Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Lajla und ich hatten neulich einen kurzen Post-Wechsel (9.4.) über die Frage, inwieweit Menschen in Konfliktsituationen über das Frontalhirn erreichbar sind und anderen Sinnes werden können, wenn man mit ihnen diskutiert. Ich sah das pessimistischer, zitierte eine Patientin angesichts ihrer grossen Freude über im Meer ertrunkene Migranten.

Es geht also um das „Böse“ im Menschen. Psychodynamisch erklärbar in diesem Fall durch die Situation eines Schulkindes, dem von den Eltern beinahe jährlich ein kleines Geschwister vorgesetzt wurde, um das sie sich zu kümmern hatte – „eine Flut von Pflichten und Bedürfnissen“, die auf sie zurollten und für die sie zuständig war, eine überbordende Verantwortung für sechs kleine Geschwister, die kein eigenes Kindheitsleben mehr zuliess. Die „Flut“ von Migranten, die seinerzeit auf Deutschland zutrieb, triggerte die Angst vor „Mitessern“ und den Hass auf diese Last, und sie ersehnte deren Vernichtung und wollte sie nur noch loswerden. Keine Küchenpsychologie, Micha, war wirklich so – klingt aber ein bisschen danach, zugegeben.

Der Zusammenhang wurde ihr bewusst – und damit hätte es gut sein können – ein Erkennen einer Verschiebung eines alten Affektes auf Personen der Gegenwart, eine Entkoppelung, ein Wiedererleben des kindlichen Elends und der Beginn eines Trauerprozesses über nicht stattgefundene unbeschwerte Kindheit. In netten Therapiegeschichten oder -filmen läuft das in dieser Form so ab, mit einer Heilung und einem Courths-Mahler-artigen Ende mit allem Eiapopeia. Nun spielen uns manche Menschen hier einen Streich: Es findet kein Trauerprozess statt, sondern eine Bestätigung, dass man ja dann mit seinem Hass völlig im Recht sei durch die frühe Schädigung – statt des Affektes der Trauer kommt es zur Verstärkung der Wünsche nach Rache und Wiedergutmachung – es kommt zu keiner Loslösung von der traumatischen Situation – die durch das Betrauern ja ermöglicht wird und die einen neuen Lebens- und Beziehungsraum öffnet – sondern zu einem racheerfüllten Festhalten an dem, was einem angeblich zusteht – sei es die Vernichtung der Geschwister, die Rache an der Frau, die einen verlassen hat, das grossdeutsche Reich, die wieder komplettierte Sowjetunion, der Gottesstaat oder was auch immer einem genommen wurde. Jugendliche drücken diesen Zustand oft sehr präzise aus durch „Ich bin mein Leben lang verarscht worden – ab jetzt gibt’s sofort eins in die Fresse!“ Der moralische Kompass, falls überhaupt vorhanden, greift hier nicht, da grenzt sich die Neurose des Angepassten ab von der Persönlichkeitsstörung, früher auch simplifizierend Charakterstörung genannt. Etwas sehr schwer Beeinflussbares. Stattdessen wird in paranoid – misstrauischer Grundstimmung kreischend durch die Strassen gezogen und Knechtung durch die Regierung und Verarsche durch die Medizin mit ihren schädlichen Produkten angeprangert. Eins in die Fresse und kein Gelaber, Bruder!

Und hier sind wir wieder bei der sehr geschätzten Margaret Mitscherlich und ihrem Buch über das Nachkriegsdeutschland, das sich mit Nahrungsmitteln, schönen Bildern und süssen Melodien vollstopfte (Das steht uns jetzt zu!) und im Untergrund die alte Brutalität und den Hass weiter schwelen liess, der an vielen Stellen hochbrodelte wie ein Geysir und das den Antisemitismus und Fremdenhass bis heute nicht überwunden hat. Diese Kräfte sind mächtig, ich bin ihnen oft gegenübergestanden – nicht nur bei meiner Grossmutter, einer durchaus angepassten Dame, die sich riesig freuen würde wenn sich die Russen jetzt alle gegenseitig um die Ecke bringen und endlich von der Landkarte verschwinden würden – und sie stimmen mich pessimistisch bezüglich eines Sinneswandels hin zu einer – in toto – vernunftbegabten Menschheit.

Das war mir noch ein Anliegen – wir haben es neulich ja nicht ganz zu Ende diskutiert, als Lajla mich fragte warum ich mich so negativ äussere. Sorry, wenn ich ins Dozieren gekommen bin – Berufskrankheit – dann bitte zurückpfeifen. Bin ich nicht böse! Obwohl das Abgründige mein Hobby ist. Davon später vielleicht ein weiteres.

This entry was posted on Mittwoch, 13. April 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

21 Comments

  1. Uli Koch:

    Trauern, so las ich kürzlich einmal sehr treffend, ist die Fähigkeit sich von etwas zu verabschieden, die leider immer wieder, aller Intelligenz zum Trotze, bei entsprechender Lebenserfahrung der Verbitterung zum Opfer fällt. Hier beginnt oft ein Labyrinth des Abgründigen, das oft noch viel finsterere Bereiche des Lebens erschließt, als ich je zu ahnen wagte.

    Denn nur, wenn keine Hoffnung mehr spürbar bleibt einmal Verlorenes auch nur ansatzweise zurückzubekommen verliert Gandhi‘s Aussage zur Rache, dass, wenn Auge um Auge gilt, bald die ganze Welt blind sein wird, an fassbarem Erfahrungshorizont und führt in lichtlose Welten. Unter Dante‘s untersten Ebenen des Infernos ist noch eine Kellerwohnung frei, die ich nach ausgiebiger Besichtigung eher nicht bewohnen möchte …

  2. Chrissie:

    Damit hättest Du bewiesen dass die Lyrik und die Metapher soche Dinge besser auszudrücken vermag als die Psychologie. Präziser und vor allem nachfühlbarer.

    Als ich im Studium meine beste Freundin an eine( damals noch unbekannte) Krankheit verlor war ich wütend ( Warum hat sie nicht besser aufgepasst, warum haben die Eltern nicht … und der blöde Arzt … und … und).

    Ein Mediziner, der viel mit Kunstfehlerprozessen beschäftigt war sagte mir: Die Suche nach dem Schuldigen erspart die Trauer darüber dass es eben einfach mal so ist wie es ist. Da stürzt man sich in so manchen ebenso toxischen wie unnötigen Kampf. Schlimm wenn jemand dann in der Politik sitzt. Donald Trump bekam von seinem Vater eingebläut er müsse „ein Killer werden“. Wenigstens ist der weg …

  3. Chrissie:

    Lese gerade auf ntv : Querdenker wollten Lauterbach entführen. Was für ein schönes Beispiel!

  4. Olaf Westfeld:

    Kein Zurückpfeifen – gerne weiter so schreiben.

  5. Chrissie:

    Danke, Olaf!

  6. Ursula Mayr:

    Sorry, jetzt natürlich nicht mehr Chrissie …

  7. Martina Weber:

    Dito. Und willkommen bei den Manafonisten!

    Zu deiner Aussage: „Damit hättest Du bewiesen dass die Lyrik und die Metapher soche Dinge besser auszudrücken vermag als die Psychologie. Präziser und vor allem nachfühlbarer.“ Ich denke, dass jede Wissenschaft und auch jede Kunstrichtung ihre Berechtigung hat und auf ihre Weise etwas betrachtet und damit umgeht.

    Bist du jetzt als Autorin Ursula und bei den comments Chrissie? Hat das tiefenpsychologische Gründe? ;)

    Nachtrag: Der vorhergehende comment von Ursula war noch nicht da, als ich diesen schrieb.

  8. Ursula Mayr:

    Danke!

    Nö, werd nur langsam etwas tüdelig und hab vergessen den Nickname zu ändern …

  9. Susanne L.:

    Mit Michael und Ursula gibt es nun ein Psychologennest auf diesem Blog :) – wobei ich M. kennenlernte auf einen Selbsterfahrungswochenende mit Musik im Freien an der Weser: damals ging es um Cluster, Moebius Rother, Rodelius und Co. – Michael hat zwei tolle Gruppentrancen gemacht, ohne esoterischen Schmu.

    Eine Kernfrage an jenem Wochenende war: wie tief kann Musik ins Leben eingreifen, und es erzählten einige Teilnehmer/innen von der Fähigkeit bestimmter Platten, ihre eigene Trauerarbeit tiefer werden zu lassen. Ich selbst hatte so eine Geschichte mit Van Morrisons Astral Weeks. An jenem Wochenende schütteten die gehörten Klänge eher Glückshormone aus!

  10. Lajla:

    Grüß Gott aufm Plotz. Du kannst hier stürmen oder verteidigen oder dich im Mittelfeld aufhalten. So wie beim Fußball nur 90 Minuten drin sind, ist es hier leider auch nicht möglich, in die (Diskussions)verlängerung zu gehen. Fast hättest du ein Goal gemacht, aber dann ging s halt – wie so oft – doch daneben. Dein Thema sollte aktualisiert werden. Warum sind die Querdenker so unfähig zu trauern? Was würde die ebenfalls von mir verehrte Mitscherlich sagen? „ Überall ist Seele drin?“ Was fällt dir dazu ein bzw. auf?

  11. Peter Helms:

    Na, diese Verlängerung war aber durchweg spannend, und es hat auch ungefähr dreissig Minuten gedauert, das hier alles in Ruhe zu lesen und wirken zu lassen. So spannend wie die Verlängerung von Atletico gegen Man City, nur waren da mehr Keilereien im Spiel!

  12. Ursula Mayr:

    Das mit dem Fussball verstehe ich jetzt nicht ist aber vielleicht ein Insider-Joke.

    Die Frage ist nicht, warum Querdenker nicht trauern können (gemeint sind hier nicht die Impfzweifler, die sich die Sache gut überlegen und vorsichtig angehen, sondern die militanten Verschwörungstheoretiker oder sonstige Dauerkämpfer – nicht für eine gute Sache, sondern für eine schlechte oder einfach nur die eigene Dauerempörung) – die Frage ist, warum Menschen zu Trauerunfähigen werden.

    Das zu erläutern würde hier den Rahmen sprengen, man kann es gut bei Melanie Klein nachlesen. Springender Punkt ist das Erreichen der depressiven Position, bei der der Mensch fähig wird den anderen als ganze Person zu erfassen, von sich selbst in der Wahrnehmung getrennt zu erleben und sich aufgrund dieses Lernprozesses dann davon trennen oder zumindest distanzieren zu können. Bei einer symbiotischen Verquickung geht das nicht – weil man nicht weiss, wo der eine anfängt und der andere aufhört. Ein Prozess der ersten 3 Lebensjahre. So hat Mitscherlich das auch formuliert.

  13. Lajla Nizinski:

    Wir sind elf Manas.

    „11 Freunde“ heißt das Lieblingsfussballheft von Michael. Ich lese es auch gern.

  14. Jochen:

    @ Ursula

    … und dann kommt der Vater ins Spiel als jemand, der das Kind aus der Mutter-Symbiose löst. Deshalb sind gute Väter wichtig und schlechte (solche, mit denen keine Identifikation gelingt) fatal.

    Manche behaupten sogar, das gänzliche Fehlen eines Vaters sei besser als eine schlechte Vaterbindung …

    .

  15. Ursula Mayr:

    Muss nicht zwingend der Vater sein – aber einfach ein Dritter. Kann auch eine Partnerin der Mutter sein, Opa, Onkel. Männliches Geschlecht wär aber gut, damit das Kind beides kennenlernt und damit sich selber auch besser. Das beeinflusst auch die Haltung wie der Mensch später mit Fremdem – im Sinne von Von-aussen-Kommendem umgeht.

  16. Jochen:

    Sehr einleuchtend, danke.

  17. Ursula Mayr:

    Immer gerne …

  18. Lajla Nizinski:

    Ich möchte gern bei der Frage bleiben. Da unter den Querdenkern viele Ostdeutsche sind, ebenfalls unter den Verschwörungstheoretikern, könnte ich mir ihre Unfähigkeit zu trauern als Laie damit erklären, dass sie die Wende nicht gepackt haben und ihre Hoffnung auf ein Zurück gestorben ist.

  19. Ursula Mayr:

    Solche Lebensbrüche haben natürlich auch grossen Einfluss. Die Frage wäre dabei, ob es sich um Menschen handelt, die vorher sehr stark mit dem System identifiziert waren? Das beträfe dann die älteren. Da gäbe es etwas zu betrauern, das im gesellschaftlichen Diskurs nicht betrauert werden DARF. Ähnlich bei den Jungs von der Hitlerjugend, denen ihre ganzen Ideale zerschlagen wurden. Die hatten auch keine Möglichkeit, sich zu lösen und zu verarbeiten.

  20. Lajla Nizinski:

    Stimmt. Ich habe auf meiner Insel einen 95 jährigen deutschen Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft kennengelernt. Er spricht 15 Sprachen fluently. Er erzählte mir, dass er Hitler anhimmelte. Auch er hatte sich nicht ganz gelöst. Das fiel mir auf, weil er mir so viele Soldatenwitze erzählte. Ich verglich das mit den Ärztewitzen, die angeblich Druck von der Verantwortung über Leben und Tod nehmen.

    @ Uli. Der österreichische Filmregisseur Ulrich Seidl hat einige Filme zum Thema „Abgrund“ gemacht. Ich empfehle angesichts des Ukraine Konflikts seinen Film: Export/ Import.

  21. Ursula Mayr:

    Seidl ist genial!

    Meinst Du Witze über Ärzte oder solche die sich Ärzte untereinander erzählen?
    Schönes Beispiel: Der Film „Mash“ von Robert Altman – bitte nicht mit der Serie verwechseln. Humor in schwer erträglichen Situationen. In diesem Fall würde ich eher von sexualisierter Abwehr sprechen.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz