Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Ab und zu erscheinen solche Alben wie aus dem Nichts. Vielleicht werden im Vorfeld bestimmte Schubladen bedient oder geöffnet: „Neue Musik“, Elektroakustische Musik, „imaginary soundtracks“ – und man macht sich ein Bild von dem, was auf einen zukommen könnte, bevor man einen Klang gehört hat. Oder man hört ein paar kurze Sequenzen und macht sich ein weiteres Bild von dem, was man da gerade auffängt, bevor man sich auf die Erfahrung des Lauschens eingelassen hat. Das „Reinhören“ ist bloss eine Umschreibung für rasche Einordnungen und reduzierte sinnliche Erfahrung. Kurz reinhören  geht hier gar nicht – Verweilen ist das Zauberwort.

Am Ende der CD (im November wird auch die Vinyl-Ausgabe erscheinen) treibt sich, in der zehnten Komposition, ein gewisser Loplop im Wald herum. Kennen sie Loplop? Ich bislang nicht. Auch nicht jene Bilder von Max Ernst, in denen er dunkle Wälder auf die Leinwand bannte, die menschliche Wesen besser nicht aufsuchen sollten. Allein dem magischen Vogel Loplop gelangen diese Streifzüge.

Und der Auftakt dieser zehn Exkursionen in rares, reales, surreales Terrain trägt den Titel „This Town Will Burn Before Dawn“. Als das Stück erste Gestalten  annahm, schwebte dem Komponisten, als dessen Instrumente „electronics & sampling“ gelistet sind, eine pulsierende, leuchtende Stadt voller Erfindungen vor, die von Barbaren niedergebrannt wird, ohne aber letzte Spuren der Hoffnung zu vernichten

Und dann das: man hört ja ab und zu etwas von Kometen, die sich unserem Planeten nähern. Wie ich aus einer kurzen Werknotiz erfahre, näherte sich vor Jahren ein Asteroid der Erde, der kurz vor dem Eintritt in unseren Orbit Halt machte, und in die umgekehrte Richtung davonzog. Selbst Wissenschaftler kamen zu keiner rundum einleuchtenden Erklärung, und so wurde das Internet überflutet mit Theorien, die natürlich auch extraterrestrisches Leben ins Spiel brachten. „Oumuamua, Space Wanderings“ ist der treffliche Name der Komposition eines Werkes, das sich thematisch anscheinend keinerlei Grenzen setzt.

Wir begegnen, wenn ich einzelne Titel als lockeren Leitfaden hernehme, unter anderem einer „kalten Front“, dem „Brief eines Verschwundenen“, einem Szenario „nach dem Sturm“. Der Autor lässt an anderer Stelle seiner Trauerarbeit angsichts des Todes eines Freundes so freien wie fokussierten Lauf. Eines scheint all diese asketisch angelegten Stücke zu durchdringen: das Gespür für Wandlungen, für Spuren von Licht in finstersten Zonen. Sowas kann leicht danebengehen, mit mollgetränkten Texturen, auffahrendem Pathos, schlicht gestrickter „New Age“-Requisite, und angestrengtem Grosskunst-Brimborium.

In keine dieser Fallen tappt Evgueni Alperine auf „Theory Of Becoming“, einem Album, das seinen fortlaufend überraschenden Kontrastierungen zum Trotz, jedem einzelnen Moment Raum und Tiefe gibt. Verzettelung ist ein Fremdwort für ein Werk, das sich, durchaus verführerisch Maske um Maske enthüllt, als dunkle Schwingung eines Kinderliedes, als verkappter Ohrwurm, als verlorene Partitur der Spätromantik, als Jules Verne-erprobte Weltraumfahrt, als Chronist realen Schreckens. „Theory of Becoming“ ist eine Art vollkommen klischeebefreiter Meditationsmusik. Und spannend geht es obendrein zu. Selbst da, wo die Klänge in Momenten denselbigen rauben, bleiben sie eine Schule des Atmens.

Es könnte ein neues Lieblingsalbum werden für Hörer, die die ureigenen Areale und Versunkenheiten von Steve Tibbetts „Life Of“ oder Arvo Pärts „Tabula Rasa“ schätzen, oder das Sololbum von Mark Hollis, wohl auch für solche, die gerne mal zu dem einen oder anderen Klassiker aus den Fundgruben von „Made To Measure“ und „Obscure Records“ zurückkehren, diesen historischen Labels und Spielwiesen für Undefiniertes von Marc Hollander und Brian Eno. Und sowieso trägt das Teil die Signatur „produced by Manfred Eicher“. Als etwas stillere Präsenz war gewiss auch der seltsame Vogel Loplop zugegen, in den Pariser Studios. Und der kennt die schnellen Wege, raus aus den Schutzzonen behüteter Hochkultur, und, wie aus dem Nichts, hinein in all unsere Wildnisse!

