Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

„He took himself seriously
Motel rooms had lost their punch for him
He opened all his bags
There were two and inside those two, there were two more
It’s not an easy situation
But there was something like abandon in the air
There was something like the feeling
Of the idea of silk scarves in the air
There was a kind of madness to it
The kind we read about in magazines“

 
 

Irgendwann entdeckten Martina und ich Robert Ashleys „Private Parts“. Das wunderbare Vinyl-Remaster von „Lovely Music“ anno 2018 liess ich mir nicht entgehen. Erschienen war Ashleys vielleicht faszinierendstes Album 1977, enstanden war es im gleichen Jahr, in Oakland, Kalifornien. Wo sonst, und war da LSD im Spiel? Unsinn, oder!? Was passiert hier? Hat dieses spoken word-Album eine Handlung? Ja, schon, aber – das wäre die korrekte Antwort. Wir begegenen dem Innenleben einer Frau und eines Mannes ohne genau zu wissen, ob sie einander überhaupt kennen. 40 Minuten Laufzeit, alles kreist um Bedeutung(en), eine Auflösung gibt es nicht. Aber allerseltsamste Sounds ringsum. Im selben Jahr erschien übrigens bei Lovely Music Jon Hassells „Vernal Equinox“.

 
 

Was Ashley in seinen langen Monologen erforscht, scheint alles zu sein, was nicht passiert – eine Umkehrung, die in den Schatten schleicht und tanzt. Wir sind eingeweiht in die zappeligen Obsessionen seiner Probanden, in ihre Verhaltensticks, in ihre kopflastigen Grübeleien und in ihr psychisches Gerümpel, aber Erzählung, Erkenntnis oder Bedeutung bleiben so schwer fassbar wie ein nicht ganz erinnerter Traum. Private Parts ist auf Leere gebaut. Es ist verblüffend, wie fesselnd diese Leere sein kann.“

 
 

Der letzte Satz eines Rezensenten bringt es auf den Punkt: eine fesselnde Leere. Was ist wirklich geschehen? Was ist geträumt? Und wieso berühren uns diese gesammelten Vagheiten, Ungewissheiten und Leerräume dermassen, wenn wir einmal in ihrem Sog gelandet sind? Bevor man sich das Album zulegt, oder die Musik irgendwo in Datenströmen aufspürt, sollte man sich als „non-native speaker“ erst einmal mit der Übersetzung vertraut machen. Lovely Music hat mir eine freundliche Nachricht zukommen lassen, als ich um Hintergrundmaterial bat, und einen witzigen Satz angefügt, neben dem Erteilen sämtlicher Übersetzungsrechte: „The whole album is background material“.

Zusammen mit meinem Freund Deep Ludwig habe ich die erste Schallplattenseite, „The Park“, übersetzt, und wer will kann sie in den Tiefen des Blogs finden, in den denkwürdigen Monaten Januar und Februar des Jahres 2020. Am leichtesten funktioniert es, wenn wenn man unter SUCHEN einfach die beiden Worte „Private Parts“ eingibt. Ohne An- und Abführung. Die Übersetzung habe ich in 13 Teile gegliedert. Und auf 13 ganz bestimmte Tage verteilt. Den Text einmal zu lesen, macht wenig Sinn. Am besten kehrt man über Tage zu ihm zurück, und solchermassen vorbereitet, spricht nichts mehr dagegen, „The Park“ das erste Mal aufzulegen. Den Park zu betreten … nicht immer gilt: the first cut is the deepest. Der zweite kleine Ausflug des Albums heisst „The Backyard“. Martina oder ich werden darüber berichten, über kurz oder lang.

2021 7 März

Kleine Türen (2011)

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Über die Spielräume des Unglücks wird gerne debattiert

Schon die Bibel tat es filmreif mit Hiob und Co.

