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Category: Gute Musik

Wo sind wir, wenn wir gute Musik hören – Musik, die uns zwar nicht bekifft jedoch betrifft, vertritt? Mittendrin in der Materie. Ein erstes aufmerksames Hören: Silverdays or Love, der Titel schon Genuß. Da geht es los mit losen Schlagzeugbecken, dazu dann schwebende Pianoklänge eingestreut, der Bass zirpt erstmal in den oberen Regionen rum. Der Eindruck: Denn sie wissen, was sie tun. Will man das Gehörte nachahmen, weiss man, was man will. Die Kraft entsteht aus dem Gestaltungswillen, in der Balance zwischen Abstraktion und Formlust: der schmale Grad des Weder-Noch. Der Bass des Thomas Morgan singt und spricht exakt, mit Pizzicato-Witz in punktueller Präsenz. Kein Jazzbass wie man Jazzbass spielt, weils andere schon so taten, nein: vielmehr vorbildfrei. Triomusik wie diese ortet sich diesseits der Klassik und des Jazz. Wo seicht Ravel, Debussy, Bartok anklingen, schwingt handfest stets solider Jazzrock mit. Die Eigenart des Instruments Klavier erlaubt es, zeitweise schwere Soundcluster vor sich herzuschieben, die sich dann auflösen wie Wolkenformationen. Das macht Klaviertrios so hörenswert: Variierenkönnen zwischen leichtem, fragmentarischem Spiel und voluminöser Wucht. Cracking Hearts beginnt so frei, wie man es auch von Kikuchi kennt – doch dann die Rückkehr in das Spieluhrartige; das kühle und sphärische Spiel. Was unterscheidet ein hochklassiges Jazztrio von den eher Mittelmässigen? Wir sind, wenn wir es hören, mittendrin in der Musik.

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Welch eine Szenerie: Auf einer Anhöhe eines Berges stehen die Musiker von Jokleba. Das Publikum sitzt im tiefen Schnee, schaut auf die Band – und in die Luft. Hangglider, Paraglider und Parashooter ziehen ihre Kreise zu den Klängen von Jon Balke, Per Jorgensen und Audun Kleive. Bisweilen schwer auszumachen, ob Hall und Echo künstlich sind – oder ein Produkt des Tals und der gegenüberliegenden Bergen…

„Culture in Europe developed very much in larger cities…whereas in Norway the thing you do is to go out! (lacht)… Nature is just next door to almost anybody… And I think that that is also a kind of very heavy imprint on our mentality!“ (Jon Balke, Jokleba)

Karsten war im norwegischen Hinterland unterwegs und besuchte das diesmal herrlich skurrile Jazzfestival in Voss. Karl stellt ein neues Buch zur englischen Jazzhistorie der Jahre 1960 bis 1975 vor, von Duncan Heining: „Trad Dads, Dirty Boppers and Free Fusioneers“. Dazu gibt es neue Aufnahmen mit June Tabor & Ian Bellamy (Quercus), dem radio.string.quartet.vienna sowie Splashgirl und dem Mats Eilertsen Trio, dessen neues Album mit seinem Titel den Klimaforschungen dieser Dreiviertelstunde nur zu gerecht wird: „Sails Set“…

Nach einer Auktion alter Schellackplatten in London gingen für sehr bescheidene 35.000 englische Pfd. einige Raritäten über den Tisch, die noch für Aufsehen sorgen werden. Henry Mascin hat sich 25 Schallplatten gesichert, die Bestandteil einer Holzkiste waren, angereichert mit etwa 150 Fotographien (in teilweise gut erhaltenem Zustand) aus New Orleans anno 1935, überwiegend Porträts aus dem Quartier Latin. Die Musik selbst ist eine geradezu obskure Seltenheit, welche die Versteigerer offensichtlich völlig falsch einschätzten, und die der Käufer im Laufe des nächsten Jahres mit sattem Gewinn veröffentlichen wird, „bei einem renommierten Label“, wie er etwas vage verriet.

