Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2021 8 Mai

All Eternals Deck (2012)

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Name: John Darnielle. Stimme: schlank. Kann scharfe Schnitte setzen. Auch umschmeicheln. Lyrik: tiefenwirksam. Versteht sich auf Andeutungen. Auf Genauigkeit. Auf brutale Direktheit. Klangbio: früher Lo-Fi, billige Kassettenrecorder, später Kammermusik, exzellenter Sound. Schlüsselwerke: „The Coroner´s Gambit“, „The Sunset Tree“. Thema des neuen Albums: „Man schaue sich einen 70er-Jahre-Gruselfilm an, in dem einigen Leuten die Zukunft geweissagt wird. Danach versuchen die Leute, sich hoffnungsvoll zu geben, obwohl sie nichts anderes als Schrecken verspüren. Darum geht es in diesem Album“ (O-Ton Darnielle). Bezeichnende Textstelle: „If you really want to conjure up a ghost / Cultivate a space for things that hurt you most.“ Credo: Musik darf niemals harmlos sein. Einsatz der Streichinstrumente: homoöpathisch, mit orientalischen Melismen (The Age of Kings). Glück: flüchtig, sesshaft in uralten Geschichten. Cineastische Ebene: hinreissende Songs über Liza Minelli und Charles Bronson. Kurioser Moment: ein Barbershop-Song mit explodierender Super Nova. Gebrauchsanweisung fürs Hören: holen Sie sich die „lyrics“ aus dem Netz, lesen Sie sie in aller Ruhe, dann machen Sie das Licht aus.

 

Es ist fast eine Art Johnny Cash-Effekt: je älter, desto dichter die Einschläge ihrer Musik, was Tiefe und Horizont angeht. Wie unschuldig ihre Stimme noch auf ihrem allerersten Album klang! Ihr jüngstes spoken-word-Album wird nicht jedermanns*fraus Sache sein, aber mir geht es nah, die romantische Lyrik des 19. Jahrhunderts fällt in den Jungbrunnen einer Frau, die dem Tod mehrfach von der Schüppe gesprungen ist. Und wenn ich die Texte lese, bin ich einmal mehr froh über meine Jahre mit Dr. Egon Werlich, genannt „Egon“, unserem Englischlehrer im Max Planck-Gymnasium in Dortmund. Ich könnte jederzeit auf die Schulbank zurückkehren und die Interpretation eines Shelley-Gedichts abliefern. Und so habe ich mir in den letzten Tagen, neben der Arbeit an der gestrigen Jazzstunde im DLF, meine liebsten Alben der Engländerin rausgesucht, für eine Woche im Mai, späte Abende, Scotch & Candlelight, und staune nicht schlecht, wie selbst diverse Kurzzeit-Affären von einst nun auch Langlebigkeit demonstrieren. As time goes by. Mehr als eins dieser Alben pro Tag geht nicht, das wäre zuviel des Guten. Aber was für Zeitreisen! Marianne Faithfull really has painted some masterpieces! 

 

 

    1. Negative Capability (2018)
    2. Vagabond Ways (1999)
    3. Before The Poison (2005)
    4. Broken English (1979)
    5. She Walks In Beauty (2021)
    6. Give My Love To London (2014)
    7. Strange Weather (1987)


 
 

 
 

Boris Groys schreibt in seinem Essay „Das Leben riskieren“:

 

„Der ewige Teil der Seele war öffentlich nicht in den Kampf ums ökonomische Überleben involviert; er war nicht in das praktische Leben involviert. Eher erlaubte dieser Teil der Seele dem Philosophen, ein Leben in reiner Kontemplation zu führen. Und was entscheidend ist, diese kontemplative Praxis ließ den Philosophen an der Ewigkeit und Unsterblichkeit hier und jetzt teilhaben. Für Platon gab es keinen Unterschied zwischen göttlichen und menschlichen Formen der kontemplativen Betrachtung geometrischer Figuren und den logischen wie mathematischen Gesetzen, denen sie gehorchen. … Geometrie, Mathematik und Logik sind nicht veränderlich in der Zeit. Auch wenn der Philosoph sie nur für einen kurzen Zeitraum kontempliert, wird er bereits während dieses Intervalls unsterblich und ewig. Im Gegenzug bedeutet dieses Intervall von Unsterblichkeit, dass der Philosoph die Welt, in der er existiert, von dem Standpunkt der Ewigkeit aus – zu sehen vermag, auch wenn er selbst dabei sterblich bleibt. Die Welt ist im Fluss, aber Quadrate und Dreiecke sind unveränderlich. Das heißt, der Philosoph ist imstande, den Fluss des Lebens zu unterbrechen, indem er diese Kontemplationsintervalle wiederholt.“

 

Im Beuys Jahr angelehnt: Jeder ist ein Philosoph.

