Manafonistas

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Archives: April 2022

„Ein Klartraum, auch luzider Traum (lucid dream) genannt, ist ein Traum, in dem der Träumer sich dessen bewusst ist, dass er träumt. Paul Tholey, Psychologe und bedeutendster deutscher Klartraumforscher, formulierte dies folgendermaßen: „Klarträume sind solche Träume, in denen man völlige Klarheit darüber besitzt, daß man träumt und nach eigenem Entschluß handeln kann.“ Bei dieser Definition stützte sich Tholey auf die Philosophin Celia Green und den Psychologen Charles Tart. Tholey und der US-amerikanische Psychologe Stephen LaBerge sind zwei zentrale Pioniere auf dem Gebiet der modernen Klartraumforschung. Die Fähigkeit, Klarträume (luzide Träume) zu erleben, hat vermutlich jeder Mensch, und man kann lernen, diese Form des Träumens herbeizuführen. Dazu gibt es verschiedene Techniken. Ein Mensch, der gezielt Klarträume erleben kann, wird auch Oneironaut genannt (von gr. oneiros, „Traum“, und nautēs „Seefahrer“).“ (wikipedia)

 


Sabbatical beendet, ein halber Monat reicht auch, oder ich häng noch einen halben dran, egal. Diese Story würde ihr Feuerchen verlieren, würde ich noch mal 14 Tage warten. 
Um den folgenden luziden Traum einzuordnen, braucht es nicht so viel. Uschi aka Ursula aka Chrissie und ich liessen in vielen  Emails aus letzter Zeit besondere Momente unserer Würzburger Studentenjahre aufleben. Wir unternahmen etliche Zeitsprünge, und sie konnte sich u.a. an diese „überirdische Schönheit in weissem Kleid“ erinnern, die einmal an ihrer Wohnungstür schellte – meine Verlobte, sowas gab es mal, und dieses Versprechen auf den ehelichen Bund sollte sich bald in tief-melancholische Luft auflösen, und was eignete sich für meinen Blues mehr als Bob Dylans „Desire“*, und die kleine Couch einer baldigen Psychoanalytikerin. Wir haben damals, allen Widrigkeiten zum Trotz, viel gelacht. Wir lasen Kundera, wir lasen die Welt kurz und klein und riesengross. Aber rückblickend erinnerte sich Uschi zumeist an andere Gesichter als ich. Früh im  Mai 2022 steht eine Reise in die Vergangenheit im Raum, erst nach Würzburg, dann in den Bayerischen Wald. „Ab durch Raum und Zeit“ – eine manafonistische Grundtugend, und Teil des neuen Programms der Düsseldorfer „Black Box“ (s. das kleine Plakat, ein Klick aufs Foto genügt!) 

 

 

 


AB DURCH RAUM UND ZEIT

 

Was für ein luzider Traum! Aber er benötigte Vorlauf. Die Träume am frühen Morgen drehten sich alle ums Wiedersehen. Und was da an „Freud‘schen Tageresten“ einfloss, ist mir auch klar. Erst war ich, im Traum, mit Uwe bei Gudrun und Hansjörg in der Eifel. Alles alte Arbeitskollegen aus der Klinik für Alkohol- und Medikanentenabhängige, damals, 1982, nah der tschechischen Grenze.

Und ich sagte G: „Hier hast du also deine psychotherapeutische Praxis, und viele Jahre lang schon, seit unserer Zeit in Furth i. Wald, praktizierst du hier Kognitive Verhaltenstherapie – natürlich offen für jede Erweiterung.“**

Ja“, sagte sie, und ich wollte ihr schon sagen, dass sie so jung aussähe wie damals, zögerte aber, weil ich nicht einen Satz hören wollte wie: „Micha, du siehst aber so viel älter aus.  Charmantes Lügen war nie ihre Art. Ich schaute mich in ihrem geräumigen Wohnzimmer um – G und HJ waren für mich schon damals, als wir am Ende der Welt lebten, ein perfektes Paar. Ich erinnere mich an pikanten Käse, den HJ leidenschaftlich gern anfertigte, in Arnschwang.

