Manafonistas

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Archives: April 2020

Orte, an denen der Schleier zwischen unserer Welt und der Welt der Toten durchlässig wurde, hatten die Kelten angeblich als dünne Orte bezeichnet. Verbindungen und Vermischungen sind dort möglich, erklärt Alke Stachler im Anhang ihres ersten Gedichtbandes mit dem Titel Dünner Ort. Auch die Gedichte ihres zweiten, Ende 2019 erschienenen Gedichtbandes Geliebtes Biest sind in einer solchen Zwischenzone angesiedelt. Man merkt es nicht sofort, weil Alke Stachler weder im ersten noch im zweiten Gedichtband ihren Gedichten Titel gibt, doch man spürt es nach einigen Seiten: Die 48 Texte, die das Büchlein umfasst, sind Teil eines Zyklus, sie sind sehr fein und durchdacht miteinander und gegeneinander verflochten. Motive werden wieder aufgenommen, Farben, Satzfragmente. Zwischen Annäherungen, Anrufungen und Offenbarungen geht es um Erinnerung und Heilung. Die Erfahrung ist existenziell. Die Gedichte entfalten einen Sog zwischen Motiven und Begriffen aus Märchen, Spiritualität, Religion, Naturwissenschaften und Alltag. „es gibt eine kurze und eine lange version“, heißt es in einem Gedicht, und in einem anderen: „ich weiß, dieses thema ist so alt wie die erde.“ Die zentrale Erfahrung, der Schreibanlass, wird auf sehr dezente Weise gestreift, eine Andeutung, die überlagert wird durch neue Gedankenansätze, harte Schnitte, Irritationen oder „laufmaschen in der matrix“. Alke Stachlers Gedichte kreisen um etwas, was jenseits der Sätze, also jenseits der Sprache liegt, weil es nicht ausgesprochen werden kann: „so viele wörter für die abwesenheit von wörtern“. Den Gedichten gelingt es, diese Sphäre spürbar zu machen, die Grenzen des Verstandes zu überwinden. Entworfen wird eine Schattenwelt, in der der Lesende letztlich auf sich und sein Unterbewusstsein gestellt ist.

 

ein zu lange gehaltener ton, erinnerungen wie an
eine jahreszeit. lass es winter gewesen sein. theorie
der melancholie als theorie der farben. dass es in
schüben kommt, verrätselte bewegungen ohne
muster. dass der irdische teil eines bildes immer
der kältere ist. weißes rauschen in den zähnen,
der punkt vor dem sprechen. ich als anemone,
dreizehnte zauberin. unwesen aus deinem frü-
heren leben. gibt es eine sphinx des lichtes oder
eine sphinx der finsternis. ist dieser körper eine
fälschung. schwanengerüst, glasnerven. ist schwarz
meine stiefmuttersprache, vergissmein.

 

Der erste Eindruck des Albums „Mixing Colours“ von Roger und Brian Eno wäre überraschend gewesen, hätte ich nicht die Vorab-Veröffentlichungen für die Klanghorizonte gekannt, denn kompositorisch-stilistisch ist das erstaunlich rückblickend, bezogen auf die Harmonik (du erinnerst dich bestimmt an deinen Musikunterricht: Tonika, Subdominante, Dominante, Funktionsharmonik, verminderter Septakkord usw.) („nein, nur sehr flüchtig“; M.E.)

 

Melodik und auch Form haben mich positiv überrascht, weil die Miniaturen nicht „amöbenhaft“ formlos gestaltet sind. Jedes der kurzen Stücke entwickelt sich aus charakteristischen Ingredienzien, hat klare Konturen.

 

18 kurze Stücke, zwar untereinander keine großen Kontraste aufweisend, aber doch jedes von eigenem Charakter. Nun gibt es (vor allem in der Klaviermusik des 19. Jhs.) den Typus des „Charakterstücks“. Der Einfachheit halber zitiere ich aus Wikipedia:

 

„Ein Charakterstück, lyrisches Stück oder Genrestück ist ein kürzeres Musikstück vor allem für das Klavier. Es soll eine Stimmung ausdrücken, die zumeist mit einem Titel umschrieben wird.“

 

Roger vergibt ebenfalls Titel, die wohl aus der englischen Farbwörter-Truhe stammen, jedoch offener sind als z.B. „Verrufene Stelle“ (Robert Schumann, in den „Waldszenen“ op. 82).