Die Musik enthält nicht mehr und nicht weniger als reine Solostücke von Louis Armstrong. Trompete pur, keine Begleitung, ausser dem angeblich oft zu vernehmenden Stampfen der Füsse von Big Louis auf dem Holzboden des kleinen Studios im Quartier Latin. Einige der Fotos zeigen ihn angeblich bei der Arbeit, teilweise bei geöffnetem Fenster, sodass die Stadtgeräusche auf etlichen Tracks  deutlich zu hören seien, Droschken, Hupen, Kindergeschrei. Man ahnt, wie seltsam dieser Fund ist, wenn man sich kurz an die Historie erinnert:  damals trat Armstrong vor allem in Big Bands auf, und bereiste mit dem neu entstandenen Swing auf langen Tourneen die weite Welt.

Die gepressten Exemplare wurden damals nahezu vollständig eingestampft, weil man sie für reine Probeaufnahmen hielt, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt seien. Armstrong selbst stand dem Projekt ambivalent gegenüber, so dass er nicht gross protestiert habe. Wie ein einschlägig bekannter englischer Jazzkritiker nach Anhören der Aufnahmen mitteilte, handele es sich „nicht nur um einen historischen Schatz, sondern auch eine einmalige kreative Offenbarung, auf eine Stufe zu stellen mit frühen Klangdokumenten von Jerry Roll Morton.“ Zumal Armstrong mitunter das Spiel auf der Trompete unterbrochen haben soll, um in einer Art „call and response“ zwischen Trompete und Gesang hin und her zu wechseln. Mehr Details wurden noch nicht preisgegeben. Süffisant kommentierte Henry Mascin sein Schnäppchen: „niemand will das in Stereo hören!“

Im Vorfeld der Publikation dieser musikarchäologischen Sensation (mutmasslich Herbst 2014) hat sich das Management von Björk mit Henry Mascin in Verbindung gesetzt und ihm 80.000 Pfd. geboten für den Ankauf eines „Schellackschätzchens“ der Sammlung, mit dem Deal, dass das neue Björk-Album dieses Fundstück nicht nur in jeder erdenklichen Weise sampeln könne, sondern auch zeitlich deutlich vor dem offiziellen Veröffentlichungsdatum erscheinen dürfe.

In der Welt der experimentellen Popmusik erscheint Armstrongs unerwarteter „Nachlass“ fast grössere Wellen zu schlagen als im Jazz. So ist ausgerechnet der Klangkünstler Brian Eno mittlerweile in die reguläre Veröffenlichung dieser Armstrong-Box eingebunden, für eine Edel-Edition will er auf einer Cd (resp. einer Doppel-Lp) eine elektro-akustische Aufbereitung des Materials anbieten: „Es war mal ein Traum von mir, Miles Davis‘ Trompete in eine uralt klingende, verwitterte elektronische Landschaft zu transportieren. Teo Mascero hat das auf seine Art zauberhaft gemacht auf dem Stück „He Loved Him Madly“,  was ja auch eine Hommage an Duke Ellington war. Jetzt eine Zeitreise anzutreten in die Frühzeit des Jazz, wird ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang. Ich war zwar selten sonderlich scharf auf Jazz als Genre, aber ich liebe die Vorstellung, einem so singulären Sound eine Landschaft an die Seite zu stellen, die von ähnlich weit herzukommen scheint.“ Völlig offen ist, inwieweit Eno den Originalsound von Armstrong bearbeitet, zwischen purem Realismus und totaler Verfremdung.

 

 
 

Eigentlich nur ein Trio. Drei junge Norweger: SPLASHGIRL. Keyboards, Piano; Bass; Schlagwerk. Das letzte Werk „Pressure“ war radikale Kost, vertrauter Jazz meilenweit entfernt, das Pianotrio wirft kulturelles Gepäck ab. Die Drei hören nicht so sehr Monk oder Jarrett, lieber Paul Bleys Synthesizer Show und experimentelle Metal-Music a la Sunn O))). Wohl auch Bohren und den Club of Gore, diese Hypno-Schleicher, gebürtig aus der westfälischen Provinz. Grosse Töne spucken Splashgirl nicht. Sie tuen es vorzugsweise leise.

