2021 9 Feb.
Steine, die sich mir in den Weg legen
von Lajla Nizinski | Kategorie: Blog | | 9 Comments
Wir hatten uns verabredet, zwei Freunde, und Ingrid Urban, die Frau, mit der ich die ersten Zungenküsse erforscht hatte. Marokko war von zuhause ausgezogen, zwei Strassen weiter, Singerhoffstrasse. Er gab mir ein paar Flugblätter, auf denen stand, dass Robert Wyatt im „Underground“ spielen würde. Wie bitte?! Robert Wyatt?! Ich musste sofort los. Eine riesige Wendeltreppe führte in eine unterirdische Kelleranlage, und ich staunte nicht schlecht, Alan Bangs, Windried Trenkler und Klaus Schäfer anzutreffen. – Alan Bangs, okay, Radio, Winfried, okay, Radio, aber wie kommst du hierhin, Klaus? Mein Klassenkamerad vom Max Planck. Ich kannte seine Vorlieben, The Byrds, Leonard Cohen, deshalb wunderte ich mich. Er lachte nur und sagte, Wyatt und seine Freunde würden ja nicht jedes Mal die Sterne vom Himmel rocken. Wie eine Raga, mal nehme sie gefangen, mal langweile sie, lasse jede Minute langsam vergehen. Soso. Ich kam aus dem Staunen nicht raus, und ging zu den „Bullaugen“, durch die ich auf eine Art See schauen konnte, von der die Musik zu uns herüberströmte. Es störte mich nicht, dass ich die Musiker gar nicht sah, es erklangen atemraubende Versionen von „Sea Song“ und „Last Straw“, die ich so noch nie gehört hatte. Zwischendurch fragte ich mich, wo der Saxofonist Gary Windo sei. Von Klaus bekam ich noch ein Papier in die Hand gedrückt, mit den gespielten Stücken. Man würde hier das Album „Rock Bottom“ erarbeiten. Ich war komplett absorbiert, und erwachte gegen 1.15 Uhr, nach der ersten Traumphase (R.E.M.). Ich machte mir einen Kakao, schmunzelte, und schreibe diese Zeilen mit dem Traumtext auf. Nichts ist ausgeschmückt, nichts erfunden. Winfried Trenkler habe ich nie persönlich getroffen. Aber ich sehe sie schon, die vielen dünnen Fäden in die Jugendzeit. Ich war noch ein Teenager, als ich „Rock Bottom“ in einem der zwei relevanten Dortmunder Plattenläden erstand. Von der älteren Lady, der blonden Chefin, Mitte 30, hätte ich mich gerne flachlegen lassen. Es wäre wohl des Guten zuviel gewesen. Blödsinn, es wäre grandios gewesen.
2021 9 Feb.
Vom Verschwinden und Auftauchen des Lichts
von Michael Engelbrecht | Kategorie: Blog | | 2 Comments
Tindersticks: „Medicine“
Ein einfacher ruhiger Song, mit dunklen Winkeln ausgestattet. Auch in den bewegten Bildern ist manches zu entdecken, ohne dass etwas passiert. Objektsuche, Schattensuche. Ein möblierter Raum: Nachtzeit. Und das Lied läuft, wir erkennen es am Ausschlag des Lautstärkereglers. Es gibt behagliche Stellen zum Niederlassen, stille Tiere, zum Ende hin kommt das Tageslicht hinzu. Lichteinfall. Das Lied ist ein paar Jahre alt und stammt aus dem Album „The Something Rain“. Am 19. Februar erscheint das neue Album, „Distractions“, und auch wenn ich nie ganz verstehen werde, warum er bei diesen gesammelten „Ablenkungen“ Neil Youngs „A Man Needs A Maid“ covert, ist es ein beeindruckendes Werk geworden. „Lean and stripped back of instrumentation, possessed of a prickly temperament and – by Tindersticks’ rather lugubrious standards – a fire burning in its belly, it proves that even this rather venerable band still have the capacity to surprise.“ Ein Song ist fest gebucht für die Klanghorizonte. Und, ähem, vielleicht verstehe ich das doch ein bisschen mit dem Young-Cover. Der Song ist auf „Harvest“ einfach überinstrumentiert und leidet unter der ungeheuer pathetisch vorgetragenen Titelzeile, die ja auch, poetisch gesehen, nicht der Brüller ist: „a ma-a-a-a-n needs a maid“; Stuart Staples Cover ist, was nicht so schwierig ist, entschlackter und feinsinniger, immerhin. Und, dort, wo es im Album auftaucht, hat es seinen idealen Platz gefunden. (Ich habe inzwischen etwas gelesen zu Staples‘ Ding mit dem kitschigsten aller Neil Young-Songs. Er habe ihm zehn Jahre im Hinterkopf rumgechwirrt, und es sei wohl die Begleichung einer alten Rechnung gewesen.)
2021 8 Feb.
Bertrams Rage
von Jochen Siemer | Kategorie: Blog | Tags: Diversität, Merkeleyen, Zorn und Zeit | | 3 Comments
„So, wenn ich jetzt auch nur eine schlechte Kritik finde, zeige ich denjenigen an!“ faucht Herr Bertram, nachdem die Serie The Queen´s Gambit ihn so verzaubert hat. Er findet eine, beim Online-Portal Rotten Tomatoes, die beanstandet, dass eine Farbige lediglich den Sidekick mimt für eine Weisse, die dann mal wieder siegt: the winner takes it all. Okay, das lässt Diversität vermissen und ist klischeehaft. Dann aber folgt ebenso bezaubernd „Die Ausgrabung“ (The Dig) auf Netflix und es finden sich gefühlt mehr mäkelnde Kritiken dazu als Impfstoffdosen in der gesamten Europäischen Union. Aufstand der Nörgelheinis, oder was? Bertrams Entrüstungsakku ist zum Glück schon leer, die Packung Peter Stuyvesant ist aufgeraucht, begleitet von zwei Whiskeys der Marke Daniels, Jack. Ursache der Ausschweifung: eine vorangegangene Wutattacke ob des selbstgerechten Hochmuts Ursula von der Leyens, wie der Bertram findet in seinem Zorn: ewige Klassenbeste, Zicke, Krankenschwester – was fällt ihm nicht noch alles ein. Geiz ist geil, Frau Kommissar? „Die anderen waren es, ich mache immer alles richtig!“ Albrechtsches Arroganz-Gen, ganz wie der Vater, denkt sich Bertram und überhaupt, was erlauben die CDU. Thorsten, sein Ehemann, ist vom Naturell her moderater eingestellt, sehr ausgewogen und deshalb genervt: „Mässige dich mal, Klaus-Dietmar! Die gute Frau macht ihren Job und ist vernunftbegabt. Wir alle können irren.“ Und wenn schon Feindbilder, dann doch bitte die Verschörungstheoretiker auf´s Korn genommen, fügt er noch moderat hinzu.
2021 7 Feb.
Abgeschriebene Innentümer
von Olaf Westfeld | Kategorie: Blog | Tags: Arte, Fleet Foxes, In Therapie, The Notwist, Thomas Tranströmer | | 5 Comments
Der Schattenriss einer gewundenen Straße dehnt und kringelt sich mit wolkenähnlicher Leichtigkeit um einen Schacht, der sich im Wohnzimmer zwischen den abgeschliffenen Dielen in einen antiken Tunnel öffnet. Süße Feuer flackern, feiner Funkenregen. Eine alte Strickleiter. Abstieg. Monatelange Wanderungen durch ein antikes Kloakensystem, halb im Dienst, halb auf der Flucht und selten fällt schwaches Licht herab. Der Blick nach oben, Schneewirbel und Sternenhimmel zwischen Abflussgittern. Manchmal Nordlichtschlieren. Schwindel. Ich friere und mir wird einfach nicht mehr warm.
Nach dem Helplessness Blues der Zusammenbruch. Jetzt ist das rettendende Ufer erreicht, ein Augustabend an einer einsamen Pazifikbucht. Sand zwischen den Zehen. Sternschnuppen regnen herab. Fledermäuse flattern, der Hund jagt einen kleinen Igel im Unterholz, der Ruf einer Eule zwischen dem Tosen des Ozeans. Ein kaltes Bier, ein frischgefangener Fisch über dem Feuer, ein Keks zum Nachtisch. Was ist Erinnerung, was ist Traum? Die Sterne sind veränderbar, der Himmel kann herabfallen. Die Eule landet auf meiner Schulter und flüstert in mein Ohr: Willkommen zurück.
2021 6 Feb.
„Weit“ – keine Reise. Ein Lebensabschnitt
von Martina Weber | Kategorie: Blog | Tags: Dokumentarfilm | | 9 Comments
Im Sommer 2013 hievten Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier, ein junges Paar um die Dreißig aus Freiburg, ihre sorgsam gepackten Rucksäcke auf die Schultern und ließen sich von einem Freund mit dem Auto an die bulgarische Grenze fahren. Sie wollten so weit Richtung Osten, nach Kasachstan, Iran, Indien, Pakistan, Tokio und über den Pazifik usw., bis sie wieder in Deutschland ankommen würden, eine Reise ohne Flugzeug, also mit Bodenhaftung, einem natürlichen Zeitgefühl, Nachhaltigkeit und das meistgenutzte Verkehrsmittel sollte das Trampen sein. Die beiden machten Aufnahmen mit ihren Handykameras, um ihre Erinnerungen mit ihren Freunden und Familien zu teilen, sie tauschten ihre Erfahrungen als Filmemacher gegen Kost und Logis, beteiligten sich immer wieder an sozialen Projekten und ihre Route hatten sie nur vage geplant. Meist schliefen sie in ihrem kleinen Zelt, in Städten buchten sie Schlafplätze über Couchsurfing, nur gelegentlich mieteten sie eine feste Unterkunft. Das Alleinsein in der Wildnis. Die Stille in der Wüste. Geburtstag feiern in einem Zelt im Pamirgebirge in Tadschikistan, während der Schnee unablässig fällt, so dass die beiden den Schnee ununterbrochen von der Zeltplane abklopfen müssen, um nicht einzuschneien. Die Landschaften, die Weite, Fernstraßen. Erfahrungen, die nur möglich sind, wenn Vertrauen aufgebaut ist: Ein Schamane erlaubt dem jungen Paar, an einer Anrufung von Geistern teilzunehmen. Aus Respekt schalten sie die Kamera aus, als sich die Ahnen zeigen. Die Gastfreundschaft. Die Gelassenheit der Menschen. Handbemalte Busse. Weißgekleidete Sufis, die sich zu ihren Ritualen versammeln. Die Haut eines Elefanten berühren. Der Anblick des Fuji vor der Einreise nach Tokio. Weit – so nannten die beiden den Film – wurde zu einem Dokumentarfilm, der auf zahlreichen Festivals lief. Bis Ende Februar kann man den beeindruckenden Film unter diesem Link in der 3sat Mediathek ansehen (Dauer: ca. zwei Stunden). Man kann ihn auch über die Website der Filmemacher, wo es auch kleine Portraits über Reisebekanntschaften zu sehen gibt, erwerben. Von Tokio aus ging es in das Land, das sich die Reisenden für die Geburt ihres Kindes ausgewählt hatten: nach Mexiko. Per Containerschiff ging es später nach Barcelona; die letzten 900 Kilometer nach Freiburg wanderten sie zu Fuß. Sie waren bis Sommer 2016 unterwegs, länger als drei Jahre. Ein Lebensabschnitt. Eine lebensverändernde Zeit. Unvergessliche Eindrücke und Bilder.
Die Pardo Bar in Düsseldorf ist meine Lieblingsbar, aber nicht aus lukullischer Sicht, also: Essen Sie dort nicht. Bestellen Sie einen Cappu und betrachten Sie den hohen Raum. Sehr schnell werden Sie den Eindruck haben, Sie hätten Geburtstag. Die farbenfrohen Girlanden hängen vertikal von der Decke, die bunten Ornamente befunkeln Sie auch ohne Discokugel.
Ich bringe jeden meiner Besucher in diese Bar, weil ich auf diese außergewöhnliche Location so richtig stolz bin. Wir befinden uns immerhin mitten unter den Kunstschätzen der Nordrhein-Westfalen Sammlung am Kaiserteich in Düsseldorf. Mit diesem ungewöhnlichen Design gelingt dem kubanisch- amerikanischen Künstler Jorge Pardo ein wahres Kunststück. Wenn man die Bar betritt, verfällt man in eine heitere Partystimmung. Dieser Jorge ist in New York zuhause.
Vor zwei Tagen schickte mir ein befreundeter Musiker zum Frühstück eine Flötenmelodie. „Sehr schön, danke. Von wem?“ Die Antwort war ein Video. TRANCE über Jorge Pardo.
Jorge ist zur Zeit privat auf El Hierro. Was für eine Ehre! Der Musiker ist mit seiner Flöte und seinem Saxophon in der internationalen Jazzszene sehr anerkannt und viel unterwegs. Er spielt u. a. mit Paco de Lucia und Chick Corea. Er gilt als einer der außergewöhnlichsten Jazzmusiker in Europa. Dieser Jorge ist in Madrid geboren. Seine spanischen Wurzeln hört man in der Verbindung von Jazz und Flamenco. Mit seiner Band „Huellas“ beweist er in vielen Auftritten, dass die Fusion vom Feinsten ist.
jorgepardo.com
2021 5 Feb.
Nearly touching the notes flying off the Steinway in Modul 55
von Michael Engelbrecht | Kategorie: Blog | | 5 Comments
Am 19. März erscheint ECM 2703. Obwohl ich einen Stream dieses Werkes bereits gehört hatte, in einer Infrarotkabine auf Sylt, hatte ich nun erstmals die Gelegenheit, ein Weissmuster der CD über meine Anlage laufen zu lassen. Nik Bärtschs „Entendre“ ist eine hochspannende Angelegenheit. Und wer je meinte, seine „Module“ seien womöglich etwas zu sehr in systemischen Konzepten verzurrt, kann hier, einmal mehr, nach den Arbeiten im Kollektiv von „Ronin“, entdecken, was Entfesselungskunst im reinen Pianosolospiel bedeutet. Es würde mich wundern, wenn ECM 2703 nicht in den Jahreslisten der mir bis jetzt bekannten, bekennenden „Ronin-Hörer“ dieses Blogs auftauchen würde, bei den Herren Klinger, Siemer, Westfeld und Koch. Leicht könnte es sein, dass noch der eine oder die andere hinzukommt. Am 11. März stelle ich die Musik des Schweizers im Rahmen eines kleinem Beitrages in den von Odilo Clausnitzer gestalteten JazzFacts des Deutschlandfunks vor, die um 21.05 Uhr beginnen. Mit Ausschnitten aus einem aktuellen Interview. Im April spielt Nik dann in den Klanghorizonten auf.
2021 5 Feb.
Story with „Cello“
von Manafonistas | Kategorie: Blog | Tags: Cello, David Darling, Steve Tibbetts, The Fall Of Us All | | Comments off
In December of 1992 I came back from 6 months of working in Nepal gratuitously wallowing in heartbreak. A love affair doomed from the start was, well, doomed and died. In January of 1993 I’d take breaks from recording „The Fall of Us All“ to stand in the open doorway of my studio and smoke. In order to feel properly sad and in order to smoke Camel Straights with credibility I made myself sadder by playing David Darling’s „Cello“ album, especially the first selection. Also „Toward the Night“ by Someh Satoh – I alternated between Satoh and Darling depending on the level of misery required. Just seeing the cover of either CD made me feel sad. Very satisfying.
When we feel righteously sad, why do we feel the need to make ourselves sadder by choosing exactly the right music to accompany our sad sadness? Darwin wants to know.