Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Vor vier Wochen war ich auf dem ersten Konzert in diesem Jahr, meinem zweiten seit März 2020. Auf der kleinen Insel Lonna, per Fähre in 10 Minuten vom Stadtzentrum Helsinki aus zu erreichen, veranstaltete das finnische Label WeJazz Records das zweitägige „Odysseus“ Festival, weitgehend Open-Air. Zufällig passten die Daten in unsere Ferienplanung, so kaufte ich am 09. 12. 2020 drei Karten (nachdem ich mich vorher versichert hatte, dass man einen Hund mit auf die Insel nehmen durfte). Danach war ich lange Zeit skeptisch, ob ein Konzertbesuch klappen könne, ja eine Einreise überhaupt möglich sei – doch dann kamen wir am 24. 7., dem ersten Konzerttag, morgens um 8:00 mit der Fähre in Helsinki Vuosaari an, konnten gegen 11:00 unsere Airbnb Wohnung beziehen und waren dann nach einem Treffen mit Freunden und Bummel durch die Stadt gegen 16:00 auf der Insel.

 

Uns empfing eine relaxte Atmosphäre, in dem durchmischten Publikum war von einer Pandemie wenig zu spüren. Das war ungewohnt, ebenso wie es etwas seltsam war, überhaupt wieder unter vielen Menschen zu sein; nach sehr wenig Zeit konnten wir uns aber darauf einlassen. Eine große Bühne war zwischen zwei alten Lagergebäuden aus rotem Backstein aufgebaut, die Musiker spielten vor Bäumen, dahinter funkelte das Wasser. In einem der Gebäude war noch eine kleine Bühne für intimere Konzerte, die zum Teil parallel, zum Teil versetzt zu den Open-Air Gigs stattfanden.

 

Als wir ankamen legte das Timo Lassy Trio los: Bass, Schlagzeug, Saxophon, energiegeladen, konzentriert und funky. Anschließend spielten Y-Otis, die mir zwar gefielen, aber auch ein bisschen überfrachtet vorkamen. Otis Sandsjö war dann in der Lagerhalle Gast bei der Zugabe des sehr guten Kit Downes Solo Sets und die beiden zauberten einen Höhepunkt des Festivals: Instrumente gegen den Strich gespielt, durch Mark und Bein fahrend; auch die zweite Zugabe mit der Sängerin Lucia Cadotsch war wunderschön. Der Rest des ersten Tages ging ein bisschen an mir vorbei, wir waren reisemüde und für den abendlichen Ostseewind zu sommerlich gekleidet, so dass wir gegen 20:00 die Fähre zurück nach Helsinki nahmen.

 

Um dann am nächsten Tag um 15:00 wieder auf der Insel zu sein, pünktlich zum Auftritt von Lucia Cadotsch (die auch etwas zu frösteln schien). Sie spielte gemeinsam mit dem Y-Otis Rückgrat Otis Sandsjö (Saxophon) und Petter Eldh (Bass) als Speak Low Interpretationen von bekannten Songs. Bei der Mehrheit der Stücke war wieder Kit Downes an der Orgel dabei, eine willkommene Zutat in der zerklüfteten Klangwelt. Danach ging es träumerisch und traumhaft mit Verneri Pohjola weiter, Trompete in sanft elektronischer Umgebung, gute Kombination. Anschließend brachten die omnipräsenten Kit Downes und Otis Sandsjö  gemeinsam mit dem finnischen Drummer Joonas Leppänen eine unerhörte Musik ohne Ufer, in die man tief versinken konnte, auf die Bühne. Zum Abschluss dann die von mir sehr geliebten 3TM (endlich weiß ich, dass es nicht „three“, sondern „kolme“ TM heißt). Die Freude, die die Musiker, vor allem Schlagzeuger Teppo Mäkynen, versprühten, war ansteckend, die rhythmische Musikalität beeindruckend; die drei strichen dann den meisten Applaus ein. 