Der Gedanke an Erlösung spielt mit dem Zufall

Sagen die Theoretiker würfeln Zahlen mit bleichem Gewicht

Die Toten sind Legende haben Nachspiele auf Orgeln

In Hollywood in Totenbüchern sind sie Geister in der Klemme

Die wahren Helden sind Orpheus auf der Spur

Ihre Gitarrenkästen zieren die Zugluft im Underground

Die Station heisst „Angel“ und wussten Sie

Dass „Heart Of Gold“ schon Millionen mal gesungen wurde

Und lauter kleine Türen sind dann aufgegangen

Hinter denen das Nichts war aber das Nichts hatte Namen

„Sommer of Love“ „All Day Long“ „Baby Blue“

Und die Statistiker spielen die Zahlen des Nichts

Am schönsten sind die Töne die keiner hört über Gräbern

Und dann fand ich das Glück in einem silbernen Regen

 

 


 
 

 

2021 6 März

Talking on „Strøn“ with Arve Henriksen in 2011

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Michael: Auf deiner CD „Stron“ finden sich kurze Fragmente aus uralten Aufnahmen, die angereichert werden von neuen Spieideen, neuen Sounds … eine Begegnung zwischen deinem heutigen und deinem damaligen Ich?

 

Arve:  Kann man so sagen.  Als ich damit begann, mir meinen alten Kassetten und Minidiscs anzuhören, erinnerten mich meine Klänge sofort an die Gefühle, die ich damals hatte. Einige dieser Fundstücke  meines Trompetenspiels  finden sich jetzt  auf „Stron“ wieder – sie gehen bis zu meinem 16. Lebensjahr zurück. Ich hatte etliche „Begegnungen“ mit diesen Skizzen aus der Jugendzeit. Als ich in Trondheim studierte und in die norwegische Musikszene hineinwuchs, wollte ich nicht über diese Dinge reden. Das Reden über Natur bekommt leicht so einen Anstrich von „New Age“; aber als ich mich durch diese Stapel alten Materials arbeitete, wurde mir klar, wie offensichtlich ich von der Natur beeinflusst war und bin. Es war sehr interessant, sich da tiefer hinein zu graben!

 

Mit der Gruppe “Supersilent” verlässt du aber stets heimsiche Gefilde. Da öffnen sich die fremdtesten Welten, aber manchmal auch ferne Anklänge an wilde Musik aus alter Zeit …

 

Ja, Pink Floyd, Brian Eno, Miles Davis sind einige der Geister, die manchmal und meist unbewusst ins Spiel gebracht werden. Von Jon Hassell ganz zu schweigen! Natürlich haben wir Vier von Supersilent auch  viel Miles Davis gehört, aus seiner elektrischen Phase in den Siebzigern. Und diese Siebziger Jahre sind wohl die bedeutsamste musikalische Inspirationsquelle für jeden einzelnen von uns. Was für ein Jahrzehnt! Und zuweilen, wenn unsere Musik etwas symphonisch wird, dann kann ich mir vorstellen: „Emerson, Lake and Palmer“ sind nicht so weit entfernt! Manchmal sehe ich Verbindungen, aber da wird nie etwas bewusst zitiert: ich kann bestimmte Assoziationen auch nicht dingfest machen an einem  bestimmten Stück, aber ich kann die besonderen Noten fühlen und spüren, die eine andere  Ära bei Supersilent einschleust …

 

Bist du ein visueller Typ, bei dem leicht Bilder im Kopf entstehen? 

 

Ich bekomme beim Spielen nicht oft Bilder in den  Kopf. Aber manchmal stellen sich flüchtige Ahnungen  bestimmter Gefühle ein, oder es kann geschehen, daß bestimmte Farben sehr lebendig werden.  Ab und zu fühlte ich mich dadurch  in die Räume meiner Kindheit versetzt, an die Westküste Norwegens – da gibt es tausend Meter hohe Berge auf jeder Seite eines sehr engen Tales, und Gletscher, die von den Seiten herabhängen;  im  Sommer kann es dort auch sehr warm werden, und das Licht erhält eine ganz spezielle Tönung; wenn ich Solokonzerte gebe, kann ich solche Bilder ab und zu ausmalen, die meist mit einem melancholischen und nostalgischen Flair einhergehen. Wenn ich diese Momente erlebe eines Zurückgehens-in-der-Zeit, und alte Gerüche  oder Atmosphären wieder auftauchen, dann bin ich immer wieder erstaunt über das, was Musik erreichen kann.