Ich schlief immer wieder ein, wachte auf, schliesslich drehten sich die Träume um ein Wiedersehen mit Kommilitoninnen aus der Zeit der ersten Semester in Würzburg. Ich machte brav, in den Morgenstunden, vor der längsten Traum-REM-Phase, meine Autouggestionen für luzide Träume:

(„das nächste Mal, wenn ich träume, erkenne ich, dass ich träume“ / ich erinnerte mich an die letzten Traumszenen: ein Hotel, wir telefonierten miteinander, seltsame fremde, ferne Frauenstimmen: endlich würden wir uns wiedersehen / dann die Affirmation: „wenn ich sie wiedersehe, erkenne ich, dass ich träume“).

Aber noch eine Zeitlang blieben die Träume normal: den ersten luziden Moment erwischte ich, als ich plötzlich abends die Kampstrasse in Dortmund entlang lief, mitten auf der Strasse, auf dem Weg zu dem „Treffen der Studenten von damals“, oder war es doch ein Klassentreffen. Schliesslich war ich in Dortmund, und nicht in Würzburg.

Dann verlor ich während meines euphorisierten Laufens die Klarheit, die Plastizität der Welt löste sich auf, und ich erwachte in meinem Körper, machte weiter meine Übungen, und dann geschah folgendes: icn telefonierte mit einer Kommilitonin von einst, die nicht den Weg fand – ich sagte ihr, sie müsse unbedingt kommen – vielleicht hätten wir und ja eine Story zu erzählen. Das war noch ein normaler Traum, doch Momente später tauchte mein ehemaliger Klassensprecher H. neben mir auf, der im wahren Leben Horst heisst, und wir standen im Treppenhaus eines Dortmunder Hotels, ich erkannte plötzlich,  dass dies ein Traum wahr und sagte zu Horst, innnerlich beglückt:  „komm, fahren wir zum grossen Treffen!“

Bei vollem Bewusstsein,  dass ich träumte, ging ich mit Horst die Treppen herunter, stieg in sein Auto, ich sah den Stern blitzen, ein Mercedes. Es war ein klarer Frühlingstag mit viel Sonne. Er setzte rückwärts auf die Strasse, und die Stadt war voller Menschen: ich sah Bauarbeitet an einer Kirche, ihre Gesichter gestochen scharf, auch aus der Ferne, und da war eine attraktive Frau mit Kind, drei Meter von meinem Seitenfenster entfernt, und ich rief ihr ein Hallo zu, aber sie schien es nicht zu hören.

 

KIM, CHLOE, UND MARTINI  


Dann fuhren wir nur über wenige Strassen, und ich redete mit Horst, wendete einige Tricks an, meinen luziden Zustand aufrecht zu halten. Wir würden uns alle bei „Bücher Krüger“ treffen, was es wirklich mal gab in Dortmund, und wir würden dann wohl ins Cafe Beckmann gehen. Icn musste lachen: wie in alten Zeiten, nur dass mich Horst netterweise nicht zu einem Klassentreffen fuhr, sondern zu einen Wiedersehen mit einigen Studentinnen von damals, mit jenen lang aus meinem Leben verschwundenen Wesen, mit denen mich damals hier und da eine Spur von Alltag und Träumerei verband. Es schien auch ein Zeitreise zu sein, denn alle sollten sich als wesentlich jünger rausstellen, als sie heute sein dürften.

Ich blieb klar, und Horst erzählte mir ein diffuse Story von einem „Totenschmied“, der im Cafe Beckmann arbeitete (ich sah einen Mann mit einer Art Kanone, blanggeputzt,  durchs Erdgeschoss des Kaffeehauses wieseln), und ich sagte Horst: „was erzählst du denn für ein Zeug!

Dann kamen wir endlich an, ich sah die Gesichter: alle  verändert, aber trotzdem vertraut, alle versprühten Wiedersehensfreude. Ich war vollkommen luzid, genoss das Bad in der Gruppe, wir tranken Martini in einem grossen Buchladen. Männchen wie Weibchen. Ich war berauscht, und sicher nicht vom Lieblingsdrink meiner Teenagerjahre. Mein Handy klingelte, und die Stimme von vorhin sagte, sie wäre bald da. Ich konnte es kaum erwarteh, wer würde die grosse Unbekannte sein? Welcher Kreis würde sich schliessen? Ich setzte mich hin, und dann sah ich Kim. Woher wusste ich, dass sie Kim hiess? Es gab ja keine Kim in meiner Würzburger Zeit.

