Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Die Nacht der Klanghorizonte am 19. Juni beginnt mit einem langen Musikstück, ich sage vorher kein Wort. Wenn man die ersten Minuten davon gehört hat, weiss man ohnehin, wo der Bartel den Most holt in dieser Nacht. Es gehört zu einem Genre, das gar nicht so fest umrissen ist, und von Nik Bärtsch „ritual groove music“ genannt wird. Damit verhindert er die üblicherweise ins Spiel gebrachten Wörter mit langen grauen Bärten, wie „Jazz“, „Minimalismus“, „Ambient“ und „Klassik“. Klassik hat den längsten Bart, historisch gesehen – um ihn zu stutzen, beschränken sich einige auf „Zeitgenössische Klassik“. Wörter wie „zeitgenössisch“ halten sich auch nur noch im Feuilleton wacker aufrecht, sie sind massiv einsturzgefährdet, so obsolet wie heutige Parteitage der von Gerhard Schröder abgewirtschafteten SPD, auf der man sich immer noch feuchtfröhlich als „liebe Genossinnen und Genossen“ anredet. Zur „ritual groove music“ könnte man leichterhand The Necks zählen, „Joshua Abrams & The Natural Information Society“, Nik Bärtschs Ronin sowieso, und das wunderbare Album, das meine Radionacht einleiten wird. Interessant, das ich bei dem ersten Stück der CD hier und da an die feinen repetitiven Wirbel der „ride cymbal“ von Eberhard Webers Album „Yellow Fields“ dachte! Ein Album, das man „organische Puls-Musik“ nennen könnte (wenn das nicht zu sehr nach veganem Lebensstil klingen würde), und bis heute nichts von seiner Magie verloren hat. Mein erstes Album der Nacht ist ein Werk, dem man daheim am besten von Anfang bis Ende lauscht. Es ist, nebenbei bemerkt, exzellent aufgenommen, und muss keineswegs laut gehört werden. Die Musiker leisten sich den Luxus, ihre Tableaus in oft recht hohen Tonlagen anzusiedeln, ohne schrill zu werden. Die Luft ist halt dünn in solch entlegenen Terrains (und Nachtlandschaften), über denen das  beste Opus, das diese Bande Gleichgesinnter je gemacht hat, schwebt, in all seinen aufregenden Perspektivwechseln, Eindunklungen, und Verwirrspielen. Ich verleihe dem Album 4 1/2 Sterne. Soviel, wie John Green in seinem tollen Essayband über das Anthropozän den Höhlenmalereien von Lascaux gibt. A strange, strange world, und, for sure, one my 33 favourite albums of 2021. Dim the lights, and follow the tapestries. 

 

1 – Am Ende eines Gespräches

 

In my next radio night I will play a long track from Robert Ashley‘s masterpiece „Private Parts“. A special voice tells a story full of apparently marginal things (but nevertheless a meditation on life), accompanied by interesting „background music“. Recommended for your ears, Kurt, also,  because of the way you are working with  language on Showtunes.“

“The  name rings a bell, Michael. Special background music – that was the  case, too, when Bob Dylan read his speech for the Nobel Prize, just being accompanied by a piano.“

“A propos piano. In a review of Showtunes, I put your album alongside some other albums from different genres that, for me, have a similar kind of nakedness, intensity and intimacy. And one of them was a piano solo album by Paul Bley: „Open, to love“.  Go for that, Kurt, it‘s awesome midnight music.

„I will, Michael. I love ECM“.

 

(transcribed from memory, from yesterday‘s Zoom-interview with Kurt Wagner (Lambchop) in Nashville, Tennessee)

 

 

 

 

2 – Einige dieser Sommerabende

 

Der Sommer, der morgen beginnt, und obwohl er schon ein paar Tage offenkundig war, rasch wieder von einer Regenfront und kühlen Winden verprellt wird, hatte genug warme Wiesen parat, um sich darauf zu räkeln, in die neuen Kurzgeschichten von Haruki Murakami abzutauchen,  oder sich vom feinsinnigen Humor der Essays von John Green entführen zu lassen – und obendrein gab es die angenehm kühlen Abende mit verlangsamten Blicken zu den Restlichtern dieser Tage (Laternen, Abendrot, Grillkohle), sowie Alben, die, wie in alten Zeiten, zur Nacht hin, abwechselnd den Plattenteller blockierten: immer wieder „Showtunes“ von Lambchop, „Promises“ von Floating Points, und das Album mit mehr als einem Hauch einer alten Stadt der Mayas. „Every repetition is a form of change“ (Oblique Strategies, oder Heraklit, ganz wie man will).