 

 

“In a bar called The Calico Girl, a Jukebox plays an echo of music from another time, another place, maybe. It‘s hard to pin. But the sound is of railroads and Wurlitzer notes. It washes over you like dandelion floats. The rush of childhood and the arms of the arcade. Here‘s where hallucinations are made.“ 

 

Ich war 17, hatte meine Baskenmütze auf dem Kopf, und sass auf einem Pier in Torquay. Ich sah auf die Palmen und hatte bis zu diesem Trip nach England nichts von den Palmen und dem Golfstrom dort gewusst. Vor mir auf der Kai-Mauer lag ein kleines Taschenbuch über das richtige Pfeiferauchen. Ich hatte alles Nötige dabei, und auch den Tabak meiner Wahl. Da es der einzige Tabak ist, den ich je in einer Pfeife rauchte, habe ich ihn nie vergessen: „Mac Baren‘s Mixture Scotish Blend“ verströmte einen süssen Honigduft, das Whisky-Aroma liess sich allenfalls erahnen. Er galt, wie ich las, als zungenfreundlich, ein Tabak, der langsam und kühl abbrennt, wenn er mit Bedacht genossen wird. Ich befolgte die Anweisungen zum Stopfen der Pfeife sorgsam, aber im Endeffekt scheiterte ich, immer wieder ging mir nach wenigen Zügen die Glut aus. Eine klare Niederlage. Wie in der Zeit davor, in der ich mir das Bridgespielen beibrachte, aus dem dann ein Solo für Vier wurde, weil kein Kumpel das Spiel lernen wollte. Ich hatte die Lektion gelernt, und mir später ein Buch mit Patiencen besorgt.

Das alles kommt mir in den Sinn, weil gerade „Coral Island“ läuft, das neue Doppelalbum von The Coral: und wenn man auch nur das kleinste Faible für englische Küstenkäffer hat, sind bei diesem Album Zeitreisen garantiert. Echos von den Beatles bis Leonard Cohen, von den Small Faces bis zu den Kinks, aber doch eine ganz eigene „Geisterwelt“.

Damals, auf diesem Pier in Torquay, als ich an der Pfeife scheiterte, ist noch etwas passiert, das ich nie vergessen werde. Ein grosser Hund mit Schlappohren, eine Promenadenmischung, kam zu mir angetrottet, kein  Besitzer war weit und breit zu sein, und er hockte sich zu mir. Wir erzählten uns ein paar Geschichten, jeder auf seine Art. Er hiess Joe. Irgendwann signalisierte er mir, ihm zu folgen, und über einen Steg gelangte ich auf ein luxuriös augestattetes Boot. Klein, aber oho! Wir machten es uns dort gemütlich, er mit einem, Knochen, ich mit einem Fernrohr, das ich in der Kajüte fand. Dann muss ich eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, waren wir auf offener See, und ausser dem Hund und mir war weiterhin niemand an Bord. Ich sah in der Abenddämmerung das Funkeln der Lichter der Küstenpromenade, und pure Freude durchströmte mich. Ich erkannte Fetzen eines Songs, wohl aus einer Jukebox, und aus weiter Ferne, „Mellow Yellow“ von Donovan. Wie kann ein Lied so unbedrängt aufs Meer hinaus fliegen? „…Born-a high forever to fly….A-wind-a velocity nil….Born-a high forever to fly…If you want, your cup I will fill…“ Aus meinem Rucksack holte ich ein Büchlein über das ABC des Bootfahrens. Wir waren gerettet.

 

Aus welchem Film stammt dieses Bild? Jeder darf einmal raten, auch Manafonisten. Aber um den ersten und auch einzigen Preis zu gewinnen, das nächste Album von oder mit Brian Eno (das kann etwas dauern), alternativ die neue Arbeit von Tony Allen, „There Is No End“ (seine letzte, soeben erschienene Aufnahme), muss noch eine weitere Frage beantwortet werden. Wie heisst die Jazzkomposition, die in dem fesselnden Sci-Fi-Film „Stowaway“ zu hören ist, während zwei Protagonisten (unglaublich, aber wahr) auf dem Weg zum Mars eine kleine Konversation über Jazz führen? Die Antworten bitte nur an meine Mailanschrift: micha.engelbrecht@gmx.de. Sobald das Doppelrätsel gelöst ist, wird es in den comments mitgeteilt. Kleine Hilfe: der Film ist ein Klassiker, und das Album, aus dem das Jazzstück stammt, ebenso.

