Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

You are currently browsing the blog archives for the month März 2022.

Archives: März 2022

2022 18 März

Im Eldorado

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 10 Comments

Sie klingen wie Musik und schmecken nach Schlaraffenland: Lumaconi, Trofie Liguri, Paccheri, Candele, Orcchiette, Casarecce. Die Pastalandschaft in den hiesigen Supermärkten ist überbordend. Und doch sind das nur Nudeln. Es sind die Saucen, die die Pastawahl bestimmen. Hier zwei Rezepte von der Insel, wo Graziella einst kochte:

Orecchiette rucola  e patata

orecchiette di semola 500gr, patate 259gr, rucola 2 fascetti,pomodori San Marzano 750gr, oliv 2dl, alio, basilico, sale, parmigiano a piacere.

Conchiglione con funghi

conchiglione 500gr, funghi 1kg, besciamella 750gr, porschiutto cotto a dadini 200gr, parmigiano grattugiato 150gr, olio, prezzemolo.
infornali a 200 • a 15 min

 

 

 

 

In dieser schönen Villa, ehemals Pension „Eldorado“, lebte die Schriftstellerin Elsa Morante, zeitweise auch ihr Ehemann Alberto Moravia. Ob es ein Ort des geistigen Austausches war, wird nicht berichtet. „Arturo“ ist Morante‘s berühmtes Werk, das sie hier auf und über Procida schrieb. Bei dem wunderbaren Wagenbach Verlag erschien es auf Deutsch.

Procida ist eine Insel, die ähnlich wie Sils Maria, Intellektuelle anzieht. Sloterdijk, Boris Groys, Agamben, Werner Herzog, Hans Jürgen Syberberg, Enrico Morricone, Daniel Buren und viele Andere trafen sich hier, um entweder an dem jährlich stattfindenden Filmfest teilzunehmen oder an dem Literatentreffen „Procida racconta“.

 

 

 

 

Procida ist von großer Schönheit. Die vielen versteckten Gärten lassen sich nur von den großen, überhängenden Zitronen erahnen.

Hier ein Rezept für einen Limoncello:

Limoncello

alcool puro  litri 1, limoni semiacerbi non trattati 7, acqua 7 dl, zucchero 700gr.

Preparazione: tagliare le bucce dei limoni facendo attenzione a climinare la parte bianca, metterle, chiuse ermeticamente, in un contenitore Di vetro, in infusione nell‘ alcool per 7 giorni in in luogo buio. Trascorso questo periodo far bollire acqua e zucchero per circa 10•/Grad, lasciare raffreddare lo sciroppo cosi ottenuto, unire le bucce di Limone e l ‚ alcool, filtrare e imbottigliare. Vi consigliamo di far riposare Il liquore per 30 giorni.

„Dieses Buch erzählt vom Verfolgen eines Traums und der Einsicht, dass man Träume nicht erreichen kann.“ Als einer der ersten europäischen Comiczeichner bekam Igort Anfang der 90er Jahre die Gelegenheit, für einen japanischen Verlag zu arbeiten. In der Graphic Novel Berichte aus Japan [Eine Reise ins Reich der Zeichen] erzählt er von seiner Zeit in Tokio, er erzählt vom Raumgefühl in winzigen Appartements und Hotelzimmern, von geradezu sinnlos erscheinenden Aufträgen, bis zum nächsten Tag einen Comic zu zeichnen, zu dem der Auftraggeber dann nichts sagt und einen weiteren Comic verlangt. Eine Zeitschleife. Sein Kreativitätspool sind Karteikarten, die er sich inspiriert von Brian Enos Oblique Strategies angefertigt hat. Igort erzählt von seiner Suche nach Sinn auf Spaziergängen in Azaleengärten, der Bedeutung kleiner Risse im Innern von Teetassen, von Chrysanthemen, der Tradition der Sumo-Ringer und von Episoden aus der japanischen Geschichte, die es nie in die Schulbücher schaffen: Verruchte Gestalten, die mit Konventionen brechen und Berühmtheit erlangen. Der rote Turm in Asakusa. Die Burakumin: Menschen, die durch ihren Beruf mit Blut in Berührung kamen, waren Ausgestoßene, und heute noch beliefern Agenturen Unternehmen mit Stammbaumdaten: Wer von den Burakumin abstammt, wird nicht eingestellt. Geschichte lagert sich an Orten ab. Vor allem aber erzählt Igort von der japanischen Arbeitswelt der Comic- und Mangaenthusiasten, die auch Filmbegeisterte sind, denn auch im Film geht es darum, wie erzählt wird, wie Bilder perspektivisch gemacht und geschnitten sind. „Ich habe endlos Zeit damit verbracht, seine Filme [die von Seijun Suzuki, M.W.] aufzutreiben. Selbst Kopien von Kopien, nur um zu sehen, wie er dreht, wie er erzählt.“ Verschiedene Erzählebenen bildet Igort in unterschiedlichen Zeichenstilen ab. Springt irgendwo ein Funke über? Ich habe mir einige Titel notiert: „Nachtasyl“ von Kurosawa (ein Film über die Burakumin), „Die letzten Glühwürmchen“ von Hayao Miyazaki, „Mein Nachbar Totoro“ von Isao Takahata (großer Antikriegsfilm), Shigero Mizuki: „Kitaro vom Friedhof“ (ein Manga. Japaner glauben an das Unsichtbare, schreibt Igort, und in diesen Geschichten fände sich ein Zugang dazu). Die Skizzenbücher von Hokusai Katsushika: für Igort wie Reisen. „Naji-Shiki“ (deutsch: „Mit einer Schraube“) von Yoshiharu Tsuge, der Titel „Mann ohne Fähigkeiten“. Igort traf Art Spiegelman und David Mazzucchelli und sie sprachen über Tusges Arbeiten. Er lebte sehr zurückgezogen. Auf Deutsch erschien  sein Hauptwerk „Der nutzlose Mann“ und 20 graphic Kurzgeschichten unter dem Titel „Rote Blüten“, über die Alexander Braun in Deutschlandfunk Kultur sagte, sie seien „ein wenig mysteriös“ und „in einer anderen Erzählweise, als wir es aus westlichen Kontexten kennen“. Hier springt ein Funke über.

