen Ritualen, wobei durch den Einsatz des „dunklen Körpers“ entstellter Haltungen das Absurde und Groteske dem banalen Alltag des Betrachters einen bizarren Spiegel ketzerisch vorhält, der kein Ausweichen, kein Bagatellisieren, kein Zurück zum normalen Alltag mehr erlaubt.

 
 

 
 

Die toten Seelen kehren zurück. Was würden sie uns sagen wollen, wenn wir ihnen begegneten? Aus dem primordialen Raum erscheint langsam die Gestalt von Tadashi Endo, sich langsam verdichtend und das Unsagbare in beklemmenden Figuren seines Körpers ausdrückend. Die konzentrierte Spannung in seinem Körper, die kontraintuitiven Bewegungen, die stummen Gesten der Leere und Verlorenheit. Disruptiv, in gebrochenen, präzisen Bewegungen tanzt sich Tadashi Endo in eine rituelle Trance. Nein, er tanzt nicht, er wird getanzt. In einer magischen Choreografie der Finsternis bannt er die Schattenwelt, wird selbst zum Schatten und holt langsam so die Geister der toten Seelen in den dunklen Raum seiner Performance, stellt sich den Abgründen, hypnotisch den Bannkreis tief ins Publikum ziehend. Und wenn wir mit jedem Toten ein Stück unseres Glücks verwirkt hätten, entledigt sich der tanzende Schamane seiner Hüllen und teilt final einen leisen Augenblick des Glücks in einer Befriedung, einem zur Ruhe kommen, einem Gefühl endloser und unfaßbarer Stille.

 

2024 14 Jan

Die, My Love

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Die Rudra Veena ist ein seltenes Instrument, welches in der nordindischen Dhrupad-Musik, die über den großen Sänger Pandit Pan Nath viele westliche Musiker, wie Jon Hassell, Terry Riley und LaMonte Young beeinflusst hat, gespielt wird. Es ist eine Art Basszither mit zwei bespielbaren Saiten, ein großes Instrument mit ungewöhnlichem und mächtigem Klang und großem Resonanzraum. Nun hat die junge, sehr passionierte Rudra-Veena-Spielerin Madhuvanti Pal in einer kongenialen Interpretation des Raag Charukeshi mit Jimmy Sudekum an Gitarre und Surbahar, Peter Jacobson am Cello und Derrick Elliott am Bass einen zeitlos genialen Track geschrieben (to be listened loud):

 
 

D I E,  M Y   LOVE

 

2024 4 Jan

Klangquellen

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Klänge umfassen die gesamte akustische Dimension unseres Erlebens, sind ständig in irgendeiner Form da, selbst an den vermeintlich stillsten Orten. Sie geben uns eine räumliche, aber auch eine kontextuelle Orientierung. Gradgenau können wir in unserem ständigen laufenden Surround-Modus einen Klang lokalisieren und an der Art des Geräusches erkennen, ob sich etwas auf uns zu oder von uns weg bewegt oder ob der Ursprung gar statisch ist. Aber die Gesamtheit der Klänge an einem Ort geben uns auch eine wichtige Information, was hier gerade geschieht. Murray Schafer prägte dafür den Begriff einer Soundscape, die wie ein akustischer Fingerabdruck für einen Ort sein kann. Die Stille einer Wüste hört sich anders an als die Geräusche an einer Küste, die Naturgeräusche des Regenwaldes fundamental anders als die Klangkulisse an der Hauptwache in Frankfurt. Jeder Ort hat seine charakteristische Signatur. Doch in der modernen Welt rücken die Klänge, die im Spektrum zwischen akzidentieller und willentlicher Erzeugung entstehen, immer mehr von der Peripherie in das Zentrum unserer akustischen Lebensräume.

Die Gesichte der Zivilisation ist gleichzeitig auch eine Geschichte der damit verbundenen Klänge, bei einfachen Verrichtungen des Alltags, aber auch von Anbeginn jeglicher kultureller Entwicklung in Form von Musik, wobei es evolutionsbiologisch bis jetzt keine gute Erklärung jenseits der üblichen Plattitüden für ihre Entstehung gibt. Viel interessanter ist jedoch die Frage, was als Geräusch und was (schon) als Musik wahrgenommen wird. Dieser geht beispielsweise das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Studien nach, wobei deren wichtigstes Ergebnis zu seien scheint, dass es viel mehr von soziokulturellen Kontexten und musikalischer Sozialisation abzuhängen scheint als von der Klangquelle selbst, ob eine Folge akustischer Ereignisse als Musik erlebt wird oder nicht.