Reality is floating. Please realize, dear reader, that, in a lucid dream state your mind is fully awake and your memory can easily remember things that happen, words being said. Long time memory is easy going within a lucid dream state. 

Ich war immer noch klar, nahm Kim bei der Hand, die dann neben mir sass, ich legte meinen Kopf an ihre Schulter (ständig wissend, dass dies ein Traum war) und sagte: „Vielleicht sind wir die, die einmal ineinander verliebt waren, ohne es voneinander zu wissen. Kim, ach, Kim! Welche Geschichte hatten wir? Erzähl es mir!“ Tränen rannen mir aus den Augen, Tränen der Rührung, des Glücks, es durchflutete mich durch und durch, und das war der Moment, an dem icn, leider, meine Klarheit, und meine Traumerinnerung, verlor. (Das auf dem Foto bin ich, 1979 wohl, wahrscheinlich in U‘s Studentenbude.)

 

 


Nachklang: eine Platte, ideal für Zeitreisen, raffiniert, doppelbödig, mit grossem Orchester und im Grunde perfekt, sich hörend ab und zu die Basisübung für luzide Träume zu gönnen („Träume ich, träume ich gerade?“), und dann  freischwebend a la Columbo die Umgebung aufnehmen – die Töne, den eigenen Körper, Indizien dafür, ob man sich gerade zufällig mitten in einem Traum befindet (stellst du dir die Frage dann auf einmal nachts, könntest du luzid werden)***, dreht sich derzeit immer wieder auf meinem Plattenteller, Father John Misty‘s „Chloe and The Next 20th Century“****.

*als ideale Bob Dylan-Liebeskummerbewältigunsgplatte gilt gemeinhin Blood On The Tracks.
**eine reine  Mutmassung, Gudrun wird mich bald genauer aufklären.
***im Herbst mache  ich in Aachen ein Wochenendseminar für Einsteiger ins luzide Träumen, zehn Personen, 500 Euro pro Teilnehmer.
****“It’s really amazing how Tillman is able to ring such emotional honestly without any signs of ironic detachment while journeying through the sounds of Tin Pan Alley, Old Hollywood melodrama and 70s country tinged AM gold. It seems impossible but he has done it and it’s an amazing journey to embark on.“ (A.P.)

2022 14 Apr.

Best Game Ever

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Nach langer Zeit gibt es von mir mal wieder einen Hinweis zu einem sehenswerten Kurzfilm. Auf ARTE läuft die Kurzfilmsendung Kurzschluss jede Woche in der Nacht von Samstag auf Sonntag, keine feste Zeit, nach Mitternacht, immer zu einem Schwerpunktthema. Am 10. April war es „Mensch und Maschine“. Empfehlen möchte ich Best Game Ever aus Ungarn. In einem großen öffentlichen Gebäudeareal arbeiten drei Überwachungstechnologen im Schichtbetrieb an Bildschirmen. Die Überwachungsmaschine kreist verdächtige Personen oder Gegenstände ein. Die Angestellten wissen zunächst nicht, dass sie es sind, die die Maschine trainieren. Der Film stellt Fragen wie „Wann und warum ist etwas verdächtig?“ und „Wie kann man eine Maschine mit ihren eigenen Mitteln überlisten?“. Eine wunderbare, energiegeladene Performance!  Unter diesem Link ist der Film bis 7. Juli 2022 zu sehen (Dauer: 20 Minuten).

Retten wir uns in die Kunst oder lassen wir uns von der Kunst retten.

 