 

2021 4 März

My favourite albums of 2021 (so far)

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1. Nick Cave & Warren Ellis: Carnage / 2. Nik Bärtsch: Entendre / 3. Valerie June: The Moon And Stars: Prescriptions For Dreamers / 4. Fire!: Defeat / 5. Trio Tapestry: Garden of Expression / 6.  Marianne Faithfull with Warren Ellis: She Walks in Beauty / 7. Arab Strap: As Days Get Dark * / 8. James Yorkston and The Second Hand Orchestra: The Wide, Wide River / 9. Mapstation: My Frequencies, When We / 10. Tindersticks: Distractions / 11. Kari Ikonen: Impressions, Improvisations & Compositions / 12. Sleaford Mods: Spare Ribs

 

* The slick pair of motherfuckers have littered the album with these momentous touches, as though, in mapping the contours of desire they’ve inadvertently resurrected the dread spirit of a yuppie ad man’s idea of desire, all lurid neon and sprayed-on sweat. And they’re totally in earnest – it’s often like listening to Arab Strap reimagined as a mid-80s Ridley Scott thriller – you can hear it in the sax and strings that haunt the protagonist of „Kebabylon“ on his nightly investigations, in the goth rock opera that churns behind „Here Comes Comus!“ and the Berlin-period disco architecture of „Compersion Pt. 1“.

(Colin  Band on Arab Strap)

 

Erinnerungen sind gerne trügerisch in Details, und in anderen, noch flüchtigeren Fundstücken einer fernen Zeit, extrem genau.“ (Ergänzung: auf keinen Fall sollte dieser Text von jemandem gelesen werden, dem er bekannt vorkommt.) 

 

1978 war eine Zeit, in der Kakteen interessante Schatten warfen in meiner leergeräumten Wohnung. Sie hatte gerade so viel mitgenommen, dass der Begriff Leere eine neue Bedeutung in meinem Leben bekam. Die erste Frau, die danach über Nacht blieb, hiess Julia und erzählte von ihrem Freund, einem Jazzdrummer, der Angst hatte, sein Augenlicht zu verlieren, weil seltsame Glaskörper durch seine Pupillen schwammen. Am Morgen nach der einzigen Nacht mit Julia klingelte der Postbote einmal, und ich mahm das neue Album von Brian Eno in Empfang, „Music For Films“. Eine Anzeige von Polydor in der „Sounds“ hatte die Langspielplatte beworben mit der Überschrift „Der Mann im Hintergrund“. Ich legte die Musik auf, und die Leere in meiner Wohnung im 7. Stock gewann eine betörende Qualität. Julia mochte die Musik auch und verliess meine Wohnung und mein Leben.

 

1980 fuhr ich mit einem Freund öfter ins „Act“ nach Weissenohe (oder so ähnlich), das war ein Wallfahrtsort mitten in der Fränkischen Schweiz, wo mal en passant Ultravox spielten, Kevin Coyne oder Robert Fripp´s The League of Gentlemen. Fripp liess ich mir nicht entgehen. Auf dem Hinweg zu der umgebauten Scheune im Hinterland hörten wir einen Meilenstein, von dem Easy Ed und ich damals schon wussten, dass es ein Meilenstein werden würde, „Colossal Youth“ von den Young Marble Giants. Robert Fripp war gut gelaunt, und seine Wave-Kapelle rockte den alten Kuhstall. Als ein Hörer Robert Fripp bat, doch etwas aus sich herauszugehen und den Schemel zu verlassen, auf dem er sass, entgegnete Fripp: – I have to sit. I´m only a limited guitar player. Süße Duftschwaden füllten den Raum, nicht lange danach machte die Polizei diesen dezenten Drogenumschlagplatz dicht.

 

1982 sah ich Herrn Fripp wieder, diesmal in dem alten Nürnberger Stadion, mit 30.000 Festivalbesuchern an meiner Seite, mit Anna, und an einem verdammt heissen Sommertag. Mein kleines Woodstock. Meine Geliebte hatte Lust, das Wochenende in einen französischen Film zu verwandeln. Wir hörten Fripps revitalisierte Ausgabe von King Crimson, mit Adrian Belew, Tony Levin und Bill Bruford. Obwohl der Fripp-Faktor auf dem zuvor erschienen, fantastischen Album „Discipline“ hoch war, brachte Belew auch etwas vom fiebrigen Geist der Talking Heads mit ins Spiel. Spät am Abend Neil Young und Crazy Horse mit Nils Lofgfen, bei „Cortez the Killer“ reckten wir unsere Feuer in den Himmel. Etwas später  ging der Blick von unserm Hotelfenster auf den Rathausplatz hinaus, und mein Name war Jean Pierre Leaud. Der Blick war weniger Paris und mehr Rüdiger Vogler in dem Wenders-Film, in dem der gelockte Hippie auf die Altstadt von Husum schaute und sich die Troggs auf seinem Plattenspieler drehten. Auf der Rückreise lief Benzin unbemerkt aus dem Tank, und der grellgrüne Hippie-VW schleuderte im Kreis. Drei Monate später waren wir Geschichte.