2022 18 März

Japanese Jewels (17): Kiren

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 3 Comments

Bereits mit den ersten Takten von Ashita stolpern wir in einen ungehört und sogartigen Metarhythmus irgendwo zwischen Tribal und Wave, der schnell befremdlichste und dennoch treibende Formen annimmt. Es ist kaum zu glauben, dass das vierte Soloalbum von Yasuaki Shimizu Kiren 38 Jahre irgendwo in den Archiven herumlag und jetzt zum ersten mal veröffentlicht wird. Eigentlich war das Werk des japanischen Jazzsaxophonisten und Meister des Art-Pop als Abschluss der Trilogie aus seiner Band Mariah’s Utakata No Hibi und dem Soloalbum Kakashi gedacht, kam aber nie auf den Markt nachdem Kakashi in Japan unverständlicherweise floppte. Aber entweder es hat niemand die Musik wirklich gehört bevor die Frage der Veröffentlichung geklärt wurde oder man befand sie in aller Konsequenz ihrer Zeit mindestens 38 Jahre voraus.

 

„At that time I could recognize that all of the various scattered elements I had been interested in since I was a child were collecting together inside of me and becoming a single organic material“.

 

Dennoch entstand aus den vielseitigen musikalischen Interessen Shimizu’s ein verstörendes, atmosphärisch homogenes Album, dass nahtlos japanische und westliche Musikelemente und archaischste Rhythmen zusammenbringt mit futuristischen synthetischen Klängen, sowie der Wärme des Atems durch das oft wenig konventionell gespielte Saxophon. Momo No Hana ist eine kalte Collage von Loops und Fragmenten unbekannter Herkunft, die dennoch fraglos schlüssig er- und mit stolperndem Herzschlag ausklingt und das folgende Asate, das minimalistisch einen Saxophonretrosound mit kargen, fragmentarischen Beats unterlegt, fast noch am konventionellsten wirkt. Kagerofu ist ein Meisterstück der Fourth World Music mit wuchtigen Buschrhythmen, verfremdeten Samples und unheimlichen Stimmfetzen, das man auch in zweihundert Jahren noch auf einem Volksfest auf dem Mars wird spielen können. Auf Peruvian Pink tanzen skurrile Beats mit einem synthetischen Dudelsack, immer, wie auch bei den anderen Stücken von Morio Watanabe’s abgründigem Bass unterlegt und bei Shiasate treibt ein schnelles Schlagwerkmuster den Bass und einige verfremdete Blasinstrumente vor sich her. Mit Ore No Umi schließt das Album funky und sabotiert, wie schon der ganze Rest, jegliche Hörgewohnheiten, püriert genüßlich Erwartungen, spielt mit bekannten Elementen, um die Abzweigung zu subtilen wie drastischen Vexierspielchen nie zu verpassen und bleibt dennoch futuristisch jazzy und relaxed, wenn es gelingt sich auf das Universum des Yasuaki Shimizu einzulassen. Offen bleibt dann nur wo das enden könnte: vielleicht in einem moebius’schen Flugsessel für Psychonauten, einem Jazzfest auf einem Saturnmond oder einer filigranen Orgie auf einem Retrospaceship mit Überlichtgeschwindigkeit. Egal eigentlich, ist doch die Welt nie mehr die Gleiche wir zuvor nach dem Hören dieses Albums. Noch habt ihr die Wahl …