Thomas Rosenlöcher bin ich in meinen Dresdner Jahren öfter begegnet. Einmal stand er über mir auf einem Podest und schrie seine Wut über das Vorhaben, eine Betonbrücke über die Elbe zu bauen, heraus. Nun ist dieser heitere, spöttische, Heimatverliebte seit 17 Stunden tot und es bräuchte 70 Jahre, um hier Jochen nicht in Schweißausbrüche zu versetzen, weil ich Gedichte von ihm hochlade. Seine Gedichte sind alle schön zu lesen. Sie haben einen Schalk mit Romanze und ein Rumpelstilzchen, das einfach seine Natur kennt, weil es ja lange genug auf einem Bein stand. Die Elbe ist mein Lieblingsfluss. Sie fließt in weichweitem Bogen durch die Auen und lässt immer einen Blick frei auf das schöne Dresden. Auch ich demonstrierte gegen die Waldschlößchenbrücke, die ja leider gebaut wurde. Kleinzschachwitz kommt immer wieder in den Gedichten von Thomas Rosenlöcher vor. Es war auch für mich ein Fahrradziel, weil der Weg an der Elbe entlangführt, vorbei an den in Weinbergen gebetteten Dresdner Schlössern bis nach Pillnitz, das sein Schloss auf der gegenüberliegenden von Kleinzschachwitz präsentiert. Dort hatte Rosenlöcher gelebt und geschrieben. Er hat es so viel besser gekonnt als Uwe Tellkamp („Der Turm“) oder Durs Grünbein, dessen Vorlesungen ich an der Kunstakademie in Düsseldorf hören konnte. Beide haben sich nicht so stark mit Dresden identifiziert, kamen deswegen in wogenden Gewässern, siehe Flüchtlingsdebatte 2015, ins Strudeln. Zum Abschied meiner drei Arbeitsjahre schenkte mir das ostdeutsche Kollegium einen Gedichtband von Thomas Rosenlöcher. Eins der Dinge, die im Möbellager in Düsseldorf auf mich wartet.

 
 

Lajla und ich hatten neulich einen kurzen Post-Wechsel (9.4.) über die Frage, inwieweit Menschen in Konfliktsituationen über das Frontalhirn erreichbar sind und anderen Sinnes werden können, wenn man mit ihnen diskutiert. Ich sah das pessimistischer, zitierte eine Patientin angesichts ihrer grossen Freude über im Meer ertrunkene Migranten.

Es geht also um das „Böse“ im Menschen. Psychodynamisch erklärbar in diesem Fall durch die Situation eines Schulkindes, dem von den Eltern beinahe jährlich ein kleines Geschwister vorgesetzt wurde, um das sie sich zu kümmern hatte – „eine Flut von Pflichten und Bedürfnissen“, die auf sie zurollten und für die sie zuständig war, eine überbordende Verantwortung für sechs kleine Geschwister, die kein eigenes Kindheitsleben mehr zuliess. Die „Flut“ von Migranten, die seinerzeit auf Deutschland zutrieb, triggerte die Angst vor „Mitessern“ und den Hass auf diese Last, und sie ersehnte deren Vernichtung und wollte sie nur noch loswerden. Keine Küchenpsychologie, Micha, war wirklich so – klingt aber ein bisschen danach, zugegeben.

Der Zusammenhang wurde ihr bewusst – und damit hätte es gut sein können – ein Erkennen einer Verschiebung eines alten Affektes auf Personen der Gegenwart, eine Entkoppelung, ein Wiedererleben des kindlichen Elends und der Beginn eines Trauerprozesses über nicht stattgefundene unbeschwerte Kindheit. In netten Therapiegeschichten oder -filmen läuft das in dieser Form so ab, mit einer Heilung und einem Courths-Mahler-artigen Ende mit allem Eiapopeia. Nun spielen uns manche Menschen hier einen Streich: Es findet kein Trauerprozess statt, sondern eine Bestätigung, dass man ja dann mit seinem Hass völlig im Recht sei durch die frühe Schädigung – statt des Affektes der Trauer kommt es zur Verstärkung der Wünsche nach Rache und Wiedergutmachung – es kommt zu keiner Loslösung von der traumatischen Situation – die durch das Betrauern ja ermöglicht wird und die einen neuen Lebens- und Beziehungsraum öffnet – sondern zu einem racheerfüllten Festhalten an dem, was einem angeblich zusteht – sei es die Vernichtung der Geschwister, die Rache an der Frau, die einen verlassen hat, das grossdeutsche Reich, die wieder komplettierte Sowjetunion, der Gottesstaat oder was auch immer einem genommen wurde. Jugendliche drücken diesen Zustand oft sehr präzise aus durch „Ich bin mein Leben lang verarscht worden – ab jetzt gibt’s sofort eins in die Fresse!“ Der moralische Kompass, falls überhaupt vorhanden, greift hier nicht, da grenzt sich die Neurose des Angepassten ab von der Persönlichkeitsstörung, früher auch simplifizierend Charakterstörung genannt. Etwas sehr schwer Beeinflussbares. Stattdessen wird in paranoid – misstrauischer Grundstimmung kreischend durch die Strassen gezogen und Knechtung durch die Regierung und Verarsche durch die Medizin mit ihren schädlichen Produkten angeprangert. Eins in die Fresse und kein Gelaber, Bruder!