 

 

like a fool I’m happy about the return of a favorite melody

rough noises in soft singsong

parking lots for kissing and strawberry fields

oh this (please!) never ending 12-minute song

here’s a nearly forgotten echo chamber of the Byrds in 1967

well-hung constantly searching (relaxed as a hammock)

hiding hiding in the present like a home! home! murmuring

strangely foreign body

drawing its friction and fire

from an oh so lovely & abysmal once upon a time  

and the hot-hearted somewhere somewhere

 

2021 1 März

Stereolab: Electrically Possessed (Switched On, Vol. 4)

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The fourth volume in the endlessly innovative group’s long-running series reminds us that they often dropped their best work away from their full-lengths.“ – Robert Ham

„Was man hier hört, ist eine Band, die ihren Sound nie gefunden hat, weil sie nie danach suchte. Stereolab bewegen sich nicht durch die Musik. Die Musik bewegt sich durch Stereolab.“ – Lars-Thorge Oje

 

Durch ungeklärte Umstände bin ich in letzter Zeit, nach langer Pause, mal wieder in das Schaffen von Stereolab eingetaucht. Ende der Neunziger hatte bzw. kannte ich ein paar Alben wie die Doppel-CD-Kollektion Aluminium Tunes oder das poppige Sci-Fi-Lounge-Elektropop-Album Dots and Loops mit seinen heiteren Sixties-Melodien. Irgendwie fand ich aber eben diese etwas zu lockerflockige Singerei mit Hang zum nostalgischen „Easy Listening“-Gedudel aber auch schnell etwas nervig, und so habe ich der Band damals stets die angemessene Aufmerksamkeit verwehrt.

 

Ausgelöst durch Retrospektivberichte und die Reihe von Wiederveröffentlichungen der Stereolab-Alben in exzellenten 2-CD- bzw. 3-LP-Ausgaben („Expanded Editions“ mit jeweils unterschiedlichem Zusatzmaterial) habe ich über die letzten Jahre so nach und nach die Band erst langsam so richtig schätzen gelernt. Ende der Achtziger in London zusammengekommen, u.a. mit der Pariserin Laetitia Sadier, die mit ihrer Stimme für den französischen Touch (manche/r fühlte sich an Françoise Hardy erinnert) bei Stereolab verantwortlich zeichnet, erschienen ab 1992 eine Reihe durchweg spannender, empfehlenswerter Alben, von denen jedes einzelne eigenen Charakter, andere stilistische Schwerpunkte hat – und doch klingen Stereolab ganz oft etwas aus der Zeit gefallen und letztlich in ihrer musikalischen Präsenz wunderbar idiosynkratisch, unter anderem durch den Einsatz analoger Synthesizer. Dieses Aus-der-Zeit-Gefallensein macht sie auch im Jahr 2021 noch immer genau so hörenswert wie damals in den Neunzigern – bzw. möchte ich wohl eher sagen: Jetzt erst recht treten die singulären und zeitlosen Qualitäten von Stereolab umso stärker hervor, unverstellt von den postmodernen Moden jener Jahre.

 

Eine echte Entdeckung war der Kauf ihres zweiten Albums Transient Random-Noise Bursts with Announcements aus dem Jahr 1993 (der Titel könnte auch zum Album der Flaming Lips aus jenem Jahr passen), wobei die 2-CD-Edition das 60-minütige Originalalbum um eine Reihe überzeugenden Bonusmaterials aus jener Zeit bereichert. Höhepunkt ist wohl die 18 Minuten lange, hypnotische Krautrock-Nummer „Jenny Ondioline“, aber das ganze Album fasziniert mit schönen Kreuzungen aus Velvet-Underground-Energie, Neu!-Spleen und Popsongs (man denkt auch an die Warp-Records-Kolleg/innen von Broadcast). Heraushören kann man, dass Stereolab damals – wie ungezählte andere Bands auch – von My Bloody Valentine und dem „Shoegaze“-Stil beeinflusst waren, doch mit dem französischen Pop-Einfluss und den gesellschaftspolitisch aufgeladenen oder kapitalismuskritischen Texten durch Sängerin Laetitia Sadier fanden Stereolab schon da ihre ganz eigene Nische – neben ihr sang hier erstmals auch die australische Gitarristin Mary Hansen, die allerdings 2002 nach sechs gemeinsamen Alben im Alter von 36 Jahren bei einem Fahrradunfall ums Leben kam, was die Banddynamik einer wichtigen Gegenspannung beraubte.