 

Seit ich im Dezember 1982 meinen ersten luziden Traum im Bayerischen Wald hatte, einen tiefgreifenden shock of recognition, der damals meinen Abflug nach London beschleunigte, habe ich etliche fantastische Klarträume gehabt (für die ich aber fleissig üben musste), doch das, was heute Nacht, nach meiner Liebesernüchterung (Traumtext in den Kommentaren zu Uschis allerfeinster Analyse von „Love Story“), in den Träumen passierte, war der reine schöne Wahnsinn.

 

[Kurzer Einwurf: luzide Träume (=Klarträume) sind Träume, in denen der Träumende erkennt, dass er träumt, und dann das Geschehen unter Einsatz seiner gesamten kognitiven und emotionalen Ressourcen lenken kann. Man kann dabei die abenteuerlichsten Dinge bei vollem Wachbewusstsein herbeiführen, existenzielle Probleme angehen etc etc, wohl wissend, dass der eigene Körper im REM-Schlaf ruht. Wissenschaftlich erforscht. A virtual reality  in your own mind. Conscious mond, sleeping brain.]

 

 

 

 

Nachdem mich im Traum meine Schöne verlassen hatte (normaler Traum, nichts Luzides), schlief ich nach einiger Zeit wieder ein, mit ein paar Autosuggestionen, dass ich entweder im nöchsten Traum erkennen möge, dass ich träume, oder bei vollem Bewusstsein – tibetan yoga-style – ins Traumgeschehen gleiten wolle (schwerer als es klingt), und es klappte. Ersteres.

Ich lasse die Inhalte aussen vor. Das Einmalige war: ich war bis zum frühen Morgen fast durchweg luzid, wurde öfter in meinen Schlafkörper reingezogen (kurzes Erwachen), um dann wieder in das nächste Szenario zu gelangen, stets  bei vollem Bewusstsein, im Traum zu sein. Ich hatte zwar zwei Tage zuvor abends einen Serotonin-Booster genommen (5 HTP Griffonia Simplicifolia) und vor der letzten Traumphase ein Nootropicum (Huperzine A), das intensive Träume und Luzidität befeuern kann (im Zusammenspiel mit Autosuggestionen, MILD- und WILD-Techniken), aber das war alles 24 Stunden zuvor verstoffwechselt worden. Eine solche Luzidität am laufenden Band hatte ich noch nie erlebt. Looking forward!

 

 

Ein wenig verrückt bin ich wohl, mich von meiner Box „The Beatles In Mono“ zu trennen, es sind ja keine Geldsorgen im Spiel, warum also machte ich das Angebot: weil ich gerne mein Glück teile, weil ich in den letzten Jahren zu neunzig Prozent die Surround-Mixe von Abbey Road, Sgt. Pepper, und „The White Album“ hörte, gebannt ohne Ende, weil ich mein neues IPhone 12 mit air pods pro gegenfinanziere, weil es eine Übung im Loslassen ist, und, last, but not least, weil der Käufer ein „Rastafari at heart“ ist. Sonst würde ich wohl noch einen Rückzieher gemacht haben. Vier Stunden lange suchte ich „A Hard  Day‘s Night“, das war der casus cnactus, daran hing alles, und, meine Fresse, klingt die geil in mono.

 

2022 29 Okt.

Ein Joint mit Joni

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„We used to get our kicks reading surfing magazines / Wake up on the morning and the waves are clean / Standing on the headland taking in the scene / Just like they do it … In surfing magazines“

(The Go-Betweens)

 

Nein, Matala ist kein Raum für Surfer. Ich trank in einem bizarren Traum Kaffee mit Joni Mitchell, die hier ihren Song „Carey“ schrieb, zumindest flogen ihr ein paar Zeilen zu, mit dem Wind aus Afrika. Ein Joint machte später die Runde, der von Surfbrett zu Surfbrett gereicht wurde, auf windstilller See, und ehe ich mit zarten fünfzehn Lenzen (so alt war ich wohl in der Traumzeit), ihr ein paar Fragen über das Leben stellen konnte (wohl recht absurde, stoned, wie ich war),  wachte ich mit Meersalzgeschmack im Mund auf, und begrub den Traum von der grossen Welle einmal mehr. Immerhin, Joni einmal so blutjung und hautnah zu erleben, das war es wert. „Blue“ ist eine Jahrhundertplatte.