Und hier sind wir wieder bei der sehr geschätzten Margaret Mitscherlich und ihrem Buch über das Nachkriegsdeutschland, das sich mit Nahrungsmitteln, schönen Bildern und süssen Melodien vollstopfte (Das steht uns jetzt zu!) und im Untergrund die alte Brutalität und den Hass weiter schwelen liess, der an vielen Stellen hochbrodelte wie ein Geysir und das den Antisemitismus und Fremdenhass bis heute nicht überwunden hat. Diese Kräfte sind mächtig, ich bin ihnen oft gegenübergestanden – nicht nur bei meiner Grossmutter, einer durchaus angepassten Dame, die sich riesig freuen würde wenn sich die Russen jetzt alle gegenseitig um die Ecke bringen und endlich von der Landkarte verschwinden würden – und sie stimmen mich pessimistisch bezüglich eines Sinneswandels hin zu einer – in toto – vernunftbegabten Menschheit.

Das war mir noch ein Anliegen – wir haben es neulich ja nicht ganz zu Ende diskutiert, als Lajla mich fragte warum ich mich so negativ äussere. Sorry, wenn ich ins Dozieren gekommen bin – Berufskrankheit – dann bitte zurückpfeifen. Bin ich nicht böse! Obwohl das Abgründige mein Hobby ist. Davon später vielleicht ein weiteres.

2022 13 Apr.

tune of the day

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Für unser „Album des Monats“ kommt dies leider ein wenig zu spät… aber ich würde diesem vor wenigen Tagen (Ende letzter Woche) veröffentlichten Album dennoch sehr gern gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wissen. „Kotra“ ist eines von mehreren Pseudonymen des ukrainischen Musikers Dmytro Fedorenko, auf dessen Schaffen ich vor einiger Zeit bereits im Kontext eines Interview-Portraits mit seiner Partnerin Kateryna Zavoloka und ihrer gemeinsamen Projekte hingewiesen habe. Nach dem Abschluss eines Kunststudiums in Wien haben sich die Beiden in Berlin angesiedelt, wo im letzten Jahr u.a. auch dieses Album „Radness Methods“ entstand. Fedorenko sagt, die Musik entstand aus „altertümlichen Konzepten ritueller Trommelmusik und rhythmischer Meditationstechniken“:

 

a ritual sound performance appears as a series of abstract sonic actions, rather than musical events, provoking a journey to non-ordinary states and realities, drumming a way into silence. [die rituelle Klangperformance erscheint eher als eine Folge abstrakter Klangaktionen denn als musikalische Ereignisse, wodurch eine Reise in nicht-alltägliche Zustände und Realitäten provoziert wird und ein Weg in die Stille gebahnt wird.]

 

Richard Allen von der immer interessierten, auf innovative instrumentale Musik spezialisierten Website A Closer Listen schreibt, Radness Methods sei das richtige Album zur richtigen Zeit, auch wenn das so nicht beabsichtigt war. Den vorab veröffentlichten elfeinhalbminütigen Track Phase Transitions beschreibt Allen als einen musikalischen Molotow-Cocktail, und er fasst zusammen: „While the album was not intended as a battle cry, it works as such, and we’re glad that it’s here, and angry, and now.“ [„Auch wenn das Album nicht als Schlachtruf gedacht war, so dient es doch als solcher, und wir sind froh, dass es da ist, und zwar wütend – und genau jetzt.“] Die Musik klinge wie „ein Ausdruck des Widerstands, ein Standhalten, ein Soundtrack zu einem tatsächlichen Konflikt.“ Mit ungelenker, passend zum Genre „Industrial“ geradezu grober Poesie stellt Dmytro Fedorenko vor:

 

„Radness Methods“ is a shamanic ritual for the sorcerers of concrete and asphalt, an ecstatic hymn for the philosopher warriors debating the power over life and death. Blazing anthem of excellence for the no one who is just anything. [„Radness Methods“ ist ein schamanisches Ritual für die Magier von Beton und Asphalt, eine ekstatische Hymne für die Philosophenkrieger, die über die Macht über Leben und Tod debattieren. Ein flammendes Loblied für den Nobody, der eben doch alles Mögliche und Unmögliche zu leisten imstande ist.]