Er sagt im Interview:

 

I like the idea of having names of colours that you don’t have to associate a phrase like “the old road” or something like this with. You know, that you then focus on and that would be your mental vision. When you have the name of a colour, you have a kind of atmosphere, but it’s a non-specific atmosphere.

 

Ich habe einen Zyklus mit 24 Stücken assoziiert, nämlich F. Chopins Préludes op. 28, die ich dir wärmstens zum Anhören empfehle. Das sind Miniaturen vom Typus des „Charakterstücks“, wenngleich sie ganz neutral „Préludes“ heißen. Sie sind allerdings von höchstem Kontrastreichtum – ganz im Gegensatz zu Rogers schmaler Bandbreite an Stimmungen und kompositorisch von ganz anderem Kaliber.

 

Auf Komponisten der Romantik rekurrieren ja Víkingur und Roger, wobei Víkingur mit Schumann ziemlich  daneben liegt,  wie auch Roger korrigierend anmerkt: …  like definite harmonic influences, melodic like Schubert I’d say actually, more than Schumann … Von Chopin spricht Roger NICHT in Bezug auf stilistische Anleihen, sondern auf die magische Stunde der sprudelnden Kreativität: …  Put my equipment on and improvise, before you completely wake up it’s quite a good time for that. You know, you’re talking about Chopin, that’s his “opium hours”. That was quite a good time for me.   …  

 

Meine minimale Voreingenommenheit habe ich schnell abgelegt, zumal mir Benedicte Maurseth zuflog. Mit ihrer Musik und ihrem Buch „To Be Nothing“ beschäftige ich mich zur Zeit sehr intensiv. Dieser wunderbaren Musik aus Hardanger gegenüber bin ich überhaupt nicht voreingenommen, sie ergreift mich unmittelbar mit ihrer überwältigenden Schönheit. Dabei ist sie nüchtern betrachtet der Musik Roger Enos formal sehr ähnlich. Es sind Tänze & Hörstücke, die eine charakteristische, meist einheitliche Stimmung ausstrahlen, aus einem charakteristischen musikalischen Motiv  entwickelt werden, wobei variierte Wiederholung eine Rolle spielt.

 

Rogers Album ist stilistisch dem 19. Jahrhundert verpflichtet, natürlich auch der charmanten Simplizität Erik Saties, ABER die Sounds sind es NICHT. Deswegen ist mir die Anmerkung what is old is new, and what is new is old aus dem Booklet zu ihrem (und Knut Hamres) Album Anima eingefallen, diese Haltung, aus Tradition, aus Altem in Neuland vorzudringen, im Neuen die Bindung an Vergangenes zu bewahren. That’s Life.

 

Ich empfehle Benedictes bei ECM erschienenes Album Over Tones, auf dem Maurseth sowohl traditionelle Hardangermusik und Eigenkompositionen auf dem alterwürdigen Instrument Hardingfele spielt.

 

Ich habe mir zu jedem Stück Notizen gemacht, verzichte aber darauf, sie zu zitieren. Mir ist dabei aufgefallen, dass 3 Stücke über der gleichen Basslinie sich entfalten. Nach der Lesung des Interviews wurde bestätigt, dass es 3 Soundvarianten des gleichen MIDI-Files sind, also auch die Melodien identisch sind. OK, wäre mir nach weiteren Hör-Durchgängen sicher aufgefallen.

 

Brian So for instance, on the album there are three tracks that all use the same original MIDI performance.

Víkingur SPRING FROST, VERDIGRIS and CERULEAN BLUE

 

Auffällig ist, dass die meisten Stücke im 3/4- bzw 6/4-Takte stehen. Es gibt ein paar Stücke, die es mir besonders angetan haben:

 

04 – Wintergreen
05 – Obsidian / flächig fließend, Puls vermeidend
07 – Dark Sienna
09 – Snow / teilweise melodisch polyphon wirkend
10 – Rose Quartz
11 – Quicksilver / metrisch angenehm verwirrend
15 – Desert Sand / reizvolle Sound-Kontraste
16 – Deep Saffron

 

Lektüre nach 2-maligem Anhören des Albums

sehr interessante Passage:

 