 

Was bleibt? Na klar, Erinnerung. Lust, im nächsten Jahr wieder ein solches Festival zu besuchen (und vorher hoffentlich viele andere Konzerte zu erleben). Lust auch auf eine Veröffentlichung von dem Downes-Sandsjö-Leppänen Projekt. Und die Erkenntnis, dass Konzerte eher nichts für Hunde sind.

2021 13 Aug.

Sound & Vision

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1978. Ich sitze in einem dieser Schallplattenläden, die es heute nicht mehr gibt. Hinten, an der schummrigen Theke mit den Plattenspielern und Kopfhörern zum Anchecken neuer und unbekannter Scheiben. Auf den Stapel mit Post- Prog- Glam- Ska- Reggae- Philli- Disko- und Punk-Zeug legt mir der Verkäufer eine Scheibe mit fast schwarz abgetöntem Cover, hör mal rein, sagte er. Ich höre mir also Discreet Music an, von Brian Eno. Noch nie gehört, davor. Das, was dann kam, auch nicht: Ein Klangteppich, sanft und weich wie Kaschmir. Eine Tonfolge – Melodie zu sagen wäre übertrieben -, die sich repetitiv wiederholt, in einem scheinbar simplen, aber doch unvorhersagbaren Pattern, bei gemäßigtem Tempo. Ein Space entsteht, kontemplativ, draußen auf der Straße einer dieser allerersten Frühlingstage, Partikel tanzen in der Luft, alles scheinbar Zeitlupe. Faszinierend. Dann ging ich heim in mein kleines Appartment, mit dieser Platte. Dann hörte ich ich sie nochmal an. Dann hörte ich sie nochmal an. Dann hörte ich sie nochmal an. Dann ging ich in den MusicShop und kaufte mir einen Synthesizer. Damit veränderte sich mein Leben – wieder einmal, und nicht zum letzten Mal.

 

In meiner speckigen Telefonkladde aus dieser damaligen Zeit befindet sich unter der Rubrik „P“ die Telefonnummer von einem gewissen Conny, Plank, und sein Name taucht nicht nur als Toningenieur-Pionier auf Scheiben von Brian Eno auf. Mehr als das, beide Namen, Eno und Plank, sind gemeinsam in den Credits von Devo, Ultravox, David Byrne, Freur zu finden. Schaut man noch näher, kann man in dieser Sammlung auch Cluster, Harmonia und Neu! finden, Namen, die damals eigentlich nur außerhalb Deutschlands so richtig eingeschätzt wurden und in Deutschland abschätzig als Krautrock abgestempelt wurden. Sich kennenzulernen und gemeinsam eine Karriere zu beginnen, war sicher ein großes Privileg sowohl für Herrn Eno als auch für Herrn Plank. Wie auch immer: Das Wegsptengen von aufnahmetechnischen Konventionen, der hemmungslose Gebrauch von Effektgeräten, Einbau von Rückwärts-Schleifen, Aufnahmen in halber oder doppelter Bandgeschwindigkeit, gepaart mit dem Wegsprengen kompositorischer Konventionen und Harmonielehren, die atypische Verwendung von Instrumenten, das war für mich das Wesen einer Zeit, zu der sich das Universum noch ausdehnte. 

 

Und ohne es zu wissen, war ich mit meiner Art Musik zu machen ein Teil von genau diesem. Der Pοlyhistor Egon Friedell hat ungebildet Begeisterte wie mich „berufene Dilettanten“ genannt und konstatiert, dass eben durch den Verzicht auf Konventionen und tradierte Fertigkeiten das Neue entsteht. Für diese Interpretation bin ich sehr dankbar :-) 

 

Die Telefonnummer von Conny Plank habe ich übrigens leider nie gewählt.

 

Helmut Müller

Produzent von hel.de, Rhythmische Beobachter, Kontakt Pure.

2021 10 Aug.

Abendstunden

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2021 9 Aug.