Wieviele Surfer kenne ich eigentlich? Klaus S. aus meiner alten Schulklasse spielte nicht nur am besten Akustikgitarre, er ist, glaube ich, auch öfter zur holländischen Küste zum Surfen gefahren. Aber wie weit war Scheweningen von Santa Monica entfernt, über die Wellen sprechen wir erst gar nicht. Es waren eher symbolische Akte, aber überall lief die gleiche Musik, Underground und Overground. Mit ein paar folks aus meiner Traumgruppe teile ich die Faszination an der Idee des Surfens: zu gerne würden wir eine kleine Zeitreise in die späten Sechziger antreten, und in einschlägigen kalifornischen Surfmekkas ein paar alternative Lebensläufe am Rande sechs Fuss hoher Brecher erproben, inklusive Wipeout. Und hawaianischem Brudaar! (Dreimal bin ich in luziden Träumen gesurft, himmlisch!)

Tja, „Wipeout“, ich bin etwas schlauer geworfen. Ich habe mir vor Jahren  ein Buch aus dem Mare-Verlag gegriffen, „Surferboy“, und das endet mit einem seitenlangen Glossar voller Fachausdrücke der Surfersprache. Hab ich sie noch alle? Aber ja, das war die Motivation, lass dir mal so eine kalifornische Jugend erzählen, in der die „big waves“ nur so krachen. Surfin‘ USA. So the wind won’t blow it all away. (Und hilfreich für unsere nächtlichen Exkursionen im Land der Klarträume!)

Interessanterweise bin ich vor Jahren nicht nur beim Surfen gelandet, sondern auch beim Wrestling, so ungefähr die uninteressanteste Sportart, die ich mir vorstellen kann. Aber John Darnielle von den Mountain Goats ist in seiner Kindheit vom Wrestling-Virus infiziert worden, und in seinem in jeder Hinsicht umwerfenden Konzeptalbum „Beat The Champ“ verwandelte er diese bizarre Welt in einen hinreissenden Songreigen, in dem das Abseitige seine menschlich-allzumenschliche Strahlkraft freilegt. Texte wie geschliffenes Glas, Verwundbarkeit, trostlose Motels, Blut, und die Einsamkeit von Kindern in der Vorstadt. Aber ich schweife ab.

Amerikanische Kids träumten vom Surfen, weil sie genau in dem Biotop lebten, wo Dick Dale den Ur-Sound des Surfens prägte, wo die Beach Boys die nächste hippieske Welle ins Rollen brachten – selbst introvertierte Träumer wie Jackson Browne machten sich bei diversen „Roadtrips“ auf die Suche nach „moments of excellence“ – „Surfari“ war das Zauberwort. „Too late for the sky?“ Na ja, irgendwann schon.

Es gab damals eine Serie, die wirklich Kult war, und nie zu uns nach Europa rüberschwappte: „The Endless Summer“, zwei „Helden“ suchten nach der perfekten Welle, überall auf der Welt. Und sie fanden diese Riesendinger auch. In diese Welt taucht das alter ego des Schriftstellers Kevin McAleer ein. Am Anfang ist man ein „Kook“, ein Dilettant, ein Greenhorn, das im Wind schnüffelt. Man macht sich leicht lächerlich, Die Cracks ziehen die Show ab, selbst die sog. besten Zeiten taugen als Studienobjekt für dahinsiechende Mythen.

Julia Ritter versucht erst gar nicht, die Welt des Surfens nahtlos ins Deutsche zu übertragen, überall stolpern wir über unübersetzte idiomatische Sprache, aus dem Kontext ergibt sich Sinn, zumindest bruchstückhaft. Eine Verfremdung, die uns gar nicht erst „the real thing“ vorgaukelt. Mit der Zeit kommt das richtig gut. Von wegen: „go with the flow“. Sog und Widerhaken halten die Balance. Das Buch ist klug gebaut. Was anfänglich wie schlichter Stoff für Surfromantiker wirkt, geht dann aber so richtig Bach und Welle runter.

Das wird von Episode zu Episode fesselnder, surreal, witzig, gefährlich, und das Ende von allem: die Moden und der Fundamentalismus. Im schlimmsten Fall toben Machtkämpfe, Freundschaften zerbrechen, aber, fuck, ich hätte zu gerne einmal im Leben die perfekte Welle erlebt, 68, in Malibu Beach.