 
 

 
 

All diesen Fragen, sowie der Herstellung archaischer und archetypischer Instrumente, ihres Einsatzes in rituellen Kontexten, der musikalischen Resonanz mit der jeweiligen Umgebung und der Soundscapes der modernen Welt geht eine Ausstellung im Weltkulturenmuseum Frankfurt nach. Hier werden neben Instrumenten und deren Herstellung und Spielweisen in halb abgedunkelten Räumen auch Klanginstallationen von unterschiedlichen Orten und faszinierenden Experimenten mit Klängen abgespielt. Man kann aber auch an einem äußerst spannenden Experiment des Max-Planck-Instituts zum Musikerleben teilnehmen oder in einer anderen Ecke Klängen nachhören, die überlebt wurden und in unserer Welt nahezu ausgestorben sind. Inspirationen und Anregungen zwischen dem Zirpen der Zikaden, dem sonoren Glucksen afrikanischer Wassertrommeln, Soundscapes und dem subtilen Summen synthetischer Klangerzeuger. Danach ist nichts mehr wie es einmal war und zuvor erklang. Der Heimweg wird zu einer akustischen Dérive, einem Umherirren in der urbanen Soundscape, wobei erst langsam erfahrbar wird, wie sehr all diese vielfältigen Klangquellen letztendlich doch nicht mehr vermögen als die große Stille hinter Allem hörbar zu machen.

2023 26 Dez

Songs of Silence

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Zuerst ist da Raum, weit und leer. Als ob es da etwas zu antizipieren gäbe, was diese Stille nicht stören will, sich ihr nur leise zur Seite stellen, sie sichtbar machen und und den Raum subtil erweitern möchte. Den Blick nach innen gerichtet und sich doch jeder Nuance der Außenwirkung bewusst öffnet sich aus dem Nichts Cathedral in die Weite, ganz einfach, schwebend und dennoch vielschichtig. Ambientmusik vom Feinsten von einem Meister, von dem man dies als Debütalbum am allerwenigsten erwartet hätte. Vince Clarke gründete Depeche Mode mit, stieg dort aus, als die Band Fahrt aufnahm, spielte kurzzeitig mit Alison Moyet als Yazoo und dann aber 1985 mit Andy Bell in dem erfolgreichen Langzeitprojekt Erasure. Synthie-Pop also, charttauglich und kommerziell. Und jetzt ein stilles, subtiles und diskretes Album nach 53 Jahren Bühnenpräsenz in dem die Erfahrung auch mit leisen Tönen große Bilder zu erzeugen ohne dass er irgendjemanden noch etwas beweisen müsste, zum Tragen kommen. White Rabbit ist ein von einem leisen analogen Sequenzermotiv getragene Tranceinduktion, die in dem dazugehörigen Videoclip eine psychedelisch-dystope Gesellschaftskritik am Leben der immer mehr zunehmenden smombiehaften Mutanten langsam eskaliert. Auch jedes folgende Stück eröffnet eine sehr eigenständige Perspektive, schwebt durch das feinste Gewebe des weiten Raumes fast wie ein Nebel, Imminent, oder entführt in ferne Welten des Red Planet, atmosphärisch inspiriert von den Soundtracks zu den Blade Runner-Filmen. Zweifelsohne der Höhepunkt des Albums ist aber The Lamentations of Jeremiah mit Reed Hays am Cello, das zeit- und schwerelos wie ein urzeitliches Klagelied erklingt. Auch der Rest des Albums, bis man von Last Transmission sanft abgesetzt wird, birgt eine Ambient-Miniatur nach der anderen, die in fast cineastischer Intensität in stets neue akustische Landschaften entführen, deren Pastelltöne wie Vielschichtigkeiten das Bewusstsein in einen Raum einsaugen, den Ambient noch nie zuvor betreten hat. Dagegen wirkt das aktuelle Album seiner früheren Mitstreiter von Depeche Mode Memento Mori kommerziell und flach, muss man hier doch erst einmal die Hälfte durchhören, bis langsam auch einmal spannendere und gewagtere Stücke kommen.