Zwei Gäste liefern zusätzliche Ideen, Eivynd Kang an der Bratsche, Timothy Mason am Modular-Synthesizer. Alles passiert in slow motion, manchmal in slow, slow motion, manchmal sogar in slow, slow, slow motion. Eine Klangspur aus dem Orient, ein weiches Rauschen aus dem Dream House von La Monte Young. Irgendwas Klassisch Getöntes. Ein Hauch Chopin? Oder doch ein Drehleiermotiv, aufgeschnappt auf einem Marktplatz im winterlichen Oslo?

Der Produzent Randall Dunn (Akron, Mountain a.o.) erinnert sie daran, dass sie doch auch eine Jazzband sind. Sie vergessen das gerne, haben aber nun doch (so rate ich mal) alten raumöffnenden Pianojazz im Ohr. Etwa Paul Bleys „Open, To Love“. Ein Meilenstein. Bley nimmt das Ausschwingen der Töne ernst. Es erinnert ihn an die Hüllkurven seines alten monophonen Synthesizers. Mit diesen Klangmaschinen konnte man noch lamgsamer in der Stille verschwinden als mit getretenem Pedal auf einem Flügel. Jede Nummer bei diesen „Freizeitritualen“ eine andere Ruhe. Eine dezent aufrührerische, eine feinnervige, eine gespannte. Raffiniert an der Idylle vorbeigespielt. Immer für ein Aufhochen gut, auch wenn nicht viel passiert, an der Oberfläche, in diesem Ambient-Hypno-Post-Jazz. Splashgirl-Musik eben.

 

Bevor im April die Klanghorizonte in eine andere Zeitzone wandern, und „Radio Nirvana“ dann die Zeitschaltuhren, den diskreten Podcast und ggf. die eigene Biorhythmik vor neue Herausforderungen stellt (Details folgen), hier die Nennung der fünf Alben, die seit Mai 1990 in meinen Ausgaben am häufigsten eingesetzt wurden. Nummer 1: Brian Eno: Another Green World. Nummer 2: Brian Eno: Music for Films. Nummer 3: Brian Eno: On Land. Nr. 4: Talk Talk: Laughing Stock. Nr. 5: Wire: Chairs Missing. Es kann nicht sein, dass Sie, liebe Leser, diese Werke nicht besitzen, ich hätte meine Mission verfehlt :) Hier, re-mixed, eine private Remniszenz an die „Musik für Filme“, u.a. mit einem historischen Plattenversand aus Pasing, einem alten Autoradio, einem Alptraum, einer Kantate von Bach, und einem Grog am frühen Morgen.

 

 