 

Auf das dunkel Ekstatische weist auch Richard Allen hin, zumal die Stücke jeweils sieben bis eben über elf Minuten lang dauern und so eine „psychedelische Wirkung ohne halluzinogene Drogen“ erschaffen, die uns als Hörende vereinnahmt, jedoch ohne die in vergleichbarer elektronischer Musik üblichen, „Minimal Music“-Wiederholungen, sondern durch geschickte dramaturgischen Aufbau mit sich aufschichtenden Soundelementen. Mit diesen Aspekten erinnert Kotra an die kraftvollsten Werke etwa von Mika Vainio oder Franck Vigroux.

Die CD kann man  günstig über die Bandcamp-Webseite bestellen (wo man natürlich auch die übrigen empfehlenswerten Alben von Fedorenko und Zavoloka erwerben kann, etwa sein voriges Album Namir), und ich finde das grafische Artwork ganz fantastisch. Beim Online-Magazin CDM gibt es ein aktuelles, ausführliches Gespräch mit Fedorenko, wo er über die Ukraine und Politik spricht, über Meditation und über seine Arbeitsprozesse und auch Film- und Musikempfehlungen parat hat. Er erzählt, dass, nachdem er für das vorherige, komplexe und vielschichtige Album fast zwei Jahre gebraucht habe, dieses neue sehr schnell entstanden sei, minimalistisch, rituell, meditativ: „At the very beginning, I was not sure how it would go. And these rhythmic things, they just took me.“ Der Entstehungsprozess dieses Albums sei wie eine Meditation gewesen, als ob er tagelang eine Trommel schlage, aber eben mit einer „Groovebox“.

 

„And when I performed it live – it was a bit unexpected, but people started to dance to it. It was not these normal mechanical techno moves, as you can see anywhere, but it was like an explosion of devils, from the inside. When I saw this video, somehow I realized, I guess it worked.“

2022 9 Apr.

I am. A Magma Bici.

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Nach drei langen Jahren des Wartens durften heute die Magma Bikes auf die Wege. Bereits im Februar war die Anmeldung für diese Rallye auf El Hierro. Innerhalb von fünf Minuten waren alle Plätze ausverkauft. Man konnte wählen zwischen einer Strecke von 55 km oder 40km. Insgesamt 450 Mountainbiker rollten bei perfektem Fahrradwetter über die einmalig schöne Insel mit den 1000 Vulkanen. Die Marathonroute verläuft über ausgesuchte Strecken, die den Bikern die Vielfalt der wunderschönen Insel zeigen soll. Es ging vom 1300m hohen Malpaso durch die dichten Lorbeerwälder und den verzaubernden Märchenwald, hinunter durch den lichten Pinienwald, über die jetzt farbigen, blühenden Wiesen, über die schwarzen Lavafelder bis zum Hafenort La Restinga, wo ich wohne. Diese Rallye ist sehr beliebt, auch aus Südamerika reisen die Liebhaber des eleganten, schnellen, leichten Mountainbikes an. Das feingeschnittene Gestell hat seinen Preis: von 4000 Euro an aufwärts. Aber jeder Fahrradfahrer weiß, die Freiheit im Sattel ist unbezahlbar.

 
 

La Restinga

2022 9 Apr.

Der Fliegenschrank

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Schreib zehn Minuten über ein Möbelstück, an das du dich erinnerst. Der Trick ist wirklich, nicht nachzudenken, sondern einfach weiterzuschreiben.

Doris Dörrie: Leben Schreiben Atmen, S. 31

 