 

 

3 – In bester Gesellschaft von „Showtunes“

 

Mark Hollis’ solo album, Joe Lovano’s „Trio Tapestry“, Nico‘s „The Marble Index“,  Paul Bley‘s „Open, to Love“, Brian Eno‘s  „Another Day On Earth“, Prefab Sprout‘s „I Trawl The Megahertz“, John Cale‘s „Music For A New Society“, and the last album of Jacques Brel, the one with a pale blue sky and pale white clouds

 

 

4 – Nachspiel

 

Trio Tapestry‘s sense of melody, space and  letting-go  is immaculate. I will always remember their first record, one of the jazz miracles of 2019. For me, it was the best album Joe Lovano ever made, with Manfred Eicher’s perfect sequencing of the tracks. Listen to the vinyl: suspense, sound and silence in perfect union. It is quite natural that this follow-up lives up to the high standard of the first meeting in New York. Now with a deeper touch of Provence pastel and colours at dusk. You can think of every jazz writing cliche of praise, from „filigree“ to „elemental“, and be sure that Lovano, Crispell and Castaldi are breathing new life into it. After the first three pieces of pure baladry (written by soul, not by the book), the appearances of sound take more and more adventurous side steps, from moments of pianistic unrest and upheaval, to an exploration of metal and sound in Castaldi‘s drum figures. A zen-like purity‘s bold pairing with an adventurous spirit. „Garden of Expression“ delivers everything with grace, selflessness and the most nuanced sense of  tempo, time standing still and a flow of undercurrents. If this sounds slightly over the top, let the music take over, dim the lights and follow the tapestries!

 

2021 30 Mai

Nachschlag

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Ohne Gegenmaßnahmen hätte die Coronavirus-Pandemie dem Imperial College in London zufolge in diesem Jahr mehr als 40 Millionen Menschen weltweit das Leben kosten können. Ein paar Unwägbarkeiten gibt es bei solchen Studien immer, aber natürlich stimmt die traurige Tendenz dieser grossen Zahl. Nun darf man sich auch ohne grosse mathematische Anstrengungen einen weiteren Fakt vor Augen führen: als die zweite Welle hierzulande noch recht langsam Fahrt aufnahm, wurde von vielen Wissenschaftlern eine Strategie namens „Zero Covid“ entwickelt, die, wäre die Bundesregierung ihr zeitnah gefolgt, Tausenden hierzulande das Leben gerettet hätte.

 

Allein die zähen Strukturen des Föderalismus und eine in der zweiten Welle lange Zeit erschreckend entscheidungssschwache Regierung führten zu permanenten Verzögerungen, bis die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes und die „Bundesnotbremse“ mit Ach und Krach umgesetzt wurden. Was Drosten, Brinkmann, Lauterbach und Co. frühzeitig angemahnt hatten, wurde denunziert (etwa von der FDP), und so lange „ausgesessen“, bis man gar nicht mehr anders konnte. Das katastrophale Agieren der EU bei der Beschaffung von Impfdosen (in der ersten Phase) sorgte sogar dafür, dass Boris Johnson (ein von Grund auf antidemokratischer Politiker) bei Befürwortern des  Brexits fast zum Helden stilisiert wurde, und nun seine Ziele wie etwa die Zerschlagung der BBC und des kritischen Journalismus in England weiter verfolgen kann.

 

„Zero Covid“ hatte nie das naive Ziel, das Virus auf die Zahl 0 zu bringen, wie manche behaupteten, um den fehlenden Realismus des klugen und äusserst pragmatischen Papiers der Wissenschaftler fälschlich zu beklagen, sondern u.a. durch konsequente Shutdowns und eine zwangsweise Verpflichtungen aller wirtschaftlichen Betriebe zu fortlaufenden Testungen für eine massive Eindämmung zu sorgen. Was Neuseeland vorgemacht hatte, hätte auch hier zu umfassenden Erfolgen geführt.

 

Nun ist man auf einem vermeintlich guten Weg, den man, so viel effektiver, viel früher hätte beschreiten können. Und so wird es wohl kommen: statt eines dringend erforderlichen poltischen Wandels, wird im Herbst eine schwarzgelbe Koalition die Regierung überehmen, mit dem unsäglichen Lobbyisten Lindner in der rechten Flanke, und Armin, einem Kanzlerdarsteller par excellence, der sich, der grösste Witz in diesem Szenario, auch noch als Klimaschützer inszeniert, und am liebsten im Wettstreit mit seinem Spezi Söder reihenweise Wälder retten und Bäume umarmen möchte. Wäre es nicht so traurig, es gäbe viel zu lachen.

 

Das vierte Album von Trees Speak aus Arizona ist eine weitere aufregende Entwicklung in ihrer schnell wachsenden Diskographie,“ schreibt Martin Simpson in „AllMusic“, „und verpackt eine Fülle von Ideen in seinen 18 Tracks. Mit jeder weiteren Veröffentlichung hat die Gruppe ihren Fokus gestrafft, ihre ausschweifenderen Impulse zurückgedrängt und abendfüllende Reisen mit einem echten Sinn für Progression geschaffen. PostHuman ist ihr bisher filmischstes Werk, bei dem jeder Track einer eigenen Filmszene gleicht, die oft nahtlos ineinander übergeht, um die Kontinuität zu wahren.

 

In den Klanghorizonten am 19. Juni wird Musik aus allen drei Alben des Duos zu hören sein, die zwischen 2020 und 2021 bei Soul Jazz Records erschienen sind (ihr Debut kam auf einem kleinen italienischen Label raus) –  „Ohms“. „Shadow Forms“, und nun „PostHuman“. Zudem beantworteten die Brüder Diaz ein paar meiner Fragen via Email. Hier ein kleiner Auszug. Und die Innenseite des Klappcovers der Vinyl-Version. An Jan Reetzes Buch („Times & Sounds – Germany’s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond“) zeigten sie sich hochinteressiert, und die Leküre wird diesen (wie ich vermute) sehr jungen Klangforschern wohl noch manche Tür öffnen. 

 

 

 


„We accidentally stumbled onto the nexus of Kraut-Rock. We believe they (the original makers of the Kraut sound) were experimenting with minimalism as well. It was very organic and unintentional that we crossed paths with the philosophy behind that style of expression. It was the most natural thing we could do at the time. Some of the names that kept coming up for us and still do to this day are Schoenberg, Stockhausen, and John Cage. They still influence us to this day.“

„Showtunes“ is smooth, cool, laid back and quite dreamy. Lazy even. It’s what Kurt Wagner does best – take you for a slow late night drive around less familiar territory. I’m in, and along for the ride.“

(dylan37, The Guardian)

 

Das erste Mal hörte ich den Namen Lambchop, als David Byrne in einem nun auch schon uralten Interview davon sprach, wie ihm das Album „How I Quit Smoking“ gefalle. Als jene Songs dann bei mir landeten, ahnte ich, das würde eine neue Lieblingsband. Der ehemalige Fliesenleger – und eine Band wie einen Malkasten einsetzen. Seitdem besorgte ich mir jedes Album. Vor Jahren wurde „What Another Man Spills“ für eine Vinyl-Ausgabe neu remastert, und dieses Remaster war so unheimlich gut, dass ich das Werk, obwohl ich es von früher kannte, gleichdam neu entdeckte. „Is A Woman“ galt früh als Klassiker, „Nixon“ als ihr vielleicht berühmtestes Album, und „Damaged“ war lange Zeit mein heimlicher Favorit. Diese Formation, um den Sänger und Komponisten Kurt Wagner herum, hörte nie auf, neue Wege zu beschreiten, und als er dann begann, die eigene Stimme zu verfremden, mit „FLOTUS“, musste ich nicht überredet werden – Effekte sind bei Lambchop keiner Mode geschuldet, immer dem musikalischen Ausdruck. Und nun also „Showtunes“. Ein Wunderwerk, und wenn ich die gute halbe Stunde höre, etwa auf weissem Vinyl mit 45 Umdrehungen pro Minute, gibt es keinen überflüssigen Moment – all diese Samples, akustischen Vignetten, dunklen Winkel, Midi-Verwandlungen, Murmelmelodien, Interludien etc. fesseln ohne Ende, und entfesseln etwas in mir. Von den lyrics und dem Hund auf dem Cover ganz zu schweigen. Wie Kurt Wagner Motive des Erhabenen (Oper, Broadway, Sinatra) raffiniert in eine erfüllte Leere laufen lässt, ist atemraubend, und gipfelt im letzten Song, der en passant, in einer eingigen Phrasierung, dem späten Scott Walker zunickt. Flüchtig gehört, könnte „Showtunes“ seltsam fragmentiert wirken, dabei ist es formvollendet. Man stelle es ins Plattentegal neben „Mark Hollis“, „Trio Tapestry“, „The Marble Index“,  „Open, to Love“, „Another Day On Earth“, „I Trawl The Megahertz“, „Music For A New Society“ und Jacques Brels letztes Studioalbum, das mit den Wolken und dem blauen Himmel. In genau diesen Regionen bewegt es sich, und bleibt doch ganz bei sich.

 

The new songs comprised guitar tracks that were converted into MIDI piano tracks, over which Wagner laid Broder’s grand piano, Olson’s assorted sounds, horns by CJ Camerieri, turntable work from Twit One, some free-jazz drumming from Eric Slick and, finally, double bass from James McNew. “I always thought this kind of record needed this upright bass element,” says Wagner. “Very much like some classic jazz piano-trio record and James was always on my mind with that.”

(From Uncut, 2021)

 


Eine Freude, wenn in die Jahre gekommenen Wegbegleitern immer noch Bereicherungen gelingen
, und sie sich nicht darin erschöpfen, mit jeweils neuen Alben allein das Feld unserer Erinnerungen hübsch aufzubrezeln. Ach, weisst du noch – das ist nicht die Haltung Entdeckungsreisender in Sachen Musik.

Und so hat Kurt Wagner, als Lambchop-Mastermind und ruheloser Erforscher von Songhorizonten, auch in den letzten zehn Jahren weiterhin erstaunliche Arbeiten abgeliefert, und mit „Showtunes“ nun ein sicher nicht unmittelbar griffiges, aber rundum geglücktes Meisterwerk, experimentell und tiefgründig zugleich. Es bewegt sich in solch einsamen Höhen wie Mark Hollis‘ Soloalbum, oder Prefab Sprout‘s I Trawl The Megahertz. Eine gute halbe Stunde lang, mit keinem einzigen verschwendeten Moment, garantiere ich (natürlich ohne Gewähr und Reiserücktrittsversicherung) aufregende Erlebnisse mit jedem neuen Hören. Es gibt das Album auch, in einer Sonderedition, auf weissem  Vinyl, in einer Gatefold-Ausgabe mit 45 rpm (!). „Showtunes“ ist eines unserer Alben des Monats Juni (s. Kolumne rechts), und es ist ganz sicher eines meiner Top 5 Alben des Jahres 2021. Ich bin restlos begeistert.

Ich habe Brian dazu eine Mail geschickt, u.a. auch den substanziellen, grossen Artikel über Kurt aus der Juli-Online-Ausgabe von Uncut („The Conceptualist“). Es würde mich sehr erstaunen, wenn Eno nicht Feuer und Flamme wäre, was Kurt Wagners neue Arbeit beitrifft, entstanden in fast mönchischer Zurückgezogenheit, zuhause in Nashville, Tennessee. In den Klanghorizonten am 19. Juni werden zwei Songs aus „Showtunes“ auftauchen, in bester Gesellschaft von Marianne Faithfull, Robert Ashley, Stephan Micus, und, ähem, Brian Eno. Ein „phoner“-Interview wird angefragt, mit Kurt Wagner. Es wäre so ungefähr unser fünftes Interview. 

playlist of nighthawk‘s late night radio in June:

Brian Eno: instrumental track
talking 1 – Michael (on this hour, on Showtunes and She Walks In Beauty)

Marianne Faithfull: from She Walks In Beauty
Lambchop: from Showtunes
KURT WAGNER SPEAKING (possibly)
Stephan Micus: short instrumental track from Winter‘s End (ECM)

short story by  Martina Weber on Robert Ashley‘s Private Parts
Robert Ashley: The Park, from Private Parts (1977 – Lovely Music)
short story by Michael on Robert Ashley’s Private Parts

Stephan Micus: short instrumental track from Winter‘s End
KURT WAGNER SPEAKING (possibly)
Lambchop: from Showtunes
Marianne Faithfull: from She Walks In  Beauty

talking 2 – (Michael on everything)
Brian Eno:  instrumental track 

 

2021 22 Mai

Rundmail an alte Klassenkameraden

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Horst rief mich natürlich an, als er von Peter Siemons‘ Tod erfahren hatte, hatte ich doch von allen, eine Zeitlang zumindest, den engsten Kontakt von uns zu ihm. Aber das ist schon lange her. Und die Erinnerungen liegen unter einem leicht dunstigen Schleier. Ein paar Szenen werde ich nicht vergessen, oder einige Rituale, die uns durch die Schuljahre begleiteten, Peter und mich, in der Zeit, in der wir uns etwas näherkamen.

Peter und Café Beckmann, das war so eine wiederkehrende Szenerie, und er sass, wenn man die Treppe hochging, gerne hinten rechts am Fenster, von wo aus er den ganzen Raum im Blick hatte. Wir hatte  beide unsere kleine Nietzsche- und Schopenhauer-Phase, und er war ein Musikfuchs. Unvergessen, wie ich mich im Café zu ihm setzte, und er das Doppelalbum von Soft Machine, „Third“, hervorkramte. Seine Begeisterung infizierte mich, und als ich Jahrzehnte später Robert Wyatt im Purcell Room an der Londoner Westbank traf, musste ich an Peter denken, und dass meine Geschichte mit Soft Machine und ihrem Drummer und Sänger Robert Wyatt damals früh in den Siebzigern begann.

Einmal, als Peter eine existenzielle Krise hatte, stand „unser Egon“ vor der Haustür. Der einige Besuch, den ich je von einem Lehrer hatte. Er erkundigte sich sehr empathisch nach Peter, und obwohl ich die Details vergessen habe, sagte er später irgendwann etwas davon, dass ein besonderer Fall auch besondere Massnahmen erfordere. Es ging um Unterstützung.

Damals ging das Wort Depression um, und auch, dass er dagegen Elektroschockbehandlungen bekam. Sehr schnell war man damals noch mit der Diagnose „endogene Depression“ bei der Hand, ein Stigma, leichtfertig verteilt. Ein grosser Teil der schnell als stoffwechselbedingt schubladisierten Depressionen sind psychoreaktiv, und eine gute psychotherapeutische Behandlung indizierter als das Standardrepertoire aus Antidepressiva (mit erheblichen Nebenwirkungen auf den Alltag) und Schocktherapie (mittlerweile weitgehend ein No-Go). Könnt ihr euch vorstellen, was solch eine „Behandlung“ bei Peter ausgelöst hat?! Über fragwürdige kurzfristige Effekte hinaus?! Es hatte etwas Entwürdigendes für ihn, glaube ich. Und es hat Spuren hinterlassen. Nicht so viele Jahre später, und er hatte sich aus dem „normalen Leben“, den gewohnten Rollenmodellen für Lebens- und  Berufsplanung verabschiedet. Ausgeklinkt.

Aber erstmal tauchten wir beide als Studenten in Münster auf. Da sass ich öfter in seiner Wohnung, während er paffte, ich Tee trank, und jeden Donnerstag Carmen Thomas mit dem Ü-Wagen in NRW unterwegs war. Wir redeten über Bücher und Musik. Einmal fuhren wir abends nach Dortmund, und auf der Mallinkrodt-Strasse (Gott, so oft da rauf und runter gefahren, und ich weiss gar nicht genau, wie man sie schreibt) sah ich von weitem eine Polizeikontrolle. Es war die Zeit, als Terroristen gejagt wurden. Ich drehte um, musste dazu aber mit meinem VW über die Schienen (das waren leider Schottergeleise, wie ich zu spät merkte), und der  Unterboden meines weissen Käfers schlug heftig gegen das Metall der Schienen. Das war nicht unauffällig, und keine Minute später wurden wir mit Blaulicht gestellt, die Papiere kontrolliert, der Wagen durchsucht. Nicht lustig. Peter war dabei, seine damalige Freundin, und ich.

(Das ist jetzt keine besondere Geschichte, aber sie fiel  mir in den letzten Tagen ein, wie manch andere kleine flüchtige Szenen. Wenn man von einem hört, dass er nicht mehr da ist, und einem mal wirklich etwas bedeutet hat, kommen einem auch ganz banale Momente in den Kopf, so, als wollte man noch einmal an den und den Moment zurückkehren. Noch einmal in der Pizzeria nahe am „Atelier“ sitzen, auf der Couch, Peter, Petra, Sylvia und ich, und aus den Lautsprechern kam „Sweetnighter“ von Weather Report. Oder „Also sprach Zarathustra“ in der Fassung von Deodato. Noch einmal mit Peter, Babsi, Klaus und Thomas (Holtz) in Babsis Dachboden hocken, Leonard Cohen hören, und high werden von Räucherstäbchen.)

Aber dann setzte ich mein Studium in Würzburg fort, und das Ruhrgebiet wurde für etliche Jahre ein Ort, in dem man immer weniger Freunde hatte – nur Heimat halt. Ein paar alte  Bekannte. Spät in den Siebzigern, früh in den Achtzigern, traf ich Peter Siemons noch einige Male. Ich glaube, da spielte er noch Tischtennis. Und wohnte in der Leipziger (?) Strasse. Ein Wirbelwind, wann immer ich ihn da in seinem Element sah. Aber dann verlor sich  auch dieser Kontakt – wirklich nah waren wir uns nicht mehr.

Einmal sah ich ihn noch, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, von ferne auf dem Westenhellweg, aber ich verspürte nicht den Impuls, zu ihm zu gehen. Keine Freude. Eher eine Art Respekt vor seinem Ausklinken aus alten Banden, und  dieses etwas seltsame Gefühl der Melancholie, ihn vielleicht besser in Ruhe zu lassen.

 

Rest in peace, Peter Siemons!

 


In der ersten Folge der sehenswerten Doku-Serie über das Jahr 1971 mit dem grosssprecherischen  Zusatz „the year that changed everything“ tauchen einige ikonische Alben auf, die – 1971 – Musikgeschichte geschrieben haben, und das mit guten Gründen. John Lennons „Imagine“ etwa, oder Marvin Gayes „What‘s Going On“. Wäre eine Serie über das Jahr 1968 gemacht worden, Van Morrison hätte grosse Chancen gehabt, mit seinem Klassiker „Astral Weeks“ gewürdigt zu werden. Aber man wäre schön blöd, wenn man den allgemeinen Konsens folgen würde und denkt, so könne man zielsicher die Meilensteine fürs eigene Leben abgreifen. Mir lag „Veedon Fleece“ lange Zeit viel mehr am Herzen, aber damals erhielt dieses bukolische Opus mit irischem Flair so manchen Verriss. Der amerikanische „Rolling Stone“ wartete geradezu mit einem vernichtenden Urteil auf. 
Jim Miller machte sich über die Platte lustig und warf mit unfreundlichen Begriffen wie „abortive“, „aberration“ und, am direktesten, „pompous tripe“ um sich.

 

Ich war dem Album von Anfang an verfallen, aus ganz und gar eigenen Motiven. Die Musik verzauberte mich. Der „Rolling Stone“ machte sich ja auch, später, nicht weniger lustig über Joni Mitchells Album „The Hissing of Summer Lawns“. Der Melody Maker und der NME verrissen unisono Brian Enos „Music For Airports“, und Herr Hilsberg liess in der „Sounds“ kein gutes Haar an „London Calling“ von The Clash. Werch ein Illtum, könnte man mit Ernst Jandl ausrufen, aber es ist auch komplett egal. Ob einem Album der jüngeren Musikhistorie Meisterwerkstatus zuerkannt wird, liegt an vielen Faktoren –  eine Wahrheit „an und für sich“, im philosophischen Sinne, gibt es nicht, schon gar keine Hierarchisierung sprachlicher Rollenmodelle.

 

Und  nur, weil von Zeit zu Zeit ein anderer „common sense“ in Erscheinung tritt, sollte man keineswegs in irgendeinen Jubelchor einstimmen, hinsichtlich bestimmter Langspielplatten. Die Sache mit  der Uhl und der Nachtigall, genau! Ob ein Album  eine besondere Wertigkeit zukommt, existenziell wird, sowas wie „life‘s company“, bleibt besser  den ganz persönlichen Entdeckungsreisen vorbehalten, und keinem Kanon oder Guru.

 

Leonard Cohen hielt „Veedon Fleece“ übrigens für „einen Traum von einem Album“, das nahm ich später schmunzelnd zur Kenntnis, als die Platte schon ziemlich verwittert und abgespielt war. Mittlerweile liebe ich die beiden Van Morrison-Alben gleichermassen. Jedem seine eigene kleine grosse seltsame unermessliche Welt. (Wie Van jetzt den Corona-Leugnern nachplappert, in peinlichen Protest-Attitüden und lächerlichen Songs, sich dabei selten blöd entrüstet, zeigt natürlich, dass er derzeit einen gewaltigen Schuss hat.)

 

Und damit ist es nun Zeit, „auf den Hund zu kommen“. Das bislang schönste, hinreissendste, betörendste Album des 21. Jahrhunderts mit einem Hund auf dem Cover ist, meiner unmassgeblichen Meinung nach, „Showtunes“ von Lambchop. Und in meinen „all time favourites of albums with a dog (or two) on the cover“ ist es vor wenigen Tagen von 0 auf Platz 2 gesprungen, knapp hinter „Veedon Fleece“, und noch vor „Tusk“ von Fleetwood Mac, und vor Johnny Cashs „American Recordings“ aus dem Jahre 1994. Unglaublich, aber wahr. Übrigens, in diesen „Hunde-Charts“ liegt, bei mir, ein Album von James Taylor auf Platz 7. Der Wolf (Canis lupus) ist bekanntlich  das größte Raubtier aus der Familie der Hunde. Sinnika Langelands jüngstes Werk, „Wolf Rune“ ist mit von der Partie, auf Rang 9.  Good night, and good luck!

 

NACHSPIEL:

 

Lajla: Hunde, gemalt von Goya.
Gruß aus dem Prado.

Michael: Toll, das Bild links gefällt mir auch.
Ist das auch ein Hund?
Du bist wirklich in Madrid. Unbelievable.

Lajla: Ja es ist ein Hund, der ins Leere schaut.
Mich hat das Bild von Goya sehr beeindruckt.
Madrid ist der Hammer. Ich war noch nie hier.
Fahre Montag wieder auf die stille Insel.
I just needed a change

Michael: Das scheint ein Druck zu sein.
Aus dem museum store.
Kannst du ihn für mich kaufen,
den Hund mit dem Blick ins Leere?
Und ihn mit auf die stille Insel nehmen?
Ich komme im August und hole ihn ab.

Es war einmal eine Stimme, die man nie zuvor in der Popwelt gehört hatte: hell, aber nicht scharf, sang sie sich auf „The Kick Inside“ durch einen englischen Zaubergarten, und man staunte nicht schlecht, dass David Gilmour von Pink Floyd ihr Mentor und Produzent war. Das Album war mehr “pink” als “floyd”, und begleitete mich durch einen Würzburger Sommer, es passte gut zu Obstwein und Flussspringen. Heute hat Pitchfork eine Besprechung von Kate Bush‘s „Hounds of Move“ (1985) veröffentlicht und dem Album die höchste Bewertung gegeben: eine 10. (eine insofern „historische Besprechung“, da es, 2011, die Reihe der „Sunday Reviews“ der Pitchforks eröffnete). Diese Sonntagsbesprechungen sind also so alt wie dieser Blog. Ein Album, das mich nie berührt hat – jeden Versuch, ihm nahezukommen, habe ich rasch abgebrochen. Viele halten das Album für ihr absolutes Meisterwerk. Und für eines der grossartigsten Alben der Achtziger Jahre. Tatsächlich habe ich genau drei Lieblingsalben der Engländerin, und das sind, in zeitlicher Abfolge, The Kick Inside (1978), Aerial (2005) und 50 Words for Snow (2011). Als 1982 „The Dreaming“ erschien, war ich ganz wild auf das Werk, weil ich in jenem Jahr ohnehin viel träumte (total verliebt am Ende der Welt), und auch,  weil Eberhard Weber im Vorfeld als Mitwirkender angekündigt war.  Aber auch das Album konnte mich nicht faszinieren. Was waren die Gründe, hier und da? Rückblickend kamen mir beide Alben wohl mit zuviel Hall herüber, die Lieder erschienen mir überfrachtet, und die Synthesizersounds pompös und künstlich. Das reime ich mir jedenfalls nun, aus der Erinnerung, so zusammen. Zu gerne würde ich hier von jemandem eine „Liebesklärung* an Hounds of Love“ lesen. Sollte das passieren, werde ich das Album demnächst spät abends auflegen, und am Tage darauf von dem Hörerlebnis erzählen.

* schöner Verschreiber: „Liebesklärung“

Der eine hatte ein Clownsgesicht mit kleinen roten runden Bäckchen. Der zweite ein blutiges Gesicht, Kunstblut, und lachte. Der Dritte sah auch leicht lädiert aus und war Jochen S.. Wir sassen in einem grossen Restaurant, die Arbeit war getan, und doch fragte ich ungläubig in die Runde: „Wir sind doch nah an den Hollywood Hills?“Dann stimmte einer einen Gassenhauer an, der mir irgendwie bekannt vorkam. Wir sangen aus voller Kehle, während wir freundlich bedient wurden. Die eine Treppe tiefer sitzenden Gäste des Diner stimmten ein und alle sangen diese alte amerikanische (?) Melodie. Rückblick: wir hatten wohl die Folge einer Krimiserie abgedreht, und ich weiss noch genau, wie ich die Treppe zu meinen Jungs hoch ging und ihnen zurief: „Ist doch toll, wenn man Detektiv ist!?“ Von dem zuvor erledigten bzw. abgedrehten Fall blieb mir nur das Ende in Erinnerung (beim Erleben der Geschichte hielt ich alles für real und keineswegs für einen Film). Es ging um Kunstdiebe, die sich Zugang zu einer verlassenen Edelvilla verschafft hatten. Schlussendlich konnten wir Vier die Warnanlage von draussen aktivieren, und die zwei Gängster in Innenräumen einschliessen, bis die Cops kamen. Es war ziemlich aufregend davor, aber, wie gesagt, no more plot memories. Als wir nun beieinander sassen, zu Pizza und Bier, merkte ich, dass dies ein Traum war – mein Bewusstsein schaltete sich ein, lucid dreaming! Ich lachte laut, und teilte unserem detektivischen Quartett mit, dass dies hier zu allem Überfluss ein Traum sei, und der mit dem Kunstblut sagte, unvergesslich: „Ich fühle mich vollkommen real!“ Alles klar, dachte ich, rief ihnen „see you later, alligator“ zu und flog in den Himmel über Hollywood, bei vollem Bewusstsein. Sicher einer Viertelstunde dream time*, bis ich meine Luizidität verlor. Einmal sah ich dabei die vier Präsidentenköpfe aus der Ferne,  aus grosser Höhe, rief lauthals „north by northwest“, und wünschte mir die Luft etwas wärmer. Und so geschah es. Ich flog in Pirouetten, und dann in himmlisches Blau hinein.

 

*wenn man im luziden Zustand ist, erfolgt die Zeiteinschätzung so realistisch wie im Wachbewusstsein. Weil: das Wachbewusstsein ist ON. Etwas, das manche sich so schwer vorstellen können. 


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