In dem Sommer (oder war es schon Herbst), in dem diese Langspielplatte erschien, lebte ich in einer ziemlich leergeräumten Wohnung, in der die Schatten einer alten Liebe noch an der Wand tanzten. Allmonatlich kaufte ich die “Sounds”, die beste Musikzeitschrift, die es je gab in der alten Bundesrepublik. Ich stöberte durch die jüngste Ausgabe, als mein Blick auf eine kleine Werbung der Firma Polydor fiel: “Der Mann im Hintergrund”, war da zu lesen, so flüstert es mir meine Erinnerung ein, ein monochromes graues Cover war abgebildet, und das Erscheinen von Music for Films wurde mit kalkuliertem Understatement verkündet. Sofort bestellte ich die Platte bei einem meiner zwei Dealer, in Unterlüss. Der andere Postversand war Jazz by Post in der Gleichmannstrasse 10 in Pasing, von dort kamen mir über Jahre u. a. viele ECM-Neuheiten ins Haus, die Schatztruhe der 70er Jahre war weit geöffnet. Unterlüss war für die Rockmusik und ihre Ränder zuständig. Zwei, drei Tage später hielt ich Music for Films in Händen. Und hörte sie zum ersten Mal. Ich habe diese Platte mit ihren flüchtigen und mich auf jede Flucht mitnehmenden Skizzen, ihren vollkommenen Unfertigkeiten, ihren Sehnsuchts- und Angst- und Traumstoffen seither unendlich oft gehört, bewusst, unbewusst, im Hintergrund, im Seitengrund, im Vordergrund. Beim Wandern (mit Knopf im Ohr), beim Schreiben, beim Einschlafen, Wachwerden, in der Fremde. Und als Alternative für “die Zigarette danach”. Beim ersten Hören wusste ich, dass diese Musik lebensbegleitend sein würde. Sie wurde rasch auch eine Medizin, sie half mir, mit den nackten Schatten an der leeren Wand zu tanzen, statt sie zu verscheuchen. Und als damals ein Riese mich aus dem Bett und meiner Wohnung im 7. Stock schleudern wollte, ich meinen Geist vergeblich mit Kakao zu beruhigen suchte, der Alptraum aber wiederkehrte, und ich mir einen heißen Grog machte mit dem guten alten Pott, dann mit dem Auto auf einen großen leeren Acker in der Nähe von Würzburg fuhr, dort den Sonnenaufgang erlebte und meine einzige tief anrührende Begegnung mit einer Kantate von Bach aus dem schräpigen Autoradio hatte, und hernach in die Alpdruckwohnung heimkehrte, legte ich Music for Films auf, und erlebte, wie sich die vollkommen irrationalen Glücksgefühle, die sich schon auf dem kühlen Morgenacker eingestellt hatten, weiter ausbreiteten, und ich mich gar freute auf die nächste Begegnung mit dem Riesen.

2013 27 Feb.

Battaglia bitte!

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Beim ersten Hören von Songways überlegte ich, Formationen dieser Konstellation fortan zu boykottieren, dachte sogar an einen Sticker mit der Aufschrift Klaviertrios Nein Danke! Dieses scheinbar elegische Geklimper an der Grenze zur Claydermanie, und schon der Titel „Songwege“ – Pathways war wohl schon vergriffen?! Als logische Fortsetzung der Ostfriesen- und Blondinenwitze lag die Kategorie Klaviertriowitze nahe („Gestern waren wir Pilze sammeln im Wald, fanden keinen einzigen. Aber überall schossen diese verrückten Trios aus dem Boden.“) Doch wiedermal war ich nicht Herr meiner eigenen Meinung: denn wer weniger mit dem urteilenden Verstand als vielmehr mit dem Körper zuhört, etwa im Modus von Yoga, Antizipation und Ahmung in Schwingung versetzt wird, dem entfaltet sich die Musik des Stefano Battaglia Trios plötzlich ganz wunderbar.

Dann nämlich klingt sie stellenweise wie ein afrikanisierter Erik Satie, mit perkussivem Groove und Kontrabass, geht weiter in die Sphären der Stille – begleitet von Windharfe-artigem Geraune – und will nichts weiter als unangestrengt und sehr entspannt sein. Eine generelle Stärke dieser in Verruf geratenen Trioformationen ist die Fähigkeit, Klänge zu modellieren und Tempi zu variieren. Es entstehen organische Gebilde abseits digital-rhythmisierter Zwangsneurose und technophiler Studiotüftelei. Der Geist eines frühen Paul Motian Trios erscheint: Le Voyage. Als Kontrapunkt kann man danach ja bei Bedarf Scott Walker hören, den zornigen John auch, wandermüde Elektronik-Klänge oder pottersche Sirenen-Walgesänge. Boykottiert wird aber gewiß das Songways-Cover. Denn es ist, wenn auch korporativ identisch in ECM-gemäßer Strenge, gänzlich unfotogen.