 

Es folgten 1994 und 1996 die Meisterstücke Mars Audiac Quintet und Emperor Tomato Ketchup,  sowie 1997 das elektronischere Dots and Loops, auf dem der Popsong-Einfluss langsam deutlicher zutage trat, um Bossa Nova und „Swinging ’60s“ bereichert, aber wiederum vom Chicago-Postrock jener Jahre infiziert (John McEntire war gelegentlich mit dabei). An und an tauchen auch jazzige und psychedelische Passagen auf. Dass diese Veröffentlichungen der Neunzigerjahre durchweg famos sind (auch aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit allesamt hörenswert), führt(e) ein wenig dazu, dass oftmals die Alben ab 1999 als weniger interessant oder als Stagnation auf hohem Niveau abgetan werden, Cobra and Phases Group Play Voltage in the Milky Night etwa, wieder ein Titel, den auch die Flaming Lips gewählt haben könnten, dann Sound-Dust (eröffnet von dem minimalistischen Black Ants in Sound-Dust“), Jim O’Rourke produzierte mit (in jeden Jahren war er ja auch mit Wilco und Sonic Youth unterwegs) und Margarine Eclipse, und noch drei weitere Alben folgten bis 2010. Danach wurde es ruhig um die Gruppe. Man hatte sich nichts mehr zu sagen und die Freude am gemeinsamen Musikmachen verloren.

 

Aus dieser produktiven Zeit, im Wesentlichen 1998 bis 2008, stammen nun die gesammelten „Non-Album-Tracks“ der neuen 2-CD- bzw. 3-LP-Veröffentlichung Electrically Possessed. Stereolab haben bereits in den Neunzigern begonnen, ihre zahllosen Stücke, die sie jenseits der Alben veröffentlichen, auf vier „Switched On“-CDs zusammenzustellen (1992, 1995, 1998). Electrically Possessed knüpft nun dort an mit zwei weiteren CDs. Hier finden sich vor allem Stücke von limitierten Tour-Singles, EPs und Kompilationen, unveröffentlichte Tracks und auch zwei Outtakes, die bei den bisherigen „Expanded Editions“ offenbar vergessen wurden. Ich weiß so gut wie nichts über die Entstehungshintergründe – außer den sorgfältig zusammengetragenen Fakten, die sich hinter den CDs verstecken, etwa in welcher Zahl die limitierten Vinyl- und CD-Editionen einst erschienen:

Calimero“ was originally released July 1999 via Duophonic Super 45s „Caliméro / Cache Cache“. Catalogue number DS45-25. A collaborative 7″ release between Brigitte Fontaine and Stereolab. The B side was Cache Cache by Monade. A total of 4100 vinyl copies were pressed [1800 on white vinyl and 2300 on black vinyl], there was also a CD edition of 7076 copies.

Brigitte Fontaine ist übrigens eine 1939 geborene französische Avantgarde-Sängerin, Roman- und Theaterautorin, die auch schon mit Sonic Youth, Georges Moustaki, Grace Jones, dem Gotan Project und dem Art Ensemble of Chicago zusammengearbeitet hat.

 