 
 
 

 

Weiß ist die Farbe der Neutralität und vielleicht auch der Hoffnung. Weiß gestrichene LKWs stehen am Grenzübergang von Rafah und warten auf die Einfahrt nach Gaza, um überlebensnotwendige Hilfsgüter zu bringen. 2015 lieferte aber auch Rußland das entscheidende militärische Material in weißen LKWs in die Grenzregion des Donbass vorgebend humanitäre Hilfsgüter zu liefern. Doch diese Geschichte spielt viele Jahre früher, in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges und hat bisher nur wenig Beachtung gefunden. Die Einsicht, dass der Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war, machte sich zunehmend auch in den Köpfen führender deutscher Politiker breit und so gab es auch Bestrebungen die Konzentrationslager aufzulösen, damit sie nicht in die Hände der Siegermächte fielen und so die Verbrechen und das Grauen nach Möglichkeit nicht nachweisbar werden sollte. In dieser brisanten Phase machte der Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes Graf Folke Bernadotte den Versuch Kontakt zu Walter Schellenberg und Heinrich Himmler aufzunehmen, um mit ihnen über eine Rückführung von überwiegend dänischen und norwegischen KZ-Häftlingen nach Skandinavien zu verhandeln. Er war mit seiner Mission sehr erfolgreich und so konnten in mehreren konzertierten Aktionen etwa 20000 inhaftierte Menschen, darunter auch viele Juden, mit eilends weiß gestrichenen Bussen des schwedischen Roten Kreuzes durch das ausgebombte und weitgehend zerstörte Deutschland gerettet und aus der Einflusszone des zerfallenden Nationalsozialismus gebracht werden. Später wurden die Berichte über das in den Konzentrationslagern Erlebte und über die Evakuierung in den teilweise sehr schnell organisierten Aktionen sorgfältig dokumentiert.

Eigene Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen dienten dem dänischen Saxophonisten und Komponisten Benjamin Koppel als Ausgangspunkt für ein fast cineastisches Werk, das sich um einzelne Zitate rankt, die schmerzhaft unter die Haut gehen und dem Vergessen entgegenwirken. Beklemmend in ihrer Einfachheit und durch den einfachen Trick das muttersprachliche Originalzitat von einer Wiederholung in Englisch folgen zu lassen geben die Worte der Überlebenden den Rahmen für die Kompositionen, die mit ihren Spannungsbögen und ihrer akustischen Bildgewalt einen wirkmächtigen inneren Film entfalten zwischen unfassbarer Grausamkeit, einem initiatischen Weg in die Freiheit und den finalen Willkommensgesten, die für die Befreiten ein kaum fassbares Wunder gewesen sein müssen. Ein beklemmendes Album, das in seiner Intensität und Direktheit den Hörer in seinen Bann zieht. Dazu beigetragen haben in überragender Weise die Jazzsängerin Thana Alexa, der Schlagzeuger Antonio Sanchez, der Bassist Scott Colley, der Pianist Uri Caine, Søren Møller an den Keyboards und der Solocellist des Dänischen Nationalen Symphonieorchesters Henrik Dam Thomsen.

 

 

 

 

Das Deutsche Jazzfestival Frankfurt wird 70 und feiert dies mit dem John Scofield Trio, Jakob Bro & Joe Lovano, Terri Lyne Carrington mit der hr-Bigband, Torsten de Winkel, Anke Helfrich, Structucture und vielen anderen. Auf ARTE findet sich am 28.10. ab 14:30 Uhr aus diesem Anlass ein neunstündiger Livestream. Danke, Lajla, für den Hinweis.

 

2023 11 Okt

Do you know me now?

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And if you think you knew me then
You don’t know me now …

 

 

Als Blemish 2003 erschien war ich völlig unzureichend darauf vorbereitet, was mich erwarten würde. Verzerrte Sounds, eine weitgehende Dekonstruktion denkbarer Songstrukturen, ein Auseinanderfallen vertrauter musikalischer Muster nur noch durch die Stimme David Sylvians zusammengehalten. Ein Befreiungsschlag und Signatur des Schmerzes einer Trennung in einem, eine zaghafte Suche einen nicht mehr durch die Vorgaben der Musikindustrie geprägten Klangraum zu finden, ein sperriges und verstörendes Werk, zu dem ich erst langsam Zugang fand und es inzwischen wirklich immer wieder gerne höre. Jetzt sind alle 10 Alben, die David Sylvian zwischen 2003 und 2014 auf seinem eigenen Label Samadhisounds veröffentlicht hat in einer Box mit neuer Gestaltung und einem umfangreichen Begleittext wiederveröffentlicht worden: Do You Know Me Now?

 

 

 

 

    1. Blemish (****)
    2. The Good Son vs. the Only Daughter (Blemish Remixes) (***)
    3. Snow Bone Sorrow (Nine Horses) (*****)
    4. Do you know me now? (Sakamoto/Nine Horses/Solo) (****)
    5. When loud Weather Buffeted Naoshima (*)
    6. Manafon (*****)
    7. Died in the Wool (*****)
    8. When We Return You Won’t Recognize Us (***)
    9. Uncommon Deities (w. Jan Bang/Erik Honoré) (**)
    10. There’s A Light That Enters Houses With No Other House In Sight (Sylvian/Fennesz/Wright) (**)

 

 

Die Veröffentlichung von Manafon war ja nun konstituierend für unseren Blog und nicht zuletzt der Namensgeber. Über die Zusammenführung von verschiedensten Sessionfragmenten, die jede bisherige Hörgewohnheit (selbst wenn man sie an Scott Walker geschult hat) in einen permanenten Orientierungsmodus kippte und etwas konsequent Neues schuf, das dennoch auf befremdliche Weise, wenn man sich mal darauf eingelassen hat, sich als ausgesprochen hörbar erwies, schuf Sylvian einen Meilenstein im Songwriting. Wahrscheinlich ist kein Album hier häufiger aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet und gewürdigt worden, ist oft wieder- und umbewertet worden, übermäßig gehört, überhört oder nach Probehören abgelehnt worden oder durch die Perspektive der weiteren musikalischen Entwicklung Sylvians neu eingeordnet worden. Dem kann ich kaum einen neuen Blickwinkel hinzufügen. Leider brach das kreative Schaffen David Sylvians nach Died In The Wool – Manafon Variations deutlich ein, man hörte immer weniger Eigenes, noch ein paar kleinere Kooperationen von ihm und dann, seit 2014: Schweigen. Zugegeben wüsste ich auch nicht, wohin es nach einem Album wie Manafon musikalisch weitergehen könnte, aber es bleibt mir ein leises Warten.

Seit meiner Pubertät waren zuerst Japan und dann die vielen Soloalben, auch seiner Japan-Bandkollegen, wichtiger emotionaler Bestandteil meiner Musiksozialisation. Sylvian war bei mir immer synchron, seine musikalischen Aussagen, auch wenn sie fremder und eigenwilliger wurden, fühlten sich relevant an, bedeuteten mir etwas. Ausser den ganz alten Alben von Japan, sagen wir ab Quiet Life höre ich sie auch immer wieder, teils durchaus mit nicht zu verleugnender Melancholie, die dieser Musik ja auch immanent ist, irgendwo präsent ist, selbst bei den Kooperationen mit Robert Fripp und auf Dead Bees On A Cake. Auch die Ambientalben mit Holger Czukay und die frühen Soloinstallationen sind wundervolle Einladungen eine Stille zwischen den Tönen neu zu erkunden. Nun ist der Teil, in dem David Sylvian die größte Schaffensfreiheit hatte, wieder als Ganzes verfügbar, auch wenn das Label Samadhisound inzwischen Geschichte ist.

 

 

“Although I personally maintain samadhisound is the home of my best work it was produced during a very turbulent period that precipitated some devastating changes in my life. I can’t gloss over this fact as it’s incorporated into, and informs the material in many ways. Maybe that’s why, after all this time, outside of any possible musical innovation, it remains so important to me.”

 

… And if you think you knew me then
You don’t know me now

I was happy, satiated
I was satisfied

 

But I still don’t know you …

2023 25 Sep

Xylouris Xystery

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Die Disco im Nebengebäude war fast leer. Ganz anders als die Location zu der uns eine langjährige Freundin, die zufällig auch in Heraklion weilte, kurz vor Mitternacht gelotst hatte mit der Bemerkung, dass ihr Bauchgefühl ihr sagte, es werde sich lohnen. Hier sollte ein Konzert der Enkel des berühmtesten kretischen Musikers Nikos Xylouris stattfinden und es sollte eine Überraschung in mehrfacher Hinsicht werden.

 
 
 

 
 
 

Der Saal war reichlich gefüllt, Eintritt frei. Die Zuschauer zu meiner Überraschung allesamt höchstens halb so alt wie ich. Auf dem Programm traditionelle kretische Musik, zwei kretische Lauten, eine Lyra, Gesang. Wer um Mitternacht anfängt zu spielen ist mir gleich sympathisch, da sind ganz andere Stimmungen in den Stunden nach Mitternacht und ich habe die besten Konzerte meines Lebens fast alle in den dunkelsten Stunden der Nacht gehört. Drei gutgelaunte junge Männer betraten die Bühne und wurden mit tosendem Applaus begrüßt und los geht die Reise in die Tiefen der traditionellen Musik Kretas, die sich nicht als europäische Musik, sondern viel mehr als ganz eigenständige, eher orientalische Kunstform versteht, die von dem Großvater zweier der Musiker, Nikos und Adonis Xylouris, zu neuen Höhen und internationaler Bekanntheit gehoben wurde. Der Dokumentarfilm A Family Affair (Trailer) berichtet sehr einfühlsam davon. Akustische Musik mit orientalischem Gesang, die fernab einer Tonalität nicht mit Kadenzen spielt, sondern hypnotisch-repetitive Muster fast minimalistisch entwickelt, zu denen auf der Lyra melismierende Melodieschleifen die einzelnen Stücke vorantreiben. Teilweise scharfe Beats, schnelle, groovende Rhythmen, fast rockig. Hier ein schönes Beispiel dafür: Meraklina. Doch die Atmosphäre hatte etwas ganz besonderes: da bestellten die Gäste literweise Whisky an ihre Tische, versanken in Konversationen, Scherzen und teilten ein freudiges Zusammensein, ohne der Musik gegenüber unachtsam zu werden. Also Musique d’Ameublement im tiefsten Satie’schen Sinne. Schon begann ich mich zu wundern, dass diese wirklich wunderbar tiefgründige traditionelle Musik so viele junge Menschen anzog, als das Ganze noch eine kräftige Steigerung erfuhr: einige Zuhörer standen auf, eilten nach vorne und begannen in geordneten Kreistänzen die komplexen alten kretischen Tänze zu der Musik. Schneller und schneller, die komplizierten Schrittfolgen tief verinnerlicht, eskalierte der Tanz langsam bis zum Höhepunkt einige junge Männer in eine sehr artistische Form eines orientalischen Schuhplattlers ekstatisch tanzend verfielen, immer einer nach dem anderen, wild, dionysisch und fast akrobatisch. Welle um Welle der Musik und des Tanzes, des fröhlichen Beisammenseins und Redens, Stunde um Stunde bis tief in die Nacht hinein. Die Stimmung der Musiker wurde besser und besser, die Musik intensiver und dichter und es pendelte sich diese äußerst eigentümliche Stimmung zwischen vitalstem Feiern alter Traditionen (die jungen Zuhörer kannten alle Texte auswendig und sangen mit, wenn es sich gerade mal anbot), sozialem Event a la Musique d’Ameublement und einem Rockkonzert in völlig harmonischer Synthese ein. Eine außergewöhnliche Erfahrung, die mir schmerzhaft bewusst machte, was es bedeutet in einem Land zu leben, das seine Tradition (und hier rede ich nicht von reaktionärer Deutschtümelei) nicht nur verraten, sondern auch unwiederbringlich verloren hat.

 
 
 

 


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