Stattdessen habe ich heute noch eine genaue Erinnerung daran, wie ich, als Dick Dale an der West Coast tourte, auf dem Schulhof der Brüder Grimm-Schule einen Lederball mit der Brust annahm, und volley ins Tor schoss, knapp neben der rechten Tormarkierung, die durch einen Tornister markiert war. Ein Glücksgefühl ohnegleichen. Mein Held war Reinhold Wosab, der machte es beim BVB im Stadion Rote Erde ganz ähnlich. Echte Liebe.

Die perfekte Welle hat viele Gesichter, der Gitarrist Fennesz ist, auf seinem frühen Album, „Endless Summer“, diesem Feeling nachgegangen, und neben „sweet fragments“ mit Beach Boys-Flair entwickelte er ein Stück Chaostheorie für die elektrische Gitarre.

In jedem Land hat die perfekte Welle andere Gesichter, und manche zeigte sich kurz vor Einbruch der Nacht, wenn man in einem Spiel, das nur noch der Erschöpfung und einer gewissen Traumlogik folgte, einen Fussball aus dem fahlen Laternenlicht auftauchen sieht, schemenhaft, und ihn vollkommen sinnlos in den Himmel bolzt. Wir sind alle Sternschnuppen, voller Elan. Aus dem Nichts geschöpft, erfüllte Momente & Wipeout. Und irgendwann singt immer jemand an einem Lagerfeuer in San Diego, gegenüber der Eisdiele am Leicester Square, oder auf dem Kopfsteinpflaster des Westenhellwegs, Neil Youngs „Heart of Gold“.

Klaus hat übrigens Ernst gemacht. Er hat die weiten Räume aufgesucht, und sie sich mit Frau, Hund und Bären geteilt. Es gab auch, ganz früh, einen Abstecher in die Mohave-Wüste. In Las Vegas hat der letzte Hippie der OIc geheiratet, und auf der Bühne standen die legendären „Highwaymen“ der Countrymusik, Johnny Cash, Willie Nelson, Kris Kristoffersen, und einen vergesse ich immer. Das grosse Nordamerika hat Klaus nie losgelassen, (sie brechen 2023 wieder auf, nach Kanada, für lange, lange Zeit), ihm und Babsi widme ich diese kleinen Abschweifungen, mit Gedanken zum „Surferboy“, entrückten Erinnerungen, Evergreens, und jenen perfekten Tagen, die uns keiner mehr rauben wird. Die Erinnerung kennt keine Tagediebe, höchstens ganz am Schluss, wenn die Endspiele kommen, und die Tränen von einem zum andern wandern. „Tell me why“, Klaus, komm, nimm die Gitarre, spiel es noch einmal, ich singe mit.

 

 

 

Nach der Heimkehr aus Kreta fanden sich einige neue Alben ein: statt das eine und andere davon streamweise über blutooth und in-ear-buds auf stiller See zu Sonnenuntergangszeiten zu hören (The Unthanks, Bill Callahan), was mitunter überwältgend ist – stuff to surrender at Komos beach – hörte ich nun zum ersten Mal Brians Surround-Mix von „Foreverandevernomore“ in meiner elektrischen Höhle, und entgegen meiner Gewohnheiten für solche Klänge, in strahlendem Sonnenlicht. Wow-Faktor 10 (allein, anders als auf Cd und Vinyl, die Stimme vorrangig aus den „back rears“ zu vernehmen, ist etwas gewöhnungsbedürftig). Wundervoll, mein Album des Jahres 2022 auch mal so erleben zu können. Ein Sammlerstück zudem, 2500 Exemplare nur wurden angefertigt, angeblich (but, imagine some of his ambient works in surround & surrender-mixes, Apollo, Music For Airports, Thursday Afternoon, The Shutov Assembly, Reflection, wouldn‘t that be quite something?). Mittlerweile kann Eno auf meine launige Empfehlung hin, doch endlich, vierzig Jahre nach 1982, die Masterbänder von „On Land“ hervorzukramen, und eine 5:1-Fassung in Angriff zu nehmen, kaum noch gute Argumente dagegen sprechen lassen. 😉 „I think I know where the tapes are“, schrieb er mir vor Wochen. Mit dabei – just click on the photo – Jan Bang, Arild Andersen, Evgueni Alperine, Jakob Bro, The Unthanks, und Bill Callahan. Will send Alperine‘s album to Brian, „in my ears a decoffeinated quantum of post-electro-classical-under-the-skin-music“.

