Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen
mit Fahrrad und Schimmel. Leichthändig
schiebt sie den Griff, hält sie die Zügel
hinter ihr das tänzelnde Pferd. Das flache
Licht aus den Niederungen, die weißen Wolken.
Ein Sekundenbild und mir fällt die Skulptur
Cloud Gate in Chicago ein, der gespiegelte Himmel,
unter dem ich mir beim Fotografieren
zuschaue, gleichzeitig oben und unten bin,
mich aber nicht wirklich sehe.
Dies alles hat nichts mit dem Mädchen zu tun,
nicht die Gedanken an Vermeer. Nur der Wunsch,
den Tag auf den Kopf zu stellen, ist real.
Pferd und Mädchen werden kleiner,
nach der Kurve habe ich sie verloren.
Bleibt der Moment. Splitter unter der Haut.
Der Gedanke, vieles wäre heute möglich, wäre leicht.
Aus: Barbara Zeizinger – Schon morgen wird alles gewesen sein. Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg 2023
Martina Weber: Dein Gedicht „Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen“ ist mein Lieblingsgedicht aus deinem neuen Gedichtband. Schon das erste Bild mit dem Mädchen, die auf einem Feldweg unterwegs ist und mit einer Hand ihr Rad schiebt und mit dem anderen ein Pferd führt, löst viel bei mir aus. Ich finde es gar nicht so einfach, ein Rad mit einer Hand zu schieben, ich denke sofort an einen Freund von mir, der sein rotes Rennrad mit der linken Hand, die er in der Mitte des Lenkers hielt, durch Freiburg schob. Dann skizzierst du knapp die Umgebung und gelangst zur Cloud Gate Skulptur in Chicago, führst das etwas aus und bemerkst, dass es nichts mit dem Mädchen zu tun hat. Dass du dabei auch Vermeer erwähnst, lässt mich sofort an die Dienstmagd mit dem Milchkrug am Fenster denken und ich übertrage die Stimmung und das Licht aus diesem Bild in das Bild vom Mädchen mit Fahrrad und Pferd, obwohl es im Gedicht heißt, es gäbe keinen Zusammenhang mit Vermeer. Das ist ja der Trick der Verneinung: Etwas, was verneint wird, wird benannt und ist daher präsent. Im restlichen Teil des Gedichts folgen weitere Gedanken, die vom Eingangsbild gelöst sind, dann wird das Bild des Mädchens wieder aufgenommen, wie es verschwindet. Ein starkes Bild sind die Splitter unter der Haut. Die Wirkung der Begegnung ist geradezu körperlich. Ein Handlungsdruck. Der Schlusssatz setzt fort, dass Möglichkeiten spürbar sind. Das Mädchen mit dem Rad und dem Pferd hat Energie ausgelöst und etwas in Bewegung gebracht.
Barbara Zeizinger: Ich finde sehr schön, wie du das Gedicht analysierst. Ich kann jetzt nachträglich gar nicht sagen, wie ich auf diese ganzen Zusammenhänge gekommen bin. Jedenfalls nicht bewusst. Ich weiß nur noch, dass ich ähnlich wie du die Geschicklichkeit des Mädchens, es war ein eher zierliches Mädchen und ein großes Pferd, bewundert habe.
Martina Weber: Ausgangspunkt für deine Gedichte sind meist äußere Eindrücke oder Erfahrungen, die du dann mit Überlegungen, Gedanken oder Erinnerungen kombinierst, die nur teilweise mit den äußeren Eindrücken zu tun haben und wodurch die Gedichte ihre Tiefe entfalten und im Lesenden weiterwirken. In deinem Gedichtband „Morgen wird alles gewesen sein“ sind Anlässe deiner Gedichte beispielsweise eine Landstraße, auf der du sehr oft unterwegs bist, die L 3111), Ausstellungsstücke im Hessischen Landesmuseum und eine Reise in die USA. Für mich sieht es so aus, als ob dir die Themen geradezu zufallen und nie ausgehen.
Barbara Zeizinger: Das ist sehr schmeichelhaft, aber nicht ganz zutreffend. Manchmal habe ich den Eindruck, mir fällt überhaupt nichts ein. In Bezug auf viele Gedicht in dem neuen Lyrikband hast du allerdings recht. Bei den Gedichten über die Straße L 3111 habe ich geradezu Ausschau nach Ereignissen, Landschaften usw. gehalten, nach einer Werbetafel, einem Krötenzaun, einem Kreuz an der Böschung usw. Bei diesen Gedichten fiel es mir leicht, sie assoziativ weiterzuspinnen.
Martina Weber: Am 4. Oktober hast du in der Kunsthalle Darmstadt aus deinem Gedichtband gelesen und im Gespräch mit Kurt Drawert gesagt, dass du einen Ort veränderst, indem du darüber schreibst. Von Autorinnen und Autoren ist man eher die Aussage gewohnt, dass sie sich selbst durch das Schreiben verändern, aber einen Ort …? Wie meinst du das?
Barbara Zeizinger: Das bezog sich auf die Frage von Kurt Drawert, ob ich durch mein Schreiben einen Ort „töte“. Der Ort ist ja objektiv da. Aber wie ich oder jemand anders ihn wahrnimmt, kann sehr unterschiedlich sein. Das meinte ich mit verändern. Aber das muss keine feste Wahrnehmung sein, man kann Orte, je nach eigener Verfassung unterschiedlich empfinden. Jedenfalls ist es sehr subjektiv. Bin ich glücklich, kann mir ein objektiv hässlicher Ort gefallen und umgekehrt. Und natürlich verändere auch ich mich durch diese Begegnungen und Wahrnehmungen. Das schreibe ich in dem einen Gedicht: „Wenn der Mais geerntet sein wird, / die Dunkelheit wieder früher einsetzt, / werde auch ich mich verändert haben.“
Martina Weber: In einem Gedicht, das du einer verstorbenen Freundin gewidmet hast, zählst du prägende Lektüreerfahrungen auf: Marx, Erich Fromm und „Der Tod des Märchenprinzen“, einen autobiographischer Roman, der 1980 erschien. (Ich kenne das Buch, habe es aber später gelesen.) In diesem Gedicht erwähnst du auch die Leichtigkeit jener Jahre. Würdest du sagen, dass es die 70er Jahre waren, in der auch deine Studienzeit lag, die dich am meisten geprägt haben, was deine Lebenshaltung betrifft?
Barbara Zeizinger: Das ist ein sehr komplexes Thema. Von der englischen Schriftstellerin Hilary Mantel gibt es das Zitat „jede Generation hat ihre eigenen Leidenschaften“ und ja, natürlich haben mich die 70er Jahre geprägt, ich war jung, habe studiert, viel Neues entdeckt. Das war eine Zeit, in der wir optimistisch waren, dachten, wir könnten die Welt verändern. Heute denke ich darüber viel differenzierter. Das Gedicht ist in erster Linie eine Hommage an meine Freundin, mit der ich damals alle diese Gedanken geteilt hatte. Aber auf einer anderen Ebene erzählt es auch davon, dass wir in gewisser Weise typisch für die 70er Jahre waren, also nicht so einmalig, wofür wir uns hielten. Alle in unserer Umgebung lasen Marx, Erich Fromm, Mitscherlich, alle hatten Enzensbergers „Kursbuch“ abonniert. Wobei der „Tod eines Märchenprinzen“ eher mit Augenzwinkern erwähnt wird.
Martina Weber: Ich könnte mir auch vorstellen, dass du in den 70ern Gedichtbände gelesen hast, die für dich – jedenfalls zunächst – prägend waren, und zwar auch US-amerikanische Lyrik und vielleicht auch die Übersetzungen ins Deutsche, die damals auf den Markt kamen, beispielsweise Rolf Dieter Brinkmanns Herausgabeband „Silverscreen“ von 1969. Ein Gedicht aus einem anderen deiner Gedichtbände ist im Café der berühmten City Lights Buchhandlung in San Francisco angesiedelt.
Barbara Zeizinger: Brinkmann war ein Muss. Dazu kamen viele Lyriker und Lyrikerinnen, da würde ich vor allem Hans Magnus Enzensberger erwähnen, Erich Fried, Wolf Wondratschek, aber auch Hilde Domin und Rose Ausländer. Außerdem amerikanische Autoren der Beat Generation wie Allen Ginsberg mit seinem „Howl“. Jahre später habe ich bei einer USA Reise mit meiner Tochter „City Lights Books“ besucht und daneben das Lokal „Vesuvio“, in dem viele Fotos an die damalige Zeit erinnern. Da ist das von dir erwähnte Gedicht entstanden. Zuletzt habe ich übrigens die gesammelten Gedichte von Wisława Szymborska gelesen. Wunderbar!
Martina Weber: Du hast auch einige Romane veröffentlicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du bereits an einem neuen Schreibprojekt arbeiten würdest.
Barbara Zeizinger: Das stimmt. Ich schreibe an einem Roman, der zur Hälfte fertig ist. Wie alle meine Romane erzählt er eine Familiengeschichte, diesmal über mehrere Generationen. Wie ich schon in der von dir erwähnten Lesung gesagt habe, beschäftigt mich in letzter Zeit (wahrscheinlich, weil ich inzwischen älter bin) die Frage, wie frühere Generationen gelebt haben, ob und inwiefern sie eine Wahl hatten, wie sie ihr Leben gestalten konnten. Gleichzeitig frage ich mich, inwiefern unser Leben durch gesellschaftliche Gegebenheiten geprägt und beeinflusst ist. Also die fast philosophische Frage nach Möglichkeiten und Einschränkungen der Selbstbestimmung. Das wollte ich auch oben bei den Ausführungen zu dem Gedicht über meine verstorbene Freundin ausdrücken.
Martina Weber: Vielen Dank, liebe Barbara, für die Einblicke in dein Schreiben und Leben!
Website von Barbara Zeizinger:
http://www.barbarazeizinger.de/
Anlässlich ihres Gedichtbands „Wenn ich geblieben wäre“ (2017) habe ich mit Barbara hier auf Manafonistas bereits ein Interview geführt.