Obwohl die 25 Stücke aus unterschiedlichsten Quellen stammen, fügt sich das ganze Projekt doch zu einer sympathischen Auslese, die sich wunderbar kurzweilig durchhören lässt. Einiges kommt, ohne unfertig zu wirken, spontaner und weniger durchgetüftelt daher als die elaborierten Alben von Stereolab. Da bricht gelegentlich ein Stück auch mal im richtigen Moment einfach ab oder wirkt – siehe „Free Witch And No Bra Queen“, „Jump Drive Shut-Out“ oder „Solar Throw-Away“ – frech zusammengestückelt aus verschiedenen Teilen. Daher stört auch nicht im geringsten, dass die Auswahl einer eigenartig achronologischen Anordnung folgt, vielmehr passt das sehr gut. Nur die sieben im Januar 2000 aufgenommenen Tracks des limitierten Minialbums First of the Microbe Hunters sind en suite geblieben, was anfangs der ersten CD einige Gelegenheitshörer auf eine falsche Fährte locken könnte. Quer durch die Kollektion gibt es heiter Krautiges wie „Heavy Denim Loop Pt 2“ mit simplem Drumloop und röhrendem Synth oder das neuneinhalb Minuten lange, fast minimalistisch-funkige Instrumental „Outer Bonglia“ mit Marimba-Trance, dann flirrend-versponnenene Popsongs wie „Variation One“ für einen Dokumentarfilm über Robert Moog (dessen Instrumente Stereolab hörbar gerne hatten) oder „Dimension M2“ für eine Disco-Compilation (Giorgio Moroder schaut kurz zur Tür herein), eine mit John „Tortoise“ McEntire in Chicago entstandene achtminütige Mini-Suite („I Feel The Air (Of Another Planet)“) mit Klangspielereien oder natürlich auch mal „klassische“ Stereolab-Nummern wie „The Super-It“ oder „Household Names“

 

Electrically Possessed kann man als Einstieg in der Stereolab-Kosmos sogar noch mehr empfehlen als schon die vorhergehende Kollektion der Reihe, Aluminum Tunes. Wer sich davon wegtreiben lässt, wird dann sicherlich die „odds and ends“ dieser Auswahl in Richtung der regulären Alben der Band weiterverfolgen wollen, egal ob Stereolab noch einmal etwas veröffentlichen werden oder es mit diesem lange erwarteten Album bewenden lassen.

 

 

2021 1 März

„71/72 – Die Saison der Träumer“

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Mein Verein ist damals abgestiegen. 71/72. Nicht gut. Meine Kindheit ging einige Male zuende, das jahrelange Verschwinden des BVB in der Zweitklassigkeit war nur der erste kleine Blues-Akkord. Endgültig wurde das Kapitel meiner jungen Jahre, und manch naiv hochfahrender Träume, zugeklappt, an dem Tag, als John Lennon erschossen wurde. Zu Beginn der nachfolgenden Dekade. Zwischen den Polen der Rockmusik und Fussball spielte sich einiges ab, wenn man neben Kohlenhalden aufwuchs. Sichtbar war der damalige Zusammenprall einer alten, konservativen, reaktionären Welt und einer neuen Generation natürlich auch auf, und rund um den grünen Rasen. Eine Zeit, in der das politische Klima, gelinde gesagt, aufgeheizt war. Wer meint, das Damals ganz gut im Gedächtnis parat zu haben, wird erstaunt sein, welche Räume dieses Buch von Bernd-M. Beyer, über unsere abgespeicherten Erinnerungen hinaus, öffnet. Und für den Rest ist es einfach eine spannende, hervorragend recherchierte, Zeitreise. A propos 71/72, ich war in der Untersekunda des Max Planck-Gymnasiums und kaufte meine ersten ECM-Platten. Manche Dinge begleiten einen halt ein Leben lang. 

 

Wer sind die Träumer in dem Buch?

 

Es gibt einige Träumer in dem Buch, manche sind auch Alpträumer. Aber hauptsächlich sind damit Stan Libuda und Rio Reiser gemeint, die beiden wichtigsten Protagonisten in „71/72“.Libuda träumt vom Idyll einer vertrauten Umgebung: auf dem Platz, in der Familie, in der Nachbarschaft. In der Saison 71/72 träumt er davon, dass sein Fehltritt, die Annahme von Bestechungsgeldern, nicht auffliegt und dieses Idyll zerstört. Rio Reiser ist eine Art Antipode. Er flieht aus der Provinz ins angesagte Berlin, rebelliert gegen das Spießertum, träumt von einer besseren Gesellschaft und davon, dass er sein Schwulsein ausleben kann. Die Jahre 1971 und 1972 bringen seinen Durchbruch als Politrock-Musiker und seine Träume zum Fliegen.

 

Woher und wann kam die Idee zu dem Projekt?

 

Ich habe selbst intensive Erinnerungen an diese Zeit, es waren die Jahre, als ich zu studieren begann und selbst politisiert wurde. Fußball geriet damals für mich in den Hintergrund – ausgerechnet in der spielerisch wohl besten Phase des deutschen Fußballs. Inzwischen ist mir natürlich klar, was ich damals verpasst habe. Und so habe ich begonnen, dieser Zeit genauer nachzuspüren. Erst einmal für mich und für meine Erinnerungen. Als ich mich dann entschloss, ein Buchprojekt daraus zu machen, war für mich klar: Das geht nur, wenn es sich nicht auf Fußball beschränkt, sondern all die wilden Sachen, die damals noch so passierten, mit in den Blick nimmt.