 

2022 22 Okt.

Sorrows Away

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In dem Jahr, als Julie Tippetts’ lang verschollenes Meisterwerk „Sunset Glow“ erschien (siehe „From The Archives“), 1975, schrieb der amerikanische Komponist Gordon Bok einen Song, The Bay Of Fundy, über die wilden Gezeiten  und tiefen Nebel einer geschichts- und geschichtenträchtigen Bucht. In der ausführlichen Besprechung von „Sorrows Away“ beschreibt der kundige Rezensent von „folk radio“, wie die Musiker „nach dem Refrain in einen Ambient-Breakdown stranden, bei dem die Bläsermelodie von einem minimalistischen Synthesizer, schimmernden Streichern und einem eingängigen Schlagzeug-Fill unterstützt wird“. Das Wort „Ambient-Breakdown“ hatte ich auch noch nicht gelesen. There is no replacement for listening.

 

Sie sind wieder da, die Liedergutsammlerinnen aus Northumberland. Die Geschwister Unthank wuchsen in einem Teil Schottlands auf, der stark mit der alten Folklore verbunden ist; die Zwei studierten lokale Liederbücher, historisches Liedgut – von klein auf etwa die Songs von  Graeme Miles, meist vorgetragen von der Wilson Family. Da schlug die  Zeit langsamer, aber nicht weniger gnadenlos. Eine urwüchsige Natur war des öfteren Schauplatz für Liebesgeschichten, die, wenns schlecht lief, auch in Mordgeschichten umkippen konnten.


Ganz zu Anfang nannten sie sich  „Rachel Unthank and the Winterset“, und mit „The Bairns“ nahmen sie gleich mal einen instant classic auf. Ob sie Traditionelles interpretieren, oder bei Robert Wyatt oder Emily Dickinson  fündig werden: immer bewegen sie sich durch eine eigene Sphäre: Folk in allerlei Gewändern, betörende Harmoniegesänge sowieso, auch Post-Rock und der Neoromantiker Vaughn Williams haben mal Spuren hinterlassen. „Sorrows Away“ zeichnet Vogelflüge und weite Küstenzonen nach, altes Grauen, grosse Freuden, zerschlissene und gelebte Träume. Und der Multiinstrumentalist und Arrangeur Adrian McNally verfeinert einmal mehr seine Kunst, zwischen dem Minimalen und Orchestralen zu changieren, ohne auch nur ein einziges Mal dick aufzutragen oder bewährte Muster griffig zu recyceln. Zeitgenössische Musik, die auch ohne Meerschaumpfeifen und Wollpullover im anstehenden Dunkelwinter verlässliche Begleitung sein könnte. Und hier noch ein Wort, das ich sehr oft gelesen habe in Musikkritiken, und das manchmal sogar stimmt: atemraubend! Find out for yourself.

 

Vom ersten bis zum letzten Ton ergreift mich Brian Enos neues Album, und das  mit äusserst asketisch in Szene gesetzten Worten (rätselhaft, verwunderlich, romantisch, traurig, archaisch). Was für ein Werk, das das Ende der Zeiten in dunkel funkelndes, fraktales Licht rückt, verstörend und human, oder sollten wir sagen „post-human“?

 

Das Feuer ist hier in seinem Element, von Glühwürmchen („fireflies“) über Flammen bis hin zur von Menschenhand geschaffenen Hölle. Nicht zu vergessen all die Dinge, die im Feuer unseres eigenen Lebens verloren gegangen sind (soweit wir uns erinnern können). Manchmal, aus der Ferne, fügt sich alles (die Verluste zuerst, und die Hände, die noch zu halten sind) an seinen Platz.

 

Keine Ohrwürmer, keine Singalongs, keine märchenhafte Suche nach Parallelwelten, keine Hooks, keine zukünftigen Evergreens, oh, halt, auf ihre ganz eigene Art und Weise schlagen diese Songs, die man als moderne Lamentos bezeichnen könnte, eine Sammlung zukünftiger „Everblues“ zumindest, eine ganz besondere, andere Note und Ecke in Brian Enos Liedschaffen an.

 

Seine Stimme ist gut gealtert, sie greift nach dem tieferen Spektrum. Sie hat etwas von ihrer Verspieltheit verloren. Aber so ist es: Wenn sich einige Tore schließen, öffnen sich andere. Jeder Song hat eine andere Intonation und Stimmung: nachdenklich, beschwörend, am Rande des Abgrunds, beharrlich, skeptisch, verwundert.