Am Wochenende besuchten wir manchmal die Großmütter. Die Großväter lebten schon lange nicht mehr. Die Mutter meines Vaters bezeichneten wir nach der Straße, in der sie wohnte. Es war die Zellersträßleroma. Die Straße empfand ich als düster und eng. Doch vor dem Haus leuchteten die Stämme von Birken. Sie wohnte im Erdgeschoss. Ich erinnere mich kaum noch an sie, sie starb, als ich acht war. Sie hatte leicht gelocktes, dunkelbraunes Haar, auch im hohen Alter. Ihre Wohnung war dunkel und kalt, immerzu kalt. Ihre Stimme habe ich vergessen. Im Flur stand ein Schrank. Ich stand mit meinem Vater davor und lernte ein neues Wort: Fliegenschrank. Das Möbelstück war Holz, und auf der Innenseite der Fliegengitter war ein gemusterter Vorhang in Erdtönen im Stil der späten 50er oder 60er Jahre. Ich hatte den Schrank immer als groß und geheimnisvoll empfunden. Ich wusste nicht, was meine Großmutter darin aufbewahrte. Nachdem sie gestorben war, brachten meine Eltern den Schrank in unseren Keller und stellten Marmeladenvorräte, Konserven, alte Töpfe und anderes hinein. Viele Jahre später, nachdem ich ausgezogen und mehrmals umgezogen war und immer noch jedes Mal Wehmut und Glück empfand, wenn ich den alten Schlüssel umdrehte und die Tür des Fliegenschranks öffnete, fragte ich, ob ich den Schrank mitnehmen dürfte, für meine Küche. Ich kaufte einen Ersatz und durfte ihn haben. Gegen nichts in der Welt würde ich den Schrank tauschen. Es passt einfach alles hinein. Wahrscheinlich ist er inzwischen hundert Jahre alt. Den alten Vorhang habe ich abgenommen. Das feine Metallgitter ist ausgebeult, hat Risse. Mit der Fläche der Hand über die feine Struktur des Holzes zu streichen. Äste und ihre Jahresringe und was sie erzählen.

 

2022 7 Apr.

KW13

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Die 13. Kalenderwoche dieses Jahres war ereignisreich: Am Samstag leitete ein ukrainischer Freund F, N und mir ein Hilfsgesuch eines Internats für Waisenkinder inmitten seines Landes weiter. Die Schule dort ist zu einem Flüchtlingslager umfunktioniert worden, auf ein Bett kommen vier Personen, die dort lebenden Menschen sind zwischen fünf und 83 Jahre alt. Wir bekamen eine Liste mit Gütern, die gebraucht werden: Matratzen, Schlafsäcke, Taschenlampen, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente, u.a. Noch am Samstag bekam ich einen Opel Vivaro von dem lokalen Car-Sharing Unternehmen zugesichert, um damit an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren. Sonntag verschickte ich einen Rundbrief an die Elternhäuser der Schule, mit der Bitte um Geld- und Sachspenden. Bis Mittwoch waren gut € 3000,- auf meinem Paypal-Account eingezahlt, womit F und N einkaufen gingen. Die beiden übernahmen auch die Annahme der zahlreichen Sachspenden in der Schule und packten am Donnerstag einen Anhänger. Ich selbst war ab Dienstag in einer dreitägigen Weiterbildung, die über Zoom durchgeführt wurde – eine andere Geschichte. Immerhin konnte ich parallel den ganzen Papierkram erledigen. Freitag holte ich den Wagen aus der Stadt ab, wir packten die restlichen Sachen und gingen noch einmal bei Aldi Süßigkeiten und Kaffee kaufen (den 132cm langen Bon werde ich als Erinnerung behalten).

Nach einer eher unruhigen Nacht ging es Samstag um 5:00 morgens los. N konnte nicht mitkommen, dafür war U dabei. Wir fuhren also 1200 km nach Nisko, luden die Spenden aus einem Auto mit Anhänger in ein anderes, Sonntag waren wir gegen 21:00 wieder zu Hause. Wenn man an zwei Tagen 2400km Auto fährt, passiert nicht viel und doch jede Menge. Entfaltung bekommt eine ganz neue, physische Bedeutung. Die Unterschiede zwischen den Autobahnen waren gering: ähnliche Landschaften, die gleichen Großmärkte an den Ausfahrten, hier zahlreiche Windräder und Solarparks, dort ein Kohle- und ein Atomkraftwerk. Hinter Krakow dann nur noch Schnellstraße, dort waren auch vereinzelt Militärfahrzeuge und einmal etwas, das verdächtig nach Flugabwehrraketen aussah. 