Brian In fact, what’s interesting is when you are in both of those places, the past and the future. What has happened in the last 50 years of electronic music is that there’s been a huge emphasis – exploited almost entirely by pop music and hardly at all by classical music – on the new possibilities of instrument colour, timbre. If you think about classical music and you think that the clarinet represents this tiny little oasis of sound and the viola is another thing and the piano is another, but nonetheless there (ich ziehe das Wort THEY vor, es bezieht sich dann auf die Sounds herkömmlicher Instrumente) are little islands in the world of all the possible sounds that you could make. What’s happened with electronics is that all those spaces in between have been filled in with new sounds that never existed before, and lots of others that nobody even imagined. So suddenly there’s all of this huge palette of colours. It’s a little bit like if, from say the 1950s onwards, there had suddenly come into existence thousands and thousands of new paint colours. Can you imagine it that you go down to the paint shop and there’s a colour you’ve never seen before. Doesn’t have a name. It doesn’t look like anything else, sort of browny, pinky, greeny, bluey. There’s no name for it, you know. So, really, it’s only in pop music that that has been recognised, that the material of contemporary music more than anything else is timbre. It’s not really melody. It’s not really structures. It is beats.

 

Dem stimme ich im Großen und Ganzen zu. Aber schon vor dem Einzug der Elektronik in die Musik – beginnend in den 50er Jahren (Stockhausen, Studio für Elektronische Musik des WDR bzw. NWDR, aber auch andere in USA & Europa) – gab es in der Klassischen Musik die „Arbeit“ am Sound. Ich empfehle dazu:

 

Heinrich Ignaz Franz Biber, Battalia

Hector Berlioz, Symphonie fantastique
(übrigens das erste Stück Drogenrausch-Musik der Geschichte)

 

 

v i d e o

 

Da ich unlängst mal wieder Geburtstag hatte, aber aufgrund des Kontakt- und Reiseverbots seit Wochen kaum jemanden gesehen habe und auch etliche Gesprächsverabredungen mit Musiker/innen geplatzt sind, habe ich zur Feier des Tages mal wieder ein wenig Geld „investiert“, um ein paar ECM-Alben käuflich zu erwerben, nachdem mir schon etliche der Veröffentlichungen „fehlen“, die von anderen Autoren hier geschätzt werden, etwa die Trios von Carla Bley und Joe Lovano, Trio Tapestry. (Sowohl mit Lovano als auch mit Marilyn Crispell hatte ich darüber hin- und hergeschrieben, bei den Aufnahmen des Nachfolgealbums in Lugano als Dokumentarist dabei zu sein, nachdem zum Triodebüt ein Bekannter der beiden, ein New Yorker Filmemacher, eine kleine Doku zum Album gemacht hatte. Aber leider wurde nichts draus.) Der Postversand dauert ja derzeit deutlich länger als gewohnt; daher sind die Alben noch nicht bei mir eingetroffen.

Ein paar andere Labels schicken mir hingegen nach wie vor eine Auswahl oder den Großteil ihrer jeweils aktuellen Veröffentlichungen zu, selbst wenn es keinen „nordischen“ Bezug gibt. Über Edition habe ich ja bereits ein paar Mal geschrieben, über RareNoise schrieben ein paar andere Mitautoren mit Begeisterung, aber BMC fand auf diesen Seiten meines Wissens noch nie Erwähnung. „BMC?“ werdet ihr fragen… „Nie gehört.“ Ja, das Label Budapest Music Center Records bot mir etliche Male an, auf Wunsch Alben zu schicken; nun habe ich das Angebot endlich mal angenommen – und gleich eine ganz wunderbare Entdeckung gemacht: Miklós Lukács und sein Cimbiosis Trio spielen eine Art Jazz, mit dem sie deutliche Bezüge zu Volksmusik herstellen sowie darüber hinaus auch zu Bartók, mit dessen Kompositionen Lukács in der Vergangenheit ebenfalls ein Album in einer (anderen) Triobesetzung (mit Violine und Kontrabass) aufgenommen hat.