 

„And how then could it be / That we appear at all? / In all this rock and fire / In all this gas and dust / Are we not each a flame? / All born to live in light / All born to give our light“.

 

Eine andere Persona in jedem Stück. Hymnische Linien, stockender Sprechgesang, vom Verharren zum Verschwinden, eine Variation zu Krapps letztem Band, und dann wieder grosses Kino, wenn das flüchtige Ich ein einziges Mal „my love“ anspricht? Der Keim der Hoffnung lässt sich vielleicht im fremdartigen Gemurmel des Schlusstracks erkennen, dem alle vertraute Sprache abhanden gekommen ist.

 

Das Album ist ätherisch, erschütternd, weltverloren, eindringlich (ohne falsche Erhabenheiten), und seltsam tröstlich (aller Düsternis zum Trotz). Die Klänge, die Eno und sein innerer Kreis erzeugen, als „jenseitig“ zu bezeichnen, wäre ein Klischee. Vielleicht liegt die Kühnheit des Ganzen in der Kollision von Intimität und Ferne, Sehnsucht und Trauer. „Foreverandevernomore“ ist (wie Leah Kardos mir schrieb), „ein fantastisches Album, das zu seinen besten Arbeiten überhaupt gehört. Zutiefst bewegend und  faszinierend umgesetzt“.

 

Drew Daniel’s  solo project The Soft Pink Truth plays second fiddle to the records he makes as Matmos with partner MC Schmidt, but this full-bodied immersion into an entrancing world inspired by late-’70s/early-’80s  disco is somehow more appealing than Matmos’ recent foray into Polish mid-century avant-garde. Daniel peaks early after sumptuous opener “Deeper” with “La Joie Devant La Mort”, a carnivorous revamp of Grace Jones’ “La Vie En Rose” sung by Jamie Stewart aka Xiz Xiu. Thereafter he saunters around the afterparty, blissfully amiss. So, imagine it is after hours, and the year is 1981, early December.  Pett and Iso and Jann were the last guests at my party, and we watched the slightly flickering TV pictures of „The Man Who Shot Liberty Valence“. At the end, only Jann and I were left, and she put on „Eisbär“ by Grauzone on my record player. She slowly undressed me, and I slowly undressed her. In my memory, super slow motion was the modus operamdi, endlessly stretching every moment into our wilderness. Rod Stewart, Abba, nights in white satin, a whiter shade of pale, everything would have been perfect. But it was „Eisbär“, and „Come on, Eileen“. I was madly in love with Jann at the time (and a long time thereafter) – a fancier metaphor would be pure poetic hypocrisy. And we made love. And made love again. And I asked myself a question: Is it going to get any deeper than this?“ 

 

 

 

 

Ein unheimliches surreales Werk von Richard Dawson, der seinen Philip K. Dick kennt, und mit neuen Liedern eine Zukunft heimsucht, für die das Wort dystopisch eine leere Hülse wäre – das kommt noch in diesem Jahr. Wir werden „The Ruby Cord“ auflegen. Das Ende der Welt, wie wir sie kannten und sehen wollten, hat ohnehin schon lange begonnen. Widerstandsfähige Lieder sind auch eine Waffe. „And in the Darkness, Hearts Aglow“ – dieser treffliche Tirel des neuen Teils von Weyes Blood eröffnet den spätherbstlichen Reigen abgründiger Alben weiblicherseits. Alte Horizonte, die sich dem Vergessen verschliessen, bieten die zwei  Songzyklen „Sorrows Away“ und „A Tarot Of The Green Wood“  der exquisiten  Schottinnen von The Unthanks und Burd Ellen.

 

 

 

 

2023 geht dann gut los mit dem schottischen Barden James Yorkston und seinen Lieblingsschweden, mit einem neuen Album des Ex-Go-Betweens Robert Forster (da spielt die Familie mit wie in Enos „Wunderwerk“ (O. Westfeld)), mit einer neuen Arbeit von Vokalist, Elektroniker und Live-Sampler Jan Bang – und last, but not least, ein weiteres Opus von John Cale, der im März 80 wurde: „Mercy“ heisst es, und den Song Story of Blood (s.o.), welchen er mit Weyes Blood aufgenommen hat, finde ich nach erstem Hören (und Anschauen) bewegend und fesselnd. Am 20. Januar kommt dann endlich auch Wilcos „Cruel Country“ auf den Markt, als Vinyl und Cd. Morgen erscheint übrigens Bill Callahan‘s „Reality“. (m.e.)

 


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