Der freundliche Kontaktmann vor Ort gab uns dann zwei Stadtführungen, eine noch am Abend, eine morgens um 8:00, zeigte uns das Kasernengelände auf dem zahlreiche Panzer standen, die Kirche, vor der Sonntagmorgen um 8:00 zwei Leuten kniend dem nach draußen übertragenen Gottesdienst andächtig folgten, zahlreiche Denkmäler, die den Widerstand gegen die Russen thematisierten, und die Flüchtlingsunterkunft. Unsere Vorstellung, Flüchtlinge mitzunehmen war nicht umzusetzen; ich hatte mich in der Woche schon darum bemüht und es gab auch immer wieder Kontakte, letztendlich fanden wir aber niemanden: alle, die sich mal interessierten, wollten lieber in Polen bleiben. Dort sind sie nahe ihrer Heimat und dort scheinen sie auch adäquat und gastfreundlich versorgt zu sein. 

Beeindruckt bin ich von der Spendenfreude hier in Deutschland, sehr beeindruckt von der polnischen Gastfreundschaft. Unserer Kontaktmann / Gastgeber tat alles, um uns den kurzen Aufenthalt in seiner Stadt so angenehm wie möglich zu machen, der Inhaber unseres Hotels hat uns eingeladen: Es war nicht möglich für Unterbringung mit Abendessen und Frühstück auch nur ein Trinkgeld zu geben. 

Während der ganzen Woche konnte ich den Gedanken nicht verdrängen, dass es vielleicht effektivere Methoden geben würde, den Menschen vor Ort zu helfen. Ganz sicher bin ich mir da immer noch nicht. Am Ende überwiegt jedoch das Gefühl, dass es richtig war, auf das Hilfegesuch eines Freundes einzugehen.


 
 

„It’s a basic truth of the human condition that everybody lies, the only variable is about what!“

(Hugh Laurie alias Dr House)

 
 

Noch aber suchen die Kriegsparteien den militärischen Vorteil. Und das treibt mich im Alltag um: Was die Deutschen sich wünschen, mag für den Krieg nicht wichtig sein. Für meine Nerven ist es das aber. Und wollen denn meine Mitmenschen wirklich, dass das Schießen jetzt aufhört? Wenn ich höre, wie man redet, wenn ich die Zeitungen sehe, bekomme ich ein anderes Gefühl: Der Krieg soll „gewonnen“ werden. Irgendwie auch von den Deutschen, endlich einmal – koste es fast, was es wolle.

(Marija Hirt, Der Freitag)

 

Die Gefühlslage und intime Innenansicht einer Ukrainerin, seit langem in Deutschland lebend, ihre Heimat betreffend, berührt mich und bestätigt meine Skepsis. Es muss widerlich sein, wenn dich Fremde plötzlich über dein Land aufklären wollen. Man wäre auch weiterhin gut beraten, den „schmalen Grad des Weder-Noch“ (Sloterdijk) nicht zu verlassen und medialen Eindeutigkeiten nicht auf den Leim zu gehen: kein Krieg kann „gewonnen“ werden. Aus diesem Grunde auch sind mir die Amerikaner zutiefst suspekt mit ihrer verlogenen Heilsbringer-Mentalität, dabei haben sie sich nicht erst seit Afghanistan als Looser disqualifiziert, denen aus jedem zweiten Satz die Lüge trieft – bei Putin tut sie’s allerdings aus jedem ersten. Man glaube auch nicht, wenn der böse Onkel erst tot sei, folge hernach gleich ein guter. In den hiesigen Talkshows wird Besonnenheit als Schwäche angeprangert und ZDF-Chefkläffer Markus Lanz läuft zu Hochform auf. Und Andreji Melnyk, der stets in feinstem Edelzwirn gestylte Diplomaten-Frechdachs, sollte seinen Mund nicht so voll nehmen: die Ukraine ist und war weit davon entfernt, eine stabile Demokratie zu sein. Aber schaut man in das erzkatholisch-schwulenfeindliche Polen, nach Ungarn (Putin-Freund Orban), Frankreich (Putin-Freundin le Pen) oder zu den kommenden Wahlen in den Staaten, da denkt man gern mal an Asterix und ein kleines gallisches Dorf zurück, mit Windkraft zwar betrieben, aber umzingelt von lauter Römern. Wenn allerdings der gute Gregor Gysi immer noch Putins Verbrechen notorisch sogleich relativiert, würde ich ihm raten, im richtigen Moment auch einfach mal die Klappe zu halten! Aschfahl sitzt er nun in diesen Tagen am Katzentisch der Geschichte, bestürzt ob seines eingestürzten Weltbildes.

 


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