 

Wie lange hat die Arbeit an „71/72“ gedauert?

 

Ich habe einige Wochen in Zeitungs- und anderen Archiven verbracht. Aber die Recherchen beispielsweise für meine Biografien über Helmut Schön oder Walther Bensemann waren deutlich aufwändiger. Bei „71/72“ ging es eher darum, den üppig vorhandenen Stoff in eine sinnvolle und lesbare Form zu bringen. Ich habe den Text mehrfach umgearbeitet, um eine möglichst stringente Erzählung daraus zu machen.

 

Hatten Sie als Quellen auch direkte Gespräche?

 

Ganz wenige, und zwar ganz bewusst. Ich wollte keine gefilterten oder geglätteten Erinnerungen, die schon x-mal heruntererzählt worden sind und sich bei den jeweiligen Erzählern verfestigt haben. Das alles ist ja nun 50 Jahre her, da geht im Detail manches durcheinander oder ist schlicht vergessen. Ich habe mich also, soweit möglich, an zeitgenössische Quellen gehalten, insbesondere Zeitungen und, falls verfügbar, auch an damalige Fernsehsendungen. Mein Glück war, dass die Spieler seinerzeit noch frei von der Leber sprachen, und zwar, wie es für jene Generation üblich war, mit ziemlich großer Klappe und direkt in die Notizblöcke der Reporter. Das verleiht den zeitgenössischen Äußerungen eine große Authentizität: Uli Hoeneß drohte unverhohlen und öffentlich damit, die Bayern zu verlassen, wenn er nicht gefälligst mehr Geld kriegte. Franz Beckenbauer erklärte lauthals, Bundeskanzler Willy Brandt sei ein nationales Unglück. Und ein Hannoveraner Spieler erzählt der Bild, dass er trotz der damals zeittypischen „Sexwelle“ nur am Wochenende Geschlechtsverkehr habe. Ehrlicher geht’s wohl nicht.

 

War diese Gemenge- und Ereignislage in dem Jahr einmalig?

 

Einmalig ist ein schwieriger Begriff. Es war natürlich einiges los, im Fußball wie in der Gesellschaft, und vieles davon war sozusagen historisch. Aber was ich bemerkenswert fand, war der zeitliche Kontext: Viele dieser spannenden Entwicklungen spielten sich genau zwischen Sommer 71 und Sommer 72 ab, und zwar so, dass sie sich langsam entwickelten und im Mai 72 kulminierten. Fußballerisch gab es diese großartige Europameisterschaft 1972 mit dem Wembley- Spiel, gab es Gerd Müllers Torrekord und gab es die jungen Schalker Himmelsstürmer, die sich aufmachten, die Dominanz der Bayern und Gladbacher zu brechen. Diese tolle Entwicklung wird konterkariert mit der Aufklärung des Bundesligaskandals, die sich durch die ganze Saison zog und vielen Fans die Freude am Fußball verleidete. Politisch gab es den Versuch von CDU/CSU, Bundeskanzler Brandt mit seiner Ostpolitik als Verräter an den deutschen Interessen zu brandmarken und ihn schließlich, Ende April 1972, per Misstrauensvotum zu stürzen. Und es gab den Plan der RAF, das Land in einen Bürgerkrieg zu bomben, der mit der sogenannten Maioffensive im Frühjahr 72 seinen blutigen Höhepunkt und zugleich sein Scheitern erlebte. Diese zeitliche Koinzidenz mehrerer dramatischer und wichtiger Ereignisse ist vielleicht wirklich einmalig.

 

Hat das Arbeiten an dem Thema für Sie selbst einen neuen Erkenntnisgewinn gebracht?