 

 
 

Die ersten Morgenstunden: wenn der neue Tag noch eine weisse Fläche Zeit ist; ganz ohne Knicke, Risse und Flecken. Wenn jeder sich rüstet für den, für seinen neuen Tag: auf zu neuen Enttäuschungen, neuen ernüchternden Nachrichten.

 

2021 4 Mai

The Sound of Coral Island

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„Ideen wie diese entstehen immer nachts um 1 Uhr während dunkler Autobahngespräche. Wir dachten uns: Warum fassen wir nicht einfach unsere Erfahrungen zusammen, die wir gemacht haben, als wir in einer kleinen Stadt an der Küste aufwuchsen, im Schatten von Liverpool und Wales, in diesem Niemandsland zwischen diesen beiden wirklich starken magnetischen Kräften, ohne jemals Teil einer von beiden zu sein.“

(Nick Power)

 

„Es geht auch um den Versuch, eine Idee von der Küste einzufangen, die in unserer Vorstellung existiert. Ich habe am Meer gelebt, aber Mama und Papa besaßen Pubs, also bin ich auch viel umgezogen. Ich bekam meine Ideen aus Büchern und Musik, aber ich fühlte mich immer von dem Gefühl dieser Küstenwelt angezogen. Ich fasse es so zusammen: Wenn dz jemals das Geräusch des Windes zwischen den Segeln der Boote im Hafen gehört hast …  für mich klingt das wie die Musik von Joe Meek, Jahrmarktsmusik. Es ist der Klang von Geistern; der Klang einer Welt zwischen den Welten. Der Klang der Koralleninsel.“

(Richard Skelly)

 

JazzFacts – Neues von der improvisierten Musik – 6. Mai, 21.05 Uhr bis 22.00 Uhr 

Excerpts from interviews with Pharoah Sanders, Thomas Strønen, Shabaka Hutchings, Nik Bärtsch, Vijay Iyer and Mats Gustafsson. New albums from Thomas Strønen, Natural Information Society, Vijay Iyer, Sons of Kemet, Floating Points with Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra, Fire!, Pino Palladino with Blake Mills.  Other albums mentioned: Jimmy Giuffre – Paul Bley – Steve Swallow: 1961 / Keith Jarrett – Jan Garbarek: Luminessence / Miles Davis with Gil Evans: Sketches of Spain / Miles Davis: On The Corner / Ornette Coleman: Skies of America / Christian Wallumrød:  A Year From Easter / Lennie Tristano: Lennie Tristano (1956) / Nik Bärtsch: Entendre / Brian Eno: Music for Airports / Pharoah Sanders: Thembi 

 

2021 3 Mai

My favourite poetry & music combinations (4)

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Rückkehr von Krähe – ist das überhaupt ein Gedicht? Klar, denn ein Gedicht ist ein Text, in dem so viel mehr steckt als die Worte, aus denen er besteht. „ich bin neuerdings in der lage, gedichtliches wissen zu messen, und anzugeben auf einer skala bis hundert“, schrieb Ulf Stolterfoht in es ist miles end, veröffentlicht im Jahrbuch der Lyrik 2018. Referenzflächen also, nebeneinander und übereinander geschichtet. Mit verschiedenem Quellenmaterial und Bezugssystemen arbeitet Stolterfoht auch in Rückkehr von Krähe. „Nur eine Strukturidee pro Gedicht, das kommt mir etwas wenig vor. – Fledermaus sekundiert: Zwei Ideen sprechen für Fleiß. Drei sind meistens eine zu viel. Hast du jedoch fünf, dann winkt von fern der Huchelpreis.“ In der Geschichte von Krähe, dieser seltsamen, wandlungsfähigen, symbolträchtigen Gestalt zwischen Württembergischen poesiefeindlichen Landstrichen, gefährlichen Wäldern, rätselhaften Geschöpfen, surrealen Verheiratungsaktionen, aber auch außerehelichem Sex, krassen Gewaltaktionen, lebensbedrohlichen Erkrankungen, der sinngebenden Produktion von Gedichten und immerzu Bier oder anderen Alkoholika. Grenzüberschreitungen sind also inklusiv. Mindestens einmal gibt es den Zwischenruf: „Auf einer Lesung kannst du das beim besten Willen nicht mehr bringen.“ Wie hat Ulf Stolterfoht diese Poetologie entwickelt, die er in zahlreichen Gedichtbänden unter den Titel Fachsprachen (nummeriert nach römischen Zahlen) veröffentlicht und weiterentwickelt hat? In Was hält ein Gedicht zusammen? erzählt er von seiner Zivildienstzeit Anfang der 80er Jahre. Es war seine Aufgabe, sieben Männer und den Chef mit einem VW-Bus in den Wald zu fahren, wo Bäume gefällt, Gräben ausgehoben und andere Arbeiten erledigt wurden. Die Männer waren Obdachlose und das, was sie miteinander sprachen, waren „Sätze, die nichts bedeuteten, für Leute, die nichts sagen wollen.“ „Ich glaube“, schreibt Stolterfoht weiter, „dass ich seitdem auf der Suche bin nach Sätzen, die so klingen, als wären sie ursprünglich von den Männern im Wald gesprochen worden.“ Wer mit den Gedichten von Ulf Stolterfoht noch nicht vertraut ist, findet in dieser Zusammenarbeit mit Thomas Weber einen bemerkenswerten Einstieg. Der klassische Sound des Kammerflimmer Kollektiefs vertieft die Wirkung des immer ins Ungewisse mäandernden Textes, und lässt die Räume, die er erzeugt, noch dunkler hallen. Dieser Arbeit können Sie fast eine Stunde lang lauschen, am besten mit Kopfhörern und im Dunkeln. Hier der Link zur SWR-Produktion aus diesem Jahr.

Eben zuendegehört die letzten KH. Sehr gelungen, sehr schöne Musik! Vielen Dank, Herr Engelbrecht. Hier sind wieder – wenns beliebt – einige Anmerkungen zur Sendung:

 

Palladino & Blake Mills – sehr spannend, habe ja in verschiedenen Sendungen schon davon gehört. – Sinikka Langeland – klare Stimme, ich liebe auch den ebenso klaren Klang der Kantele. Meine Erweckung dahingehend: Sylvan Grey »Iceflowers Meling« 1988 – Simon Goff: vielversprechend ! – Nik Bärtsch: Modul 55: Bei diesem Stück fangen in meinem Hirn Kate Bush und ihr Sohn als Snowflake so dermaßen präsent an mitzuschweben, dass es mir fast unmöglich wird, allein das Modul zu verfolgen. Reizvoll. – Ballaké Sissoko: Kora – Ich liebe Kora. Und entzückend, eine weitere Elfenstimme dans le forêt de language français (siehe Camille »oui«)! Ach! da singt ja sogar Camille!!! Herr E., Sie entreißen mir alle Bonmots! – Daniel Lanois: Every Nation – huch, so leichtfüßig habe ich Lanois lange nicht gehört. Und die Stimmung!, so mysteriös wie das Lächeln der MonaLisa. (War das jetzt Kitsch?) Sogar Dub kanna. Hat der das alles selber gemacht? Unfassbar.

just während die WELTTRAUMFORSCHER der vierten Stunde rauschen, lese ich mich durch die WTF-Philosophie. Man kann sowohl mit der Musik wie durch die Geschichte in einen Sog geraten, sich verlieren & verlieben. Zwar formulieren die Auswahlstücke in der Sendung einen bestimmten Kosmos, doch auch die anderen Perlen der beiden CDs »aus dem Zauberhut« empfehlen sich mit eigenwilliger Zuckerglasur.

Zu MADE TO MEASURE habe ich genügend gesagt. Lew ist einer meiner Favoriten. Es ist hier nicht nur eine Zuneigung dem Obskuren, sondern der Wunderbarlichkeit der Kompositionen. – Die ganze 4. Stunde ist himmlisch. Inklusive Fab-Dub.

 

 

 

 

Zur Kubanischen Compi (von Soul Jazz Records; Anm. mhq) könnte man anmerken: Die Kulturpolitik des Landes hat sich verständlicherweise nach der Batista-Diktatur von den »verwerflichen« Erscheinungen der kolonialen Zeit distanzieren wollen, als Kuba lediglich Spielhölle mit angeschlossenem Bordell für den US-Tourismus war. Auch die Verfolgung Homosexueller u.a., dem Zeitgeist geschuldeter politischer Entscheidungen darf man gern benennen. Castro hatte sich später ausdrücklich für die nachrevolutionären Fehlentscheidungen und daraus resultierendes Leid entschuldigt. Auch dass das Buch zur LP unter Mitwirkung staatlicher Stellen entstand, zeigt die Offenheit, mit der man mit alten Fehlern umgeht.

Äthiopische Melodielinien der Bar- und Pop-Musik der Dekade 69 bis 79 habe ich so verinnerlicht, dass ich mit Leichtigkeit die Phrasierungen mitpfeifen und mitsingen kann. Oje, ich komme ins taumeln, ich liebe das! Interessanterweise geht die staubig trottende, lockere Rhythmik Ayalew Mesfins – etwas schneller gespielt – in Richtung ChaCha, und ist fast dieselbe, wie man sie heute noch in der Laotischen Popmusik, endlos repitiert, hören kann. Ist der Hammer!

 

mit herzlichen Maigrüßen
Olaf (Ost)


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