Michael Stipe wants to make mistakes

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In the early days—and I’m talking about up to “Document,” the first seven years of the band—I saw mystery as a crucial element of seduction. Of creating a desirous image—I don’t even know if that’s a word. Mystery was an important part of it. “Willful obscurity” is the term that was used against me, or the band. But there was a useful obscurity that disappeared around “Document.” And I think, actually, politics is what pulled us away from that. Also, I honed my chops as a lyricist. I wasn’t just reading words that sounded good and that felt emotional and important, which is what “Murmur” is. Don’t try to make sense of it—it’s as obscure as anything by Sigur Rós or Cocteau Twins. But I did have, or I discovered, a knack for words, and then I worked and worked to make it as good as it could be.

[…] “Fables” became like putting together a storybook of characters, pulling from real life but creating these fictive—is that a word?—narratives. It goes from real life to fantastic. I went through a very dark period during “Fables.” A year and a half—really hard. And I came out of that dark period with incredible clarity. Which found its way into “I Believe,” and into “These Days,” really important songs to me. I think they’re beautiful songs. I don’t think they’re the best thing I ever did, but, for me, those songs defined a new way of planting my feet on the ground, folding my arms across my chest, and saying, I am here, I’m not fucking going anywhere, and I’m going to do the best I can. And then I had purpose. I think that was realized and cauterized in “Document.” And it was seven fucking years of Reagan-Bush, at that point, and aids, and a country even more divided and separated—we had no idea how it would become, but, at that time, it was as dire and infuriating as it had ever gotten. But that helped to galvanize an attitude that pushed things out of the idea of mystery, out of the idea of willful obscurity, into the idea of, I want clarity, I want people to know what I’m saying.

And, also, I realized somewhere along the way that, with my voice, I could sing almost anything, and I could make people cry. My singing voice is very powerful. Just the sound of it. And I don’t want to put shit out there that doesn’t have some underlying meaning. If someone’s searching for meaning, they’re gonna find it. And it’s there. And that’s willful—the desire to communicate.

[…] For me, an R.E.M. song was a little like a door opening into culture. A world of references.

Someone who doesn’t listen, and doesn’t care, should be able to sing along to it, if it’s got good riffs—not riffs. . . . What are they called? Hooks. In the car, or when you’re washing the dishes.

 

(from The New Yorker, August 8)

 

„Es gibt eine Menge Musik, die M.E. gefällt, mir aber nicht. Es sind vor allem ereignisarme ambientige Klangflächen, gegen die mein von analytischem Hören geprägtes Immunsystem Antikörper entwickelt hat. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben heißt es, und ich weiß aus Erfahrung, dass man ein Album nicht vor dem Verklingen des letzten Tons in die Tonne werfen darf.“ (HDK)

 


DER SPARGEL IN VOLKACH IM SOMMER

Es war die zweite Hälfte der Siebziger Jahre. Im Würzburger Studentenleben standen Ausflüge in die Gegend der Festung Marienberg hoch im Kurs. Der weite Blick, der Obstwein, die Frauen. Nicht in dieser Reihenfolge. Im Sommer fuhren wir in ein berühmtes Spargellokal, „Zur Sonne“. Wir badeten im Main, an entlegenen Stellen. Es gab noch amerikanische Soldaten, und die T-Bone-Steaks waren noch nicht von den Speisekarten der Nation verschwunden. Es war die Zeit, als reihenweise künftige Klassiker der Musikgeschichte erschienen, zum Beispiel bei ECM, wo der Produzent Manfred Eicher Wegweisendes schuf für die improvisierte Musik. Zum Beispiel in den Studios, in denen sich Brian Eno damals rumtrieb.

 

GENIALER ZUFALL

„Discreet Music“ zählte zu meinen ersten Schallplatten von Brian Eno. Dieses unendlich ruhige Stück, diese allereinfachsten Tonfiguren, diese Wiederkehr des Ewiggleichen, das immer anders klang! Ein Klassiker der Ambient Music, fast zufällig enstanden: es sollte nur  als Klangteppich taugen für Duo-Improvisationen von Fripp und  Eno.  Noch dazu lief es (ich glaube, auch das war ein Versehen, zumindest Spielerei!) in halber Geschwindigkeit. In einer Verkettung heller Momente und glücklicher Umstände erkannte Eno, dass diese Musik sich selbst genügte.

 

PARALLELWELT SCHIMMERNDEN LICHTS

Einmal kam damals eine Fotografin auf mich zu und bat mich, Gedichte zu ihren Bildern zu schreiben, für eine Ausstellung. Im „Cafe Peter“ in Würzburg fand das dann statt, im Kellergeschoss. Helle Wände, die weiträumigen Landschaftsmotive der Fotografin – und  „Discreet Music“ im Hintergrund. Permanent. Ganz leise, wie sonst. Dieses Gegenstück zu Lou Reeds „Metal Machine Music“. Die Besitzerin kam nach Tagen zu mir und sagte, die Musik erzeuge einen kleinen Schwindel in ihrem Kopf, sie verspüre einen seltsamen Sog. Und, ehrlich gesagt, auf Dauer würde sie dabei den Verstand verlieren. Wir reduzierten die Einsatzzeiten. Alles Forcierte ist den Tönen abhanden gekommen, die aus einer Parallelwelt des schimmernden Lichts zu stammen scheinen:  da kam etwas um die erstbeste Ecke gebogen und verschwand irgendwann hinter der nächsten. Kam allerdings noch mal wieder. Und noch einmal. Und verschwand dann. Und kam wieder. Und verschwand. Wie die Fotografin, mir der ich so gern geschlafen hätte, aber stattdessen (jedem seine Emma Peel, once in a lifetime, und, Jungs, Kommaregeln beachten😂), brachte sie mir zehn Kniffe bei, in Notlagen einen Aggressor kurzfristig auszuschalten. 

 

OBSKURE PLATTEN

Und dann dieses Cover: erst sieht man einfach nur etwas Schwarzes, dann erkennt man eine Großstadtarchitektur, von einem Schwarzfilter nah ans Unsichtbare gedrängt. Und so, wie man sich langsam auf die Klänge einschwingt, so gewöhnen sich die Augen auch erst allmählich an das Cover, an die Dinge, die sichtbar werden. Ein kleines Viereck macht sich frei von diesem Filter, und man erkennt dort ein Spur von warm strömendem Tageslicht. Das war der Designer-Trick aller zehn experimentellen Alben, die Brian Eno damals als executive producer bei Obscure Records veröffentlichte. Die Avantgarde stellte sich der Popkultur vor.

 

MELANCHOLIE-HAMMER

Wir wussten es damals nicht, aber bei „Discreet Music“ konnte das Unbewusste üben, wie es ist, wenn Menschen kommen und gehen, kleine Lieben, große Lieben, flüchtige Freunde, gute Bekannte, vertraute Gesichter, kurz aufflackernde Moden, Frauen, die damals Hanne hiessen oder Verena oder Julia. „Discreet Music“ war der sanftese „Melancholie-Hammer“ meiner Studentenzeit. Alles ist flüchtig. Eine Musik, die, wäre sie nicht so schwebend leicht dahergekommen, auch  purer Abgrund sein  könnte. musique noir. Schwarz wie das Cover. Aber das haben wir ja geklärt. „There´s a crack in everything, that´s where the light gets in”.

 

EINE SHORT STORY VOLLER AKUSTISCHER TÄUSCHUNGEN

Wenn wir hier nun im Jahre 2021 sind, und Brian Eno wieder an Songs arbeitet, und sein Interesse daran nicht verliert, könnte ich mir vorstellen, ein Cover eines Leonard Cohen-Songs könnte dort neben all den Originalen einen Platz finden, wie der Song von Lou Reed auf „The Ship“. Aber ich schweife ab. Auf sehr ungewöhnliche Weise kam „Discreet Music“ einmal zum Einsatz, als ich im Bayerischen Wald in einer Fachklinik für Alkohol- und Mediamentenabhängige arbeitete. Und in einer Ortschaft namens Bergeinöden wohnte. Ich werde sie bald mal in aller Ruhe erzählen, tatsächlich eine es eine Geschichte voller akustischer Täuschungen.

 

NACHKLANG 1+2

„Der Inhalt einer Sanduhr in ein Tuch geschüttet. Du kannst die Zeit tragen, wohin du magst. Ihr gebrochenes Herz, wenn die gesammelten Stunden in der Tasche vergessen werden. Die Überlebenden sind sorglos. Manchmal spüren sie ein Staubkorn, das im Auge reibt. Zaghafte Vergänglichkeit.“ (Karl Krolow) 

People  come and go / And  forget to close the door / And leave their stains and cigarette butts / Trampled on the floor / And when they do, remember me, remember me“ (Brian Eno)

 

 

Einst wartete ich, als Musik Seelennahrung wurde, und wir reden hier mal von Songalben, von der Kindheit, der Jugend, und all den späteren Jahren, auf Singles und Alben von den Beatles und Kinks, auf Lps von Neil Young und Joni Mitchell. Die ganzen Siebziger Jahre wartete ich auf neue Alben von Joni, später nicht mehr so. Ich wartete auf neue Alben von Leonard Cohen, von Brian Eno und Robert Wyatt. Ich wartete seit Spirit of Eden auf neue Alben von Talk Talk und Mark Hollis, und immer noch auf neue Songs von Neil, Brian, Robert und Leonard. Ich rede hier nur von den absoluten Favoriten, bei denen das Warten noch gerade Sinn machte, und manchmal schon an Godot erinnerte. Ich wartete seit Before Hollywood und More Songs about Buildings and Food auf neue Alben der Go-Betweens und Talking Heads. Ich wartete immer noch auf neue Alben von Leonard. Manchmal wartete ich auch auf neue Alben von Radiohead, aber so innig wie bei anderen war meine Beziehung zu ihnen nicht. Heute warte ich, was nun die alten und nicht ganz so alten Wegbegleiter angeht, nur noch auf neue Alben der Mountain Goats, von Wilco, und das wohl letzte Songalbum von Brian Eno. Als ich im Oktober 2018 auf Sylt die Biografie von Robert Wyatt las, nahm ich nachts auf eine Wanderung seine Platte „Dondestan“ mit, und hörte sie am Morsumer Kliff im Stockdunkeln, mutterseelenallein und seltsam euphorisiert. Ich hatte einen alten Sony Walkman dabei. So viele Faszinationen darüber hinaus, in Songwelten, aber das hier sind die innigsten und dauerhaftesten Liebesbeziehungen. Insofern ist dieses scheinbar so lässig dahingepinselte „name dropping“ ein sehr persönlicher Text. Übrigens: meine intensivste Zeit mit King Crimson waren die letzten Jahre, als Trinnov, Manger, Mr. Wilson, Oppo & Abacus mich in den Surround-Himmel transportierten. 

 

2021 7 Aug.

Vor dem Konzert im Theater des Herodes

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copyright: helmut mueller (hel.de)

2021 7 Aug.

„Nico is stranger than Alice“

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Wer erinnert sich bei dem Titel nicht an jene Schallplatte aus den Siebziger Jahren, „Ruth is stranger than Richard“, die zwar nicht der dünnen Höhenluft des Vorgängers „Rock Bottom“ standhalten konnte, aber ein wunderbar bunter Gemüsegarten des Jazzfans, Sozialisten und Surrealisten Robert Wyatt war?!

Nun, ich weiss gar nicht, wie seltsam Ruth war, aber der Richard, den ich kenne, ist ein verdammt kluger Kopf und freundlicher Mensch, dessen musikalischer Berichterstattung ich im Melody Maker in den späten 60ern und 70er Jahren gerne folgte – ein Wahlverwandter. Und Richard Williams schreibt immer noch, unermüdlich, über Jazz, Rennfahrer, „The Blue Moment“,  und alte Schätze. Als er vor Jahr und Tag über das faszinierende, natürlich auch wieder einen Jahrestag feiernde, Debut von Roberta Flack schrieb, war unsere Wahrnehmung seltsam deckungsgleich: ausgerechnet ihre Darbietung eines bekannten  Leonard Cohen-Song blieb ziemlich farblos.

Ein weiterer alter Schatz  wurde unlängst gehoben: das Teil existierte nur als Kassette aus dem Jahre 1982, Ravi Coltrane hat es nun abgespeckt, und die in Sanskrit gesungenen Meditationen seiner Mutter Alice beim Label Impulse! veröffentlicht. Nur ihre Stimme und eine alte Wurlitzer Orgel. Was mich schmunzeln liess an Richards Besprechung, war, dass er an einer Stelle sinngemäss meinte, das eine oder andere Stück von „Kirtan – Turiya Sings“ wäre, bei unvorgenommenem Hören, sehr dicht an dem einen oder anderen Stück von  Nicos „Desertshore“. In der Tat!

Wer nur flüchtig mit den Lebensläufen von Alice Coltrane und Nico vertraut ist, weiss, dass sich Welten und Welten und Welten zwischen beiden befinden, wenn man gefühlte fünfzig Parameter vergleicht wie Religiosität, Lebensstil, Kleidung, Ernährung, Drogenkarriere, Familienleben etc. – aber, hier auf einmal, im „deep listening-Modus“, kann man eine irritierende Nähe spüren. Die Erklärung ist leicht und naheliegender als manche annehmen würden: mittels ihrer jeweiligen Versenkung in den Klang kommen beide in Kontakt  mit einer zutiefst humanen Sphäre des Da-Seins.

Dazu müssen wir weder Heidegger aus dem Schrank holen, noch Parallelen zwischen Hinduismus und Existenzialismus heranziehen. Wie immer man diese „tiefe Sphäre“ begreift, bleibt jedem einzelnen vorbehalten, die eine mutmasst eine spirituelle Ebene, eine archetypische Dimension, der andere  das elementare Ausschöpfen veränderter Bewusstseinszustände  – wir müssen den Räumen, die sich in tiefer Meditation auftun, keine Namen und keine Ideologien zuordnen. Richard  Williams könnte diesen Vergleich weiterführen und seinem Buch „The Blue Moment“ ein weiteres Kapitel hinzufügen. Das wäre aber auch kein Ersatz für die spezielle Erfahrung, die beiden Alben einmal nacheinander (oder via „Zufallstaste“ munter zusammengewürfelt)  zu hören, in aller Ruhe. In other words: even Richard Dawkins, writer of „The God Delusion“ (eine Art „Referenzwerk“ für viele Atheisten und nicht-religiöse Humanisten) could passionately listen to Alice Coltrane‘s solo meditations.

 

(reloaded: siehe catch, ahem, comment 22 …)
 

Das Schreiben eines Blogbeitrags beginnt mit dem Erfinden einer Titelzeile. Ich hätte den Artikel sicher schon vor 4 oder 5 Wochen geschrieben, wäre mir eine bessere eingefallen. Ob Steven Wilson freundlich oder vornehm ist, weiß ich nicht. Für einen Giganten halte ich ihn schon.

Ich kenne zwar kaum seine Musik, aber ich habe vor Jahren bei einem Manafonistischen Preisausschreiben per Losglück ein Album gewonnen, nämlich King Crimson Three of a Perfect Pair. Das Titelstück gehört zu den 10 Number-One-Pieces des Prog-Rock. Ich bekam nicht das Original-Album, sondern den Remix von Steven Wilson mit exzellenten Stereo & Multichannel Abmischungen.

 
 

 
 

Eigentlich hätte mir Steven Wilson schon viel früher bekannt sein können, denn ich hatte einige Gentle-Giant-Vinyls nachgekauft, und zwar digitalisierte Versionen mit 4.0 bzw. 5.1 Abmischungen. Weil auf diesen Datenträgern das Kleingedruckte noch kleiner ist, fiel mir der Name Steven Wilson in den Druckbeilagen nicht auf. Im Frühjahr diesen Jahres wurde die Steven-Wilson-Edition des Albums Free Hand von Gentle Giant annonciert. Ich habe sofort bestellt und das Kunstwerk pünktlich am Tag des Erscheinens erhalten.

Nach Gentle Giant hat mich keine Band aus dem Bereich Pop-Rock-oder-wer-weiß-wie-das-heißt mehr interessiert. 1971 habe ich sie kennengelernt und das gleich live. Ich wusste damals gar nicht, dass eine Band diesen Namens überhaupt existiert. Am 6. April 1971 war Colosseum in der Meistersingerhalle zu Nürnberg zu Gast. Die Bühne betraten aber zunächst 4 Musiker mit Streichinstrumenten. In meiner Erinnerung wurde daraus ein Streichquartett. Das kann jedoch nicht stimmen, denn nur Ray Shulman und Kerry Minnear spielen Violine bzw. Violoncello. Die Überraschung war groß bei diesem Anblick, noch vor den ersten Tönen. Was machen die Nichtstreicher? Sie traktieren das Violoncello wie ein Perkussionsinstrument, während Kerry Minnear fiedelt. Artrockig wurde es auch noch. Als sie Platz machten für Colosseum war ich überwältigt. Mein Urteil beim Verlassen des Saals: die Vorband war das absolute Highlight dieses Abends. Ob eine Mehrheit dieser Ansicht war, ist ungewiss. Schließlich kam das Publikum Colosseums wegen. Gentle Giant versuchte gewiss als Warmup renommierter Bands in der Rockszene Fuß zu fassen. Ray Shulman erzählt:

 

 

 

 

Dass ich derart hingerissen war und es immer noch bin, liegt an meiner selbstgewählten musikalischen Sozialisation. Ich komme von der Klassik her, Kerry Minnear ebenfalls. Er ist aber keiner jener unsäglichen Klassikrocker, die es um die 70er Jahre zu Hauf gab und denen es prächtig gelang, Bach und Beethoven und Tschaikowsky und … zu versauen. Minnear beherrschte polyphone Satztechniken, mochte offensichtlich Musik der Renaissance und bediente sich nie bei den alten Meistern.

Wenn einer Band das Attribut Art Rock verliehen werden darf, dann Gentle Giant. Eines der brillantesten Stücke dieses Genres ist On Reflection. Es weist eine übersichtliche A1-B-A2 Form auf. Der A-Teil ist ein virtuoses, vertracktes Fugato. B erinnert an englische Vokalmusik der Zeit um John Dowland.

 

A1 vokal und vokal/instrumental colla parte
B
A2 instrumental, einen Halbton höher als A1

 

On Reflection Steven-Wilson-Remix 2021 – YouTube Video

 

In einem wunderbaren, berührenden Interview spricht John Weathers – Drummer von GG seit 1972 – über dieses bedeutende Album, über die Musiker, die alle virtuose Multiinstrumentalisten sind. John ist ein Perkussionist, der tief im Rock verwurzelt ist und der intellektuellen Dimension dieser Musik herrlich erdigen Groove schenkt.

 

 

Zjkl

Just the Same

Steven-Wilson-Remix 2021 – YouTube Video

Free Hand ist das erste Album, welches in meiner Jahresliste 2021 erscheint. In comment#1 stehen weitere Links, u.a. zu den vollständigen Interviews mit Ray Shulman und John Weathers, zu einem Liveauftritt der Band 1974.

 

 

Riff – public domain


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