„Es gibt eine Menge Musik, die M.E. gefällt, mir aber nicht. Es sind vor allem ereignisarme ambientige Klangflächen, gegen die mein von analytischem Hören geprägtes Immunsystem Antikörper entwickelt hat. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben heißt es, und ich weiß aus Erfahrung, dass man ein Album nicht vor dem Verklingen des letzten Tons in die Tonne werfen darf.“ (HDK)
DER SPARGEL IN VOLKACH IM SOMMER
Es war die zweite Hälfte der Siebziger Jahre. Im Würzburger Studentenleben standen Ausflüge in die Gegend der Festung Marienberg hoch im Kurs. Der weite Blick, der Obstwein, die Frauen. Nicht in dieser Reihenfolge. Im Sommer fuhren wir in ein berühmtes Spargellokal, „Zur Sonne“. Wir badeten im Main, an entlegenen Stellen. Es gab noch amerikanische Soldaten, und die T-Bone-Steaks waren noch nicht von den Speisekarten der Nation verschwunden. Es war die Zeit, als reihenweise künftige Klassiker der Musikgeschichte erschienen, zum Beispiel bei ECM, wo der Produzent Manfred Eicher Wegweisendes schuf für die improvisierte Musik. Zum Beispiel in den Studios, in denen sich Brian Eno damals rumtrieb.
GENIALER ZUFALL
„Discreet Music“ zählte zu meinen ersten Schallplatten von Brian Eno. Dieses unendlich ruhige Stück, diese allereinfachsten Tonfiguren, diese Wiederkehr des Ewiggleichen, das immer anders klang! Ein Klassiker der Ambient Music, fast zufällig enstanden: es sollte nur als Klangteppich taugen für Duo-Improvisationen von Fripp und Eno. Noch dazu lief es (ich glaube, auch das war ein Versehen, zumindest Spielerei!) in halber Geschwindigkeit. In einer Verkettung heller Momente und glücklicher Umstände erkannte Eno, dass diese Musik sich selbst genügte.
PARALLELWELT SCHIMMERNDEN LICHTS
Einmal kam damals eine Fotografin auf mich zu und bat mich, Gedichte zu ihren Bildern zu schreiben, für eine Ausstellung. Im „Cafe Peter“ in Würzburg fand das dann statt, im Kellergeschoss. Helle Wände, die weiträumigen Landschaftsmotive der Fotografin – und „Discreet Music“ im Hintergrund. Permanent. Ganz leise, wie sonst. Dieses Gegenstück zu Lou Reeds „Metal Machine Music“. Die Besitzerin kam nach Tagen zu mir und sagte, die Musik erzeuge einen kleinen Schwindel in ihrem Kopf, sie verspüre einen seltsamen Sog. Und, ehrlich gesagt, auf Dauer würde sie dabei den Verstand verlieren. Wir reduzierten die Einsatzzeiten. Alles Forcierte ist den Tönen abhanden gekommen, die aus einer Parallelwelt des schimmernden Lichts zu stammen scheinen: da kam etwas um die erstbeste Ecke gebogen und verschwand irgendwann hinter der nächsten. Kam allerdings noch mal wieder. Und noch einmal. Und verschwand dann. Und kam wieder. Und verschwand. Wie die Fotografin, mir der ich so gern geschlafen hätte, aber stattdessen (jedem seine Emma Peel, once in a lifetime, und, Jungs, Kommaregeln beachten😂), brachte sie mir zehn Kniffe bei, in Notlagen einen Aggressor kurzfristig auszuschalten.
OBSKURE PLATTEN
Und dann dieses Cover: erst sieht man einfach nur etwas Schwarzes, dann erkennt man eine Großstadtarchitektur, von einem Schwarzfilter nah ans Unsichtbare gedrängt. Und so, wie man sich langsam auf die Klänge einschwingt, so gewöhnen sich die Augen auch erst allmählich an das Cover, an die Dinge, die sichtbar werden. Ein kleines Viereck macht sich frei von diesem Filter, und man erkennt dort ein Spur von warm strömendem Tageslicht. Das war der Designer-Trick aller zehn experimentellen Alben, die Brian Eno damals als executive producer bei Obscure Records veröffentlichte. Die Avantgarde stellte sich der Popkultur vor.
MELANCHOLIE-HAMMER
Wir wussten es damals nicht, aber bei „Discreet Music“ konnte das Unbewusste üben, wie es ist, wenn Menschen kommen und gehen, kleine Lieben, große Lieben, flüchtige Freunde, gute Bekannte, vertraute Gesichter, kurz aufflackernde Moden, Frauen, die damals Hanne hiessen oder Verena oder Julia. „Discreet Music“ war der sanftese „Melancholie-Hammer“ meiner Studentenzeit. Alles ist flüchtig. Eine Musik, die, wäre sie nicht so schwebend leicht dahergekommen, auch purer Abgrund sein könnte. musique noir. Schwarz wie das Cover. Aber das haben wir ja geklärt. „There´s a crack in everything, that´s where the light gets in”.
EINE SHORT STORY VOLLER AKUSTISCHER TÄUSCHUNGEN
Wenn wir hier nun im Jahre 2021 sind, und Brian Eno wieder an Songs arbeitet, und sein Interesse daran nicht verliert, könnte ich mir vorstellen, ein Cover eines Leonard Cohen-Songs könnte dort neben all den Originalen einen Platz finden, wie der Song von Lou Reed auf „The Ship“. Aber ich schweife ab. Auf sehr ungewöhnliche Weise kam „Discreet Music“ einmal zum Einsatz, als ich im Bayerischen Wald in einer Fachklinik für Alkohol- und Mediamentenabhängige arbeitete. Und in einer Ortschaft namens Bergeinöden wohnte. Ich werde sie bald mal in aller Ruhe erzählen, tatsächlich eine es eine Geschichte voller akustischer Täuschungen.
NACHKLANG 1+2
„Der Inhalt einer Sanduhr in ein Tuch geschüttet. Du kannst die Zeit tragen, wohin du magst. Ihr gebrochenes Herz, wenn die gesammelten Stunden in der Tasche vergessen werden. Die Überlebenden sind sorglos. Manchmal spüren sie ein Staubkorn, das im Auge reibt. Zaghafte Vergänglichkeit.“ (Karl Krolow)
People come and go / And forget to close the door / And leave their stains and cigarette butts / Trampled on the floor / And when they do, remember me, remember me“ (Brian Eno)