 

Über die Taten der RAF, das Ringen um die Ostpolitik und Netzers Vorstöße aus der Tiefe des Raumes wusste ich natürlich einiges. Was mir so nicht klar war: wie tief die Gräben damals in der Gesellschaft waren. Willy Brandt wurde von CDU/CSU in einer Heftigkeit und mit einem Vokabular angegriffen, wie man es heute von der AfD erwarten würde. Und in der Gesellschaft war schon damals viel Hass vorhanden, es gab nur keine digitalen sozialen Plattformen, die das vervielfältigten. Aber es gab Hass- und Drohbriefe massenhaft, auch im Fußball: gegen Spieler wegen ihrer langen Haare, gegen Canellas, weil er den Skandal aufgedeckt hatte, gegen Kindermann, der die bestochenen Spieler anklagte und so weiter. Schließlich war es bestürzend zu sehen, wie sich auch im Fußball damals Nazis völlig ungezwungen und unangefochten bewegen konnten. Der vormalige SS-Mann Rudi Gramlich behinderte in seiner Funktion als „Bundesligaobmann“ – eine Art früher DFL-Chef – die Aufklärung des Skandals massiv. Karl Lamker, der mit Arminia Bielefeld einen der Hauptsünder anwaltlich verteidigte, war nicht nur ein überzeugtes Mitglied der NSDAP gewesen, sondern inzwischen wieder bei den alten Kameraden gelandet, nämlich im Bundesvorstand der NPD. Es gibt weitere Beispiele. Für mich ist unfassbar, dass dies damals überhaupt nicht problematisiert, nicht einmal für erwähnenswert befunden wurde.

 

Haben Sie schon ein neues Buchprojekt in Arbeit?

 

In den nächsten beiden Jahren widme ich mich vor allem der Kampagne „Boycott Qatar 2022“, die wir vor einigen Monaten ins Leben gerufen haben. Es geht darum, dass Fans und andere Fußball-Interessierte nicht tatenlos zusehen, wie die FIFA diesen wunderbaren Wettbewerb Fußball-Weltmeisterschaft an einen autokratisch regierten Staat ohne Fußballkultur, ohne Respekt vor den Menschenrechten verschachert hat. Das einzige Argument ist das viele Geld, das in Katar angehäuft ist. Zu dieser Kampagne wird noch in diesem Frühjahr ein von Dietrich Schulze- Marmeling und mir herausgegebener Band in der Reihe „Werkstatt aktuell“ erscheinen.

 

 

Dieser Blog wird im April zehn Jahre alt. Und das erste Jahr 2011 wird in  ausgewählten Teilen ins Jahr 2021 transportiert. Warum? Weil es viele Texte nicht verdient haben, „hinter dem Knick“ zu verschwinden, auf ewig. Weil sie durch subtiles Remixing (das Verändern von Nuancen, das Hinzufügen von minimalen Ergänzungen) aus der reinen Geschichtlichkeit in spannende Gegenwart verwandelt werden können. So habe ich es heute morgen mit meinem 2011er Text zu „Plight and Premonition“ gemacht. Dieser Rückgriff liegt auch nahe, wenn zwei Texte aufeinanderstossen mit visuellen Elementen, was in der Regel stört, wie in den letzten Tagen, wenn Bilder vom Licht nach Sonnenuntergang mit dem Cover der französischen Kriminalserie „Spiral“ kollidieren.  Niemand  braucht darauf Rücksicht zu nehmen – schwuppdiwupp werden ausgewählte Zwischenspiele aus dem Jahre 2011 auftauchen. Oder andere Interludien. Das ist auch eine Arbeit des Redigierens. Manche alte Texte haben im Heute nichts verloren, weil sie einfach nicht gut genug sind. (Fotos von damals sollten, ausser in besonderen Ausnahmen, aussen vor gelassen werden. Keiner muss z.B. an alte Albencover erinnert werden.) Jochen kann „sein 2011“ nach Lust und Laune durchforsten, wenn er will, ich ebenso, und dabei Qualitätssicherung betreiben, durch Löschung, oder Verwandlung / Transport. Die Begegnung mit einem früheren Ich ist zuweilen anregend. Ich denke, wir haben nicht das Recht, so mit den Texten des Dritten im damaligen Bunde (2011), Dirk Haberkorn, zu verfahren, es sei denn, er gäbe die Genehmigung. So verwandelt sich der Blog der Manafonisten mit der Zeit, und wenig Aufwand, in ein Perpetuum Mobile, in dem ferne und nahe Zeiten einen munteren luftigen Austausch betreiben. Lasst uns, bei diesem Spiel, dieses Jahr, als Fest des Zehnjährigen, im Jahr 2011 verbleiben. Später rücken dann andere Jahre, andere Mitspieler nach.

 


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