Bislang kannte ich Lukács nur (am Rande) aus der Band auf einem fantasievollen Konzertalbum von Charles Lloyd (auf dem nebenbei bemerkt auch der Grieche Sokratis Sinopoulos mitspielt), aber er hat zuletzt auch mit anderen ECM-Bekannten zusammengespielt, da gab es vor wenigen Jahren noch ein anderes Trioalbum (Cimbalom Unlimited) mit Larry Grenadier und Eric Harland, das ich mir nun auch noch besorgen muss. (Und in einem wieder anderen Ensemble spielt Miklós Lukács eine andere internationale Kollaboration mit Johnathan Blake, Román Diaz und Rogério Boccato.) Überhaupt hat sich Lukács in den letzten 20 Jahren eine beeindruckend umfangreiche und vielfältige Diskografie zusammengespielt, sein brandneues Album mit dem Cimbiosis Trio, das den sehr schönen Titel Music From The Solitude Of Timeless Minutes trägt, macht auf mich auch den intensiven Eindruck einer lange gewachsenen künstlerischen Verdichtung und Meisterschaft, die heitere kleine Geschichten ebenso wie dramatische Momente versiert innerhalb eines größeren erzählerischen Bogens verzahnt. Ohne dass ich viel von seinem bisherigen Schaffen kenne, scheint dieses Programm, das eine achtteilige Suite (zusätzlich noch in Part 1 und Part 2 unterteilt) von einer großen Klarheit der eigenen individuellen Klang- und Kompositionssprache gezeichnet Ich liebe sowas. Ich freue mich immer, wenn ich eine musikalische Klang- und Ideenwelt entdecke, die so vollkommen anders ist.

Einen wesentlichen Anteil daran hat natürlich schon die Wahl von Miklós Lukács’ Instrument: Das Zymbal (wahlweise auch Cimbalon oder Cymbalom) ist die auf dem Balkan, in der Folklore der karpatischen Landschaft verbreitete Abwandlung des Hackbretts. Für mich klingt es, vielleicht auch wegen der Spielmöglichkeiten mit einem Pedal, oft wie ein ins Surrealistische gleitender Cousin des Vibrafons. Jedenfalls dringen auf diesem Album, auf dem Lukács mit dem Kontrabassisten György Orbán und dem Schlagzeuger István Baló spielt, eine Vielzahl von Assoziationen ans Tageslicht. Für ein Stück wird übrigens auch hier eine kleine ECM-Verwandschaft erwähnt: György Kurtág Jr. wird für die „heartbeats“ gedankt.

 
 


 
 

Ein weiteres, ebenfalls ungewöhnlich besetztes Kammerensemblealbum einer mir bislang ebenfalls unbekannten Musikerin entdeckte ich durch eine nachdrückliche Empfehlung: Julie Campiche kommt aus der Schweiz und spielt Harfe – mit Effekten. Auf ihrem neuen Quartettalbum Onkalo (aufgenommen im Studio La Buissonne) spielt sie mit Saxofonist Leo Fumagalli, Kontrabassist Manu Hagmann und Schlagzeuger Clemens Kuratle, und auch die drei Musiker ergänzen ihre Instrumente mit elektronischen Effekten. Interessanterweise entsteht dadurch aber keineswegs ein aufgepeitschtes, gar noisiges Free-Jazz-Werk, sondern ein raffiniert unkonventioneller elektro-akustischer Klangspielraum mit viel Transparenz und Poesie zwischen Genre-Kategorien, wie man es gelegentlich speziell aus der norwegischen Szene kennt. Die weitgehend langen Stücke (zwischen 7 und 12 Minuten) sind ganz wunderbare Entdeckungsreisen in einen sehr gegenwärtigen Jazz, der mit Texturen arbeitet und seinen teilweise etwas treibenderen Passagen auch „Post-Rock“-Qualitäten hat. Sehr faszinierend, aber auch recht eingängig und melodisch geschickt.

Noch etwas ganz anderes ist das neue, bereits fünfte Album von Waxahatchee alias Katie Crutchfield aus Birmingham, Alabama, einer Stadt, die den meisten wahrscheinlich allenfalls für ihre zentrale Rolle in der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre bekannt ist (ansonsten kann man noch Sun Ra, Angela Davis, Condoleezza Rice und Emmylou Harris als Söhne und Töchter  Birminghams einordnen). Die 31-jährige Songwriterin lebt mittlerweile in Kansas City, nennt ihr Projekt seit 2010 nach dem Waxahatchee Creek aus ihrer Heimatgegend, und das gerade erschienene Saint Cloud ist das erste seit ihrem zweiten Album Cerulean Salt, das durchweg begeisterte Besprechungen bekommt. Nun muss ich mir doch mal die beiden Alben dazwischen, die ich ausgelassen habe, besorgen, denn der Weg von ihren rauen Low-Fi-Akustik-Songs auf dem Debüt American Weekend über den sehr eingängigen Alternative/Indie-Rock auf dem Zweitling, der sehr an die früheren Alben von Cat Power, an Sleater-Kinney und die Breeders, aber auch ein wenig an Velvet Underground erinnerte, ist doch ein recht weiter zu diesem souverän gesponnenen Songalbum der Kategorie Americana, Folk und Country-Rock.