 

 

2022 18 März

Une dérive à l’envers

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 3 Comments

 

 

 

Das sind Zeiten. Angesichts des fortschreitenden Dramas, das Russland in der Ukraine anrichtet, erleben wir das Geschehen  um Covid hierzulande als nicht sooooo dramatisch. Man muss nur morgens Spiegel-Online lesen, oder The Guardian, oder die SZ, oder die TAZ, und weiss, welcher Terror im Osten Europas weiter herrscht. Aber für sich betrachtet – ganz unabhängig von der „Relativitätstheorie des Unglücks“ (derzufolge es immer andere gibt, die in einer weitaus schrecklicheren Situation leben) – ist die Covid-Lage absolut nicht harmlos und die neue Gesetzgebung ein „zahnloser Tiger“. Der Expertenrat der Bundesregierung hatte schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass Omikron zu Personalengpässen im Gesundheitswesen führen könne: „Jeder, der es hätte wissen wollen, hätte es wissen können – wenn er sie gelesen hätte.“ Die stets wohltuende, weil smarte und mit einem Blick aufs Ganze ausgestattete, Virologin Melanie Brinkmann sagte mit Blick auf die FDP: „Das gilt ganz klar auch für eine Partei, die das nicht so gern wahrhaben möchte und die Pandemie lieber für beendet erklären möchte.“ Das mit dem kleinen Freedom Day traut sich die FDP nun doch nicht – wäre ja auch zu absurd! Melanie Brinkmann nannte es richtig, dass in den Bundesländern für die nächsten zwei Wochen noch Übergangsregeln und damit die bisherigen Schutzmaßnahmen in Kraft sind. Sie äußerte zugleich Zweifel, dass diese zwei Wochen ausreichten. Diese Zweifel äussere ich auch. Ich warte schon freudig auf den Tag, wo mir an der Kasse im Supermarkt hinter mir ein unmaskierter Vollpfosten auf einen halben Meter an mich ranrückt, um seine Bananen auf das Rollband der Kasse zu legen. Gestern ein Blick in die Fussballstadien genügte auch, um sicher zu sein, dass die Zahl der Idioten im Lande niemals zu unterschätzen ist. Aber die Sonnenblumenöle und das Mehl hamstern, das haben die Spinner hierzulande locker im Repertoire. Resilienzfestigende Faktoren: nur einmal am Tag die aktuelle Nachrichtenlage verfolgen, Gelassenheitsübungen, Entspannungstraining, antidepressive (massvoll einzusetzende) „coping strategies“ wie Wandern, Marihuana, und Psychotherapie, ein Blick zu den Vorsokratikern (Stoiker, Epikuräer), positiver Eskapismus (Bücher und Musik, die Gegenwelten öffnen, uns wunderbar abtauchen lassen, andere Horizonte öffnen), italienische Koch- und Backrezepte, auf keinen Fall Richard Wagner oder Helene Fischer hören, schwarzer Humor – und ab und zu (unter Abwägung des jeweiligen Kontexts von Notwehr) das Faustrecht der Prairie.

 

2022 14 März

peace on my mind

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 4 Comments

In einem Gespräch neulich mit A tauchte ein Thema auf, das mich seit Längerem beschäftigt, nämlich die Dichotomie von Realität und Fantasie. A meinte, er sei durch und durch Realist. Da er auch seit Jahrzehnten schon sich als großen Kafka-Freund bezeichnet, werde ich ihn bei Gelegenheit auf dessen Parabel Von den Gleichnissen“ hinweisen und sogleich meine persönliche, literarisch sicherlich nicht ganz fachgerechte Interpretation frei Haus liefern: nämlich die, dass man zwar de facto in einer Fantasie-freien Welt leben kann und darf, dies aber aus Sicht kreativer „Phantasten“, also der mit Einbildungskraft begabten, ein Nachteil wäre: man hätte etwas verloren. Sachliche Faktizität ist unbestritten erforderlich in so mancherlei Berufsbereich, sei es als Handwerker, Programmierer oder Jurist. Auch der Friedenstaube, die sich urplötzlich dem Maul eines Alligators gegenübersieht, das weit geöffnet ist, nicht um Argumente vorzutragen, sondern um zuzuschnappen, bleibt nur die nüchterne und fantasiefreie Anerkennung ihrer misslichen Lage. In Zeiten des Krieges nun wird ein grundlegendes Bedürfnis wieder bewusst, das mich seit frühen Kindheitstagen prägte und eine Strategie entwickeln liess: die rettende Flucht in die Literatur, die Kunst, die Einbildungskraft und die Musik. Hier nämlich entfaltete sich ein Identität stiftender Raum, ein Haus des Seins, in dem es sich überhaupt atmen und wohnen liess: in jene Bereiche mich rettend, die ich in Anlehnung an den gleichnamigen Buchtitel des Philosophen und Ethnologen Hans-Jürgen Heinrichs als „Erzählte Welt“ bezeichnen möchte. Heutzutage höre ich mir sogar einen Vortrag über Kriegsführung gerne an, wenn er von einem klugen Historiker sanft und erhellend vorgetragen, also erzählt wird und nicht etwa, wie in diesen shitstorm-reichen Tagen, rechthaberisch an die Wand drückt. Dialogbereitschaft sei das Stichwort jeder guten Stunde! „Peace on my Mind“ heisst denn auch einer meiner Lieblingssongs des Robben Ford. Gekonnte und stilsichere Variationen des altehrwürdigen Blues werden gewürzt mit kalifornischem Westcoast-Feeling, das schon Joni Mitchell zu schätzen wusste. Für Sprachmelodien und Gitarrenriffs gilt Gleiches: sind sie Frieden stiftend, hört man gerne zu.

2022 13 März

Procida Ispira

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 7 Comments

 

 

 

Procida

 

Baja sperduta, non più di venti barche a vela.

Reti, parenti del lenzuoli, stese ad asciudare.

Tramento. I vecchi guardano la partita al bar.

La cala azzurra prova a farsi turchina.

Joseph Brodsky

 

Beim legendären Mana-Treffen auf Sylt hätte ich fast ein Strandkonzert von den Sheriffs of Nothingness eingekauft, aber dann kam es anders. Vom Morsumer Kliff hatte mir Lajla erzählt, bevor ich das erste Mal dorthin fuhr. Als ich in den letzten Jahren immer wieder zu der Insel reiste, liess mich der Gedanke nie los, einmal nach „Klein Afrika“ aufzubrechen, wie ein Teil dieser uralten Landschaft genannt wird, und nicht wegen der Hitze, die mir auf einem klassischen Sonntagspaziergang dort engegenschlug. The more frequently you return to it, the greater the rewards. The bass line suspending Hassell’s eastern melody for “Chemistry” will start to glow. The synthesized horn of “Delta Rain Dream” will transform into a meadow. The cycled trumpet sample of “Rising Thermal 14° 16′ N; 32° 28′ E” will hypnotize you.  Nein, nachts, mutterseelenallein, und so kam es dann – in dem Rucksack waren, unter anderem, eine Taschenlampe, ein nicht gerade leichter Lautsprecher von Sonos, der von meinem Ipad angesteuert werden konnte, und Sprudelwasser. Als erstes kramte ich die Taschenlampe heraus, und machte mich auf den Weg, den ich tagsüber im Schlaf fand, im Sternenlicht aber nur zaghaft betrat.

 

Nachts bekommen Rundwege eine andere Dimension – da ist ja niemand, und selbst ein harmloser zweiter Wandersmann würde einem erstmal, als Schatten, einen gehörigen Schrecken einjagen. Bei diesem Rundweg, der auf dem verlassenen Parkplatz begann, den viele von euch kennen, kramte ich als erstes die Taschenlampe heraus, denn das Licht der Sterne war viel zu fahl und meist von Wolkenschleiern verdeckt. Harmonic motion is limited and all attention is centered around the embellishment of a single melodic line. Hassell is playing lead on these songs, but his performances often blur seamlessly into the backing tracks. Es gibt eine nicht ganz ungefährliche Stelle auf diesem Weg (wenn man sich blöd anstellt), ein schmaler Steg, mit recht steilem Abhang zur Linken, den ich Schritt für Schritt in Angriff nahm, das künstliche Licht mein Beschützer, und schliesslich, nach einer halben Stunde etwa, setzte ich mich an eine höhlenartige Einbuchtung, stellte die Box nahe am Wattenmeer auf, und froh, einen windfesten dicken Mantel zu tragen, liess ich „Possible Musics“ laufen, von Jon Hassell und Brian Eno, von Anfang bis Ende, und wie die Zeit sich in der Folge verhielt, ob sie dahinflog oder stillstand, blieb ihr selbst überlassen, ich mischte mich in nichts ein, und liess mich von den Klängen einfangen (wie seit Jahrzehnten schon), von den Schlangenlinien der Trompete, den Trommeln von Nana Vasconcelos, und einmal, als ich es donnern hörte, schaute ich kurz zum Himmel, eine Täuschung der Sinne, so fein verwoben war der verhaltene Donner mit Brians elektronischen Schatten.