Wayne Shorter Quartet: Without A Net **** – ohne Netz, aber mit doppelten Böden, ungebändigter Jazz, destilliert aus einer Europatournee und einem grossen Auftritt mit dem Imani Wind-Ensemble, das kühnes Komponsieren und alten Pioniergeist eins werden lässt BLUE NOTE

Arve Henriksen: Solidification **** – grossartige Solo-Werkschau des norwegischen Trompeters und Multiinstrumentalisten auf 7 Schallplatten. Klangreisen zwischen japanischen Zen-Gärten und abgeschiedenen Kindheitsräumen, dazu ein Besuch im Klanglabor des Herrn Henriksen RUNE GRAMMOFON

Fire! Orchestra: Exit! **** – Mats Gustafsson inszeniert ein furioses Gebräu aus Free Jazz und Krautrockmotorik RUNE GRAMMOFON

Stefano Battaglia Trio: Songways – *** – fein schattierte Empfindungswelt, meditativ, unkitschig, mir persönlich dennoch eine Spurt zu weihevoll ECM

Charles Lloyd – Jason Moran: Hagar’s Song **** – Bewegende Hommage an die Ururgrossmutter und ihre mit Würde ertragene, tragische Vita, und lauter Evergreens, die verblüffend tief gehen, allerbeste Hausmusik aus Kalifornien! ECM

Tomasz Stanko & New York Quartet: Wislawa **** – ein Fuchs, der Pole in New York: erst denkt man das alles schon zu kennen, diese immer wiederkehrenden Balladen, dann aber greift der „flow“ auf den Hörer über, mit heiseren Sounds und wilden Tönen zwischendurch ECM

2013 29 Jan.

Die letzte Lanzarote-Geschichte

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In diesem entlegenen Dorf mit den schwitzenden Schatten und den weissen Mauern hat, direkt vor meinen Augen, ein paar Meter von meiner halb verspeisten gegrillten Seezunge entfernt, ein Surfer sein Brett abgestellt. Der Wellengang ist so lala, wir sind ja nicht in San Diego. Ich gucke eh nur zu, und bin die halbe Steilküste im Norden der Insel abgewandert, auch die Stelle, wo Pedro Aldomovar eine Szene seiner „Zerrissenen Umarmungen“ gedreht hatte. Der Surfer kommt aus Swansea, und so hatten wir gleich ein Fussballthema. Er hat in Deutschland studiert, und, spätestens, als er mir von seiner Liebe zur Musik von Tocotronic erzählt, wechseln wir ins Deutsche. Ich frage ihn, ob er das neue Doppelalbum dabei habe, und er sagt, klar, sogar richtig als CD, und er höre seit Tagen nichts anderes. Tocotronic-Freunde hören deren neue Platten am Stück, tagelang, ewig, die Texte von Dirk von Lowtzow erzeugen eine Sucht, in ihrer ganz besonderen Manieriertheit: was im ersten Moment wie eine Botschaft daherkommt, zerbröselt zu leerem Gedresche, um im nächsten Moment eine neue Sinnlichkeit zu enthüllen. Sie sind die grossartigste Schrammelband Deutschlands, und mischen in ihren 4-Spur-Primitvismus eine vielfarbige Wörter- und Empfindungswelt, die aus uns allen einen stimmgewaltigen Chor (am Ende der Welt, in fucking Lanzarote hinterland) macht, denn kaum Schöneres gibt es, als auf einem Tocotronic-Konzert (oder während die CD meines englischen Kumpels im Auto-Player liegt, zwischen Caleta de Famara und Tahiche) die Verse mitzusingen, in all ihrer Lust am Absurden und Verrückten dem Groove zu folgen, der erhebenden Melodie, welche all diese von Körperlichkeit, Gebrechen und psychedelischer Philosophie gezeichneten Lieder zum idealen Tanzmonster, Luftgitarrenstimulator und Bettgefährten vor einsamen Träumen macht.

Nein, ich bin keine Poolleiche, normalerweise nicht, aber heute, trotz Wolken und mässigen 20 Grad Celsius, überkommt mich das Verlangen, mir eine Liege am Pool zu greifen. Die Poolbar hat auch schon geöffnet, warum also nicht auch noch einen Caipirinha!? Als ich hier vor einer knappen Woche in der Hotelanlage ankam, in der Abenddämmerung, sass ich auf meinem Balkon umd liess über iTunes und Lautsprecher ein ganz feines altes ECM-Gitarrensoloalbum laufen, Bill Connors‘ Swimming With A Hole In My Body. Es wurde Nacht, und ich fotographierte die tanzenden Lichter.

Und dann, einen Abend später, hörte ich „Tusk“. Als das Doppelalbum von Fleetwood Mac damals erschien, Ende der Siebziger, mochte ich auf Anhieb das Cover, aber flüchtig gehörte Songs liessen mich unbeeindruckt. Dabei hätte mich aufhorchen lassen sollen, dass hier die Dämonen von Lust und Liebesleid ähnlich drastisch ausgetrieben wurden, wie ABBA es einst taten, kurz vorm Ende. The winner takes it all … Und? Ja! Beeindruckend, wirklich beeindruckend sind die Stimmungsumschwünge, das ganze Theater seelischer Fassungsverluste. Klingt Stevie Nicks auf dem ersten Song ausgebrannt und abgründig, macht sich auf dem letzten Song ein gelassener Frohsinn breit, der diese Rosskur in Liebeshändeln nahezu friedfertig ausklingen lässt. Dazwischen wird aber so viel Achterbahn gefahren und Geschirr geschmissen, tief unentspannte Ruhe geübt und Sex als Betäubung erprobt, Todtraurigkeit in Schönheit verwandelt, dass das Ende vom Lied, das Ende aller Lieder, mit einem Seufzer der Erleichterung zur Kenntnis genommen wird.

 
 

Lanzarote Abendstimmung - Foto © M.Engelbrecht

 
 

Jetzt liege ich hier entspannt (with a hole in my soul), mittlerweile ist der letzte braune Zucker aus meinem Longdrink geschlürft, fehlt nur noch, dass Joeys Version von „The Girl From Ipanema“ mir den sanften Rest gibt! Ich glaube, diesen Evergreen habe ich zum ersten Mal gehört, als ich, lang ist’s her, mit meinen Eltern im Sommerurlaub auf Mallorca war. Man kam zu jenem Hotel nur auf ganz verschlungenen Wegen, es war ein versteckter Ort – ich las damals, was für eine Verschmelzung von behüteter Kindheit, wilden Träumen und Urängsten, Albert Camus‘ „Die Pest“, trank Schokolade, sass auf kleinen Felsvorsprüngen am Meer, fotographierte, wie Mario Adorf und Lex Barker (Old Shatterhand!) sich ihren Salat in den Mund schoben, und hörte, fast jeden Tag, aus kleinen Boxen an der Bar, Astrud Gilbertos traumverlorenen Gesang. Meine Mutter zeigte mir auch einen bekannten englischen Schauspieler, einen aus dem Charakterfach, der nur wenige Jahre später Selbstmord beging. As time goes by …

 

 

Dies ist Morgen-, Abend- und Nachtmusik. Entspannt, beiläufig, unauffällig. L. Pierres Album „The Island Come True“ lebt von schlichten und schlicht ergreifenden Momenten. Ein murmelnder, in Schleifen sich drehender Kindergesang, eine Opernstimme, die aus grosser Entfernung erklingt und mit einem „groove“ angereichert wird, der dieses feine Album (mit seinen „field recordings“ und Samples) äusserst entdeckungsfreudig ins Fahrwasser von Les Baxters Exotica-Platten aus den 50er und 60er Jahren trudeln lässt, allerdings mit extrem reduzierten Sound und einem damals eher selten zu vermehmenden melancholischen Grundton. Ich bin mir sicher, L. Pierre kennt Les Baxters „The Jewels of the Sea“, Schauerromantik pur, easy listening der kunstvollsten Art und schwebende Klangbilder. Aus Orchestrierungen werden bei L. Pierre Fragmentierungen. Seltsam verloren wirkende Musik erzählt von flüchtigen Erscheinungen, und wartet mit einigen süchtig machenden Melodielinien auf, bei denen letztlich gar nicht wichtig ist, ob Aidan Moffat (aka L. Pierre) sie gefunden oder geschrieben hat.


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