 

Americana ist meiner Meinung nach aus einer rebellischen Haltung heraus entstanden. Leute wie Lucinda Williams oder Jason Isbell. Das sind Leute, die nicht in die Radio-Country-Schublade reinpassen. Weder musikalisch noch politisch. An sich ist das ja auch Punk. Ich bin mit Country von Loretta Lynn aufgewachsen. Dann kamen ‚teenage angst‘, Punk-Ethos und -Musik und ich begann viele Dinge am Süden zu verachten. Unter anderem Country. (…) Ich hatte bei ‚Saint Cloud‘ das erste Mal das Gefühl, nicht gegen irgendetwas ankämpfen zu müssen. Das war eine gewisse Rückkehr zur Ursprungsform. (Spex-Interview)

 

Ich habe mindestens vier sehr unterschiedliche Rezensionen gelesen, die von Saint Cloud aus mühelos Bob-Dylan-Parallelen ziehen. Der Musikjournalist des britischen Guardian nennt das Album sogar „the best album of the year so far“ und kommentiert: „With tracks that nestle in heartache and bask in hard-won wisdom, this is an artefact of American song that measures up to Dylan at his peak.“ Große Fußstapfen also, aber Crutchfield selbst war erklärtermaßen von Lucinda Williams großem Durchbruchalbum Car Wheels on a Gravel Road beeinflusst, über das sie anlässlich des 20. Jubiläums vor knapp zwei Jahren einen Ehrungstext schrieb; auch hat sie schon Songs von Williams gespielt, und eine erstaunliche Nähe zu der älteren, einflussreichen Kollegin entdeckt:

 

It’s hard to talk about this record without talking about Lucinda Williams. A lot of different songwriting and storytelling techniques on ‚Saint Cloud‘ are borrowed from Lucinda. Her ability to put you in a place that you’ve never been is pretty unparalleled. A lot of these songs jump around from place to place, they flash back to 10 years ago and then come to the present day. (Pitchfork-Interview)

Eigentlich sollte diese Musik nicht „Musik für verstimmte Klaviere“ sondern genauer „Musik für besonders gestimmte Klaviere“ heißen. Der englische Musiker, Instrumentenentwickler und Komponist Max de Wardener hat in den vergangenen beiden Jahren mit Hilfe des Klavierstimmers Laurence Fischer eine Reihe sehr eigenwilliger und tiefgründiger Stücke realisiert. Dabei verwendete unterschiedliche Stimmungen: die Pianola-Tunings von James Tenney, eine tonal eingeschränkte Stimmung in der Naturtonleiter nach La Monte Young und in den unheimlichsten und atmosphärisch dichtesten Stücken des Albums Deranged Landscape und Doppelgänger eine spezielle Stimmung nach Harry Partch. Dazwischen gibt es für die „familiäre Perspektive“ auch einige Stücke in temperierter Stimmung, die aber durch den Kontrast etwas durchaus befremdliches bekommen. Teils überlagert er verschiedene Tunings wie bei Spell und setzt gelegentlich auch ganz dezente elektronische Akzente. Das hört sich manchmal an wie ein Gamelanorchester im Nebel, wie die Geisterhände eines verstorbenen Pianovirtuosen auf einem verstaubten Klavier in einem verlassenen Haus irgendwo an der englische Küste oder dem Versuch einen Entwurf von Steve Reich auf einem kaputten Barpiano zu realisieren. Alle Stücke werden von dem großartigen Kit Downes gespielt, der souverän verhindert, das sich auch nur bei aller Obskurität für einen Augenblick der Eindruck von Dilettantismus oder Defektbewältigung einschleichen kann, sondern ganz im Gegenteil diese sonderbaren, musikalisch hochorginellen Miniaturen ganz selbstverständlich, fast so als ob es diese Schwebungen, Dissonanzen und Verzerrungen nicht gäbe, erklingen können. Dabei entsteht ein Flow, der mit einer fast ambienthaften Leichtigkeit durch das ganze Album trägt. Eines der originellsten und musikalisch bemerkenswertesten Alben dieses Frühlings. Dann wäre nur noch die Cover-Art zu erwähnen, die von der Künstlerin Penelope Umbrico mit Smartphone-Apps geschaffenen fragmentierten und abstrakten Bergsilhouetten, die optisch umsetzt, was die exzentrische Musik an Entfremdung entfaltet.

 
 

2020 10 Apr.

Muthspiel

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Die Grenzen des versierten Gitarrentrios neu auslotend, fasziniert besonders das Oszillieren dieses Gitarristen aus Österreich zwischen den Bereichen Klassik und Jazz, ferner auch das raffinierte Einsetzen von Echo- und Loop-Effekten. Beim Hören und Sehen (als ein Freund gelungener Musikvideos, für den es muy importante ist, auch einen visuellen Eindruck der Musiker bzw der Musik zu haben) auf YouTube (der Mindestabstand von zwei Metern sollte auch hier der Server-Last wegen unbedingt eingehalten werden) war ich hin und weg („Das grenzt an Zauberei!“): das Bild eines dreidimensionalen Schachspiels erscheint. Jeder einzelne des Trios musiziert gleichzeitig für sich allein auf seiner Ebene, im Gesamtraum des Zusammenspiels kommunizieren aber alle miteinander: das Gefüge der Gruppe. Jener Moment, in dem der Hörer (und Betrachter) sich fragt: „Was geht da ab? Wie machen die das bloss?“ Das frage ich mich oft im Jazz: ja ist es denn ein Wunder! Jetzt ist auch noch das brandneue Album Angular Blues erschienen, mit Brian Blade am Schlagzeug und Scott Colley am Bass. Wolfgang Muthspiel spielt akustische Gitarre, aber auch die elektrisch verstärkte, wie gewohnt. Das Stück „Kanon in 6/8“ ist auch dort zu hören.

 

Original

 

Cover

 

Wer auf Netflix Teenage-Serien schaut, der darf auch gern mal Teenage-Lieder covern. Der Song schlich sich per Algo-Rhythmus in die Playlist rein, irgendwie kannte ich ihn, vielleicht nervte er mich sogar unbewußt, wenn ich ihn irgendwo hörte. Aber plötzlich: „Hey, wie geht denn das?“ Going along with it for days now, komme nicht mehr davon los: „This is how I feel.“ So ist das mit addictions: to be torn.

 

 
 

Well if this world where we live

Is the only one we have

Then there’s only one thing, I’m thinking of

Let’s go for that ride

Keep our eyes open wide

Cause somewhere someone’s falling in love

John Prine

So fine

On the guitar

In „Maureen, Maureen“

 
 

I‘m lying on the grass. Like in the XTC song, but Eno and Hyde have their air play now. It is warm. There‘s no one around. Happily barking dog in the distance. The album streams from a simple UE Boom Box. Daydreaming. The evening before I could have walk-danced like the young woman in the M. Ward video of „Unreal City“. That was real Paris, months ago, it now looks… unreal. Horrible. Try to find a Thalys in autumn. Try to find old me in old Paris. Le Chat Noir, long closed. Now, not all those  darknesses – not to know where to bury the dead in NYC, all that suffocating, that loneliness, those last looks. „High on a hillside, the trucks are loading, / Everything’s ready to roll / I sleep in the daytime, / I work in the nighttime, / I might not ever get home“. Breathe deeply. Ready to lose, ready to celebrate. April, my tender cruel stargazing month. We all have to find enough answers for ourselves these days. Polaroid pictures fading, dreams collapsing. Anyway, the someday world may show itself in glimpses. Now, as the melodies float on.

 
 

 
 

Michael: There‘s so much joy and hope in this album. But the last song of the album, „To Us All“, is so dark when you hear the lyrics: it could be written by a soul mate of Samuel Beckett, there are lines like „From the blood that we just we couldn’t spill / From the ones that we just couldn’t kill / We spin a world in a dizzying fall / To see the things that will happen to us all.“ But the sounds and the melody have an incredibly warm, embracing quality. it sounds like a lullaby for the end of the world, or, to our endlessly numbered days.

 

Brian: That was actually a much longer song earlier, there were four other verses, and I took them all out. Just left that bit. And the four other verses for me painted the picture too fully. They filled in all the details, and it wasn’t so good then. So I emptied it and was just left with what had actually been the climax. So the song had built up to those two verses that exist. As a sort of climax, but then I thought: get rid of the build-up, just have the climax! I’ve never really done a song in quite that form except it’s slightly like a song of my very first album, called „On Some Faraway Beach“, where there’s a long lead-up, and there are three short verses that sort of just sit there like a little island in the song.

 

Die Wolkenkratzer in New York City, zur Zeit der Abenddämmerung. Ein junger Mann eilt eine Straße entlang und betritt die Peep-O-Rama-Lounge. Junge Frauen räkeln sich an Stangen, vollführen akrobatische Bewegungen, sind spärlich bekleidet. Nur wenige Besucher sind da. Ein älterer Mann mit lockigem Haar stochert mit einem Plastikstrohhalm in seinem Drink, er pustet den Rauch seiner Zigarette gezielt teilnahmslos in den Raum. Alles ist in weiches Licht getaucht, in warme Farben. An einem großen Bildschirm werden Fotos präsentiert, Polaroids, verwaschene Formen und Farben. Als blätterte jemand ein unsortiertes Fotoalbum durch. Ein Junge beim Baseballspiel, der Hund, Ausflüge mit dem Vater, Herumsitzen mit der Freundin auf dem Campus. Das Geländer der Brooklyn Bridge im Nebel. Der junge Mann sieht davon nichts, er starrt vor sich hin. Dann nimmt er die Bilder wahr, starrt, Tränen in den Augen. Er zittert, denn es ist sein Fotoalbum, seine Geschichte. Ich nehme die Fernbedienung, spule zurück. Es ist eine Schlüsselszene in dem Film „Stay“ mit Ryan Gosling, und so spannend es auch war, die Fotos wollte ich mir sofort nochmal ansehen. Polaroids von einem solchen Zauber, einer derartigen Tiefe bei gleichzeitiger Unschärfe hatte ich noch nie gesehen. Über den Audiokommentar erfahre ich, wer die Fotos gemacht hat: Es ist Stefanie Schneider, die in Norddeutschland aufgewachsen ist und teils in Berlin, teils in der kalifornischen Wüste lebt. Sie arbeitet seit 1996 mit abgelaufenen Polaroidfilmen, also mit analogem Material. In einem Interview, abgedruckt in dem Fotoband Instantdreams, bezieht sich Stefanie Schneider auf die japanische Weltanschauung des Wabi-Sabi. „Ein abgelaufener Polaroidfilm erzeugt Unvollkommenheiten“, sagt sie, „die für mich den Verfall des amerikanischen Traums widerspiegeln. Diese sogenannten Unvollkommenheiten stellen die Realität dieses Traumes dar, wie er sich in einen Albtraum verwandelt.“ Abgelaufene Polaroidfilme verfremden die Bilder, weil die Entwicklung unberechenbar wird, durch blasse Stellen, Flecken, verwischte Farben. Der Effekt hat etwas Unheimliches, gleichzeitig werden die Motive auf eine surreale Weise auf eine abstraktere Ebene gehoben. Als prägende ästhetische Einflüsse nennt Stefanie Schneider Michelangelo Antonionis Red Desert und Zabriskie Point, Peter Bogdanivichs The Last Picture Show, Vanishing Point (Fluchtpunkt San Francisco) sowie den provokativen Film Gummo von Harmony Korine. Eine Auswahl von Polaroids aus dem Film Stay finden sich in Stefanie Schneiders Fotoband Stranger than Paradise, außerdem diverse Fotozyklen, verknüpft mit offenen Lebensexperimenten, wie dem Whiskey Dance. Wo findet Wirklichkeit statt? Wie erinnern wir uns? Woher stammen die Bilder, die ins kollektive Gedächtnis eingehen? Stefanie Schneider führt uns an Orte, an denen wir nie gewesen sind, in ein Land, das wir zu kennen meinen, und das es dennoch nicht gibt.

 


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