 

Es ist einer der wenigen Tricks, die ich gut beherrsche, und die – auch wenn sich das wenig logisch klingt – auf die Zeit zurückging, als ich in meiner Kindheit ein Buch voller Zauberkunststücke studierte: in touristisch hochfrequentierte Orte am besten nur in der Nachsaison reisen, und dann hinein ins Abgelegene, in die Unzeiten: wind on wind, wind on water. Je leerer eine Bühne ist, desto mehr bewegen sich die  Dinge, die gar nicht da sind, Areale von Traum und Wirklichkeit rücken nah aneinander. Hassell’s landscape is an invented one—an imagined culture, where high technology and mysticism are blended together. Nachdem „Possible Musics“ in meinem abgelegenen Erdwinkel verklungen war, liess ich, aus purer Sentimentalität, diesen Song von Bob Dylan laufen, in dem er um noch eine Tasse Kaffee bittet, bevor er aufbricht, zum nächsten Tal. Dann fing es tatsächlich noch an prasselnd zu regnen, und ich zauberte aus meinem kleinen Rucksack einen faltbaren blauen Regenschirm (dessen Farbe von der Nacht verschluckt wurde), und eine noch halbvolle Thermoskanne Kaffee. The north and the south of you, post-psychedelic, lush, sensuous, and otherworldly. Jon‘s experiment was to imagine a ‚coffee coloured‘ world. Eine Bö riss mir auf dem Rückweg den Regenschirm aus der Hand, und ich war gut beraten, ihn nicht im Dunkeln von Klein-Afrika zu suchen.

Im Sommer 1999 war ich gerade Vater geworden und raus aus der Potsdamer WG, hinein in die Kleinfamilie und eine 3-Raum Wohnung in der Nähe des Ostkreuzes in Berlin-Friedrichshain gezogen. Dort schnell gemerkt, wie sich das Leben verändert, ja, auch unheimlich wird. Ich kaufte einen gebrauchten Röhrenfernseher, einen Videorekorder und stapelweise VHS-Kassetten, auf denen dann mit Showview Filme aufgezeichnet wurden. Eines Abends sah ich „Midnight Cowboy“, der muss kurz vorher im Spätprogramm gelaufen sein. Ich erinnere wenig, hauptsächlich einen großen Cowboy Hut und eine Lederjacke, Jon Voight und Dustin Hoffmann, ich erinnere mich, dass ich sehr beeindruckt war von den Bildern, vor allem aber in the echoes of my mind: „Everybody‘s Talking“ von Harry Nilsson. Kurz darauf fand ich eine „Best of Harry Nilsson“ auf dem Flohmarkt des Boxhagener Platzes, entwickelte eine kleine Obsession, kaufte die gesamten „Schmilsson“ Alben und traktierte zu fortgeschrittenen Stunden auf Feiern immer wieder Menschen mit „Coconut“ (das wiederum einen Auftritt in „Reservoir Dogs“ hat, meine ich mich zu erinnern).

 

Es trägt zur Faszination von Jan Reetzes Buch bei, dass es so nonchalant wie genau erzählt und „Der Sound der Jahre“ so viele private Erinnerungen an die alte BRD triggert, egal, wo wir waren, als in Düsseldorf, München, Berlin, Köln, Hamburg, Forst und anderswo Musikgeschichte geschrieben wurde. Die jüngeren Leser reisen einfach zurück in eine alte Zukunft, die immer noch Blüten treibt. Nach einem Tag in Düsseldorf sank ich nachmittags tief in meine Couch, und hatte mit Roger Enos „The Turning Year“ eine perfekte Begleitung in Vinyl aus dem Regal gezogen, witzigerweise hatte sich neben diese bezaubernd leisen, spannenden Klänge die Schallplatte „Sowiesoso“ von Cluster gesellt – eine andere perfekte kleine Nachtmusik. „The Turning Year“ erscheint am 22. April, „Sowiesoso“ kommt aus dem Sommer 1976. Wie es wohl klänge, würde Roger Eno die Musik von „Sowiesoso“ interpretieren, und Herr Roedelius, vielleicht mit Stefan Schneider, die Kompositionen von  „The Turning Year“ verwandeln. Imaginary albums.

 


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz