Manafonistas

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2021 7 Aug

„Nico is stranger than Alice“

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off

 

Wer erinnert sich bei dem Titel nicht an jene Schallplatte aus den Siebziger Jahren, „Ruth is stranger than Richard“, die zwar nicht der dünnen Höhenluft des Vorgängers „Rock Bottom“ standhalten konnte, aber ein wunderbar bunter Gemüsegarten des Jazzfans, Sozialisten und Surrealisten Robert Wyatt war?!

Nun, ich weiss gar nicht, wie seltsam Ruth war, aber der Richard, den ich kenne, ist ein verdammt kluger Kopf und freundlicher Mensch, dessen musikalischer Berichterstattung ich im Melody Maker in den späten 60ern und 70er Jahren gerne folgte – ein Wahlverwandter. Und Richard Williams schreibt immer noch, unermüdlich, über Jazz, Rennfahrer, „The Blue Moment“,  und alte Schätze. Als er vor Jahr und Tag über das faszinierende, natürlich auch wieder einen Jahrestag feiernde, Debut von Roberta Flack schrieb, war unsere Wahrnehmung seltsam deckungsgleich: ausgerechnet ihre Darbietung eines bekannten  Leonard Cohen-Song blieb ziemlich farblos.

Ein weiterer alter Schatz  wurde unlängst gehoben: das Teil existierte nur als Kassette aus dem Jahre 1982, Ravi Coltrane hat es nun abgespeckt, und die in Sanskrit gesungenen Meditationen seiner Mutter Alice beim Label Impulse! veröffentlicht. Nur ihre Stimme und eine alte Wurlitzer Orgel. Was mich schmunzeln liess an Richards Besprechung, war, dass er an einer Stelle sinngemäss meinte, das eine oder andere Stück von „Kirtan – Turiya Sings“ wäre, bei unvorgenommenem Hören, sehr dicht an dem einen oder anderen Stück von  Nicos „Desertshore“. In der Tat!

Wer nur flüchtig mit den Lebensläufen von Alice Coltrane und Nico vertraut ist, weiss, dass sich Welten und Welten und Welten zwischen beiden befinden, wenn man gefühlte fünfzig Parameter vergleicht wie Religiosität, Lebensstil, Kleidung, Ernährung, Drogenkarriere, Familienleben etc. – aber, hier auf einmal, im „deep listening-Modus“, kann man eine irritierende Nähe spüren. Die Erklärung ist leicht und naheliegender als manche annehmen würden: mittels ihrer jeweiligen Versenkung in den Klang kommen beide in Kontakt  mit einer zutiefst humanen Sphäre des Da-Seins.

Dazu müssen wir weder Heidegger aus dem Schrank holen, noch Parallelen zwischen Hinduismus und Existenzialismus heranziehen. Wie immer man diese „tiefe Sphäre“ begreift, bleibt jedem einzelnen vorbehalten, die eine mutmasst eine spirituelle Ebene, eine archetypische Dimension, der andere  das elementare Ausschöpfen veränderter Bewusstseinszustände  – wir müssen den Räumen, die sich in tiefer Meditation auftun, keine Namen und keine Ideologien zuordnen. Richard  Williams könnte diesen Vergleich weiterführen und seinem Buch „The Blue Moment“ ein weiteres Kapitel hinzufügen. Das wäre aber auch kein Ersatz für die spezielle Erfahrung, die beiden Alben einmal nacheinander (oder via „Zufallstaste“ munter zusammengewürfelt)  zu hören, in aller Ruhe. In other words: even Richard Dawkins, writer of „The God Delusion“ (eine Art „Referenzwerk“ für viele Atheisten und nicht-religiöse Humanisten) could passionately listen to Alice Coltrane‘s solo meditations.

 

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