„Exposure“ ist langlebig. Ich vergleiche das Hören von 1979, 1980, 1981, in Würzburg, dann in einem Dorf im Nirgendwo, mit der „remasterten“ Begegnung, nach so langer Zeit. Ich bin sofort „drin“. Der flow-Faktor 10. Es gelingt ein Zusammenfall klanglicher Polaritäten. „…One of those records that set the world on fire“, diese Übertreibung ist nicht nötig. Aber was sonst der „Wire“ schreibt, im Rückblick, macht Sinn: das im April 1979 erschienene erste Soloalbum von Robert Fripp, sei klipp und klar „the Sgt. Pepper of Avant Punk“. Wie bei „Pepper“, ausser Intro und Outro, gleicht kein Stück dem andern. Kurz vor Erscheinen war Fripp unsicher, ob „Exposure“ überhaupt „relevant“ sei – dieses kunterbunte, kuntergraue Gemisch – gerade hier kommt das Besondere zum Vorschein, in harten Schnitten, „audio verité“, Apokalypse, Alltag, Hymne, Rohheit.
Die Szene betritt: Peter Hammill, in wallendem Flanellmantel, links das Rauchwerk in der Tasche, rechts sein Brandy zum Auflockern: flüchtig studiert er Song und Text, und legt eine derartige entfesselte Gesangsimprovisation vor, dass Fripp ihn „co-composer“ nennt. Und dann zweiter Auftritt: Peter mit Terry Roche, Auge in Auge, hinter Glas.
Die Szene betritt: Daryl Hall. Und gleich sein Abgang hinterher. Seit Fripp dessen „Sacred Hymns“ produzierte (wurde erst mal auf Eis gelegt), wittern die Labelbosse von Hall & Oates kommerziellem Selbstmord. In der einen Version fast sowas wie Leadsänger mit fünf Auftritten, werden seine „guest vocals“ auf zwei limitiert. Erst viel später werden die Rechte freigegeben, für die Albumversion mit „viel“ Daryl Hall (so ein falsches Theater um die Vocals – kein Wunder, das Fripp sich zunehmend unabhängiger machte vom „big business“ und, nach diversen Gerichtsveranstaltungen, und immensen Prozesskosten, „Discipline Global Mobile“ ins Leben rief).
Die Szene betritt: Brian Eno. „Indiskretionen“ zur Musik, kleine schräge Einwürfe, Humor haben die Zwei. Mit all den found voices ensteht allmählich ein fulminantes „Theater der Stimmen“, zum Ende Peter Gabriels „Here Comes The Flood“, eine end-of-times-Vision, eine langsame Auflösung ins Nichts, die einzige Aufnahme des Trios Fripp-Gabriel-Eno. Der „Flickenteppich“ von „Exposure“ enthüllt seine Textur, das Richtungslose seine perfekte Gestalt.
Und, in aller Ruhe, noch einmal, ganz langsam, im Zeitalter des Loops: Der „Flickenteppich“ von „Exposure“ enthüllt, mit der Zeit, seine ausgefeilte Textur, das Richtungslose eine nahezu perfekte Gestalt. Und langsam sollte es klar werden: Fripps Musik der New Yorker Jahre ist ein Bruch mit den Mythen und Göttern, die am Hof es Kamesinroten Königs rumschwirrten, aber sie ist kein Bruch mit der eigenen Klangsprache. Das Wurzelwerk erweitert sich einfach. Lateraler Drift.
Nach dem Erscheinen von „Exposure“, diesem fragmentierten Song-, Stimmen- und Stimmungsalbum, wäre es normalerweise an der Zeit gewesen, damit auf Reisen zu gehen. Stattdessen setzt Fripp seine intimen Solodarbietungen mit den Frippertronics fort, die Reisekosten sind gering, die Gerätschaften anfällig (die Revox-Maschinen haben ihre Tücken, einmal gerät eine in Brand), und manche Kunden und Zuhörer wundern sich, warum es diesen einstigen Hero einer Superband in Pizzerien, Büchereien, Kaffeehäuser, Schallplattenläden und Kirchenhöfe treibt.
Er liebt den direkten Kontakt mit den Menschen (wenn sie nicht gerade Harcore-Fans der guten alten Zeit sind, und Poseidon, Druiden und den Maskenspielen des Königs nachstellen), was man bei seinen oft hyperintellektuell wirkenden Diskursen nicht unbedingt vermutet. Es ist auch ein Spiel mit der Enttäuschung von Erwartungen: kann man sich auf dieses vermeintlich karge Szenario seiner Improvisationen einlassen, das so wenig mit Rock oder Roll zu tun hat, und so viel mit weiten Räumen?!
Bald erscheint ein Album, mit einem seltsamen Doppeltitel (nicht eingängig), einer Seite „Frippertronics“ (nicht eingängig) und einer Seite „Discotronics“ (auch nicht eingängig). Widerständige „soundscapes“ (ein einst modernes Wort dafür), von Fripp absichtsvoll in keiner Weise geschliffen. Die Lust an den Eingebungen des Augenblicks, das Skizzenhafte von „Exposure“ – es setzt sich fort in der provokativen Unmittelbarkeit von Meditation und Tanz.
Die drei Frippertronics-Stücke des Albums „God Save The Queen / Under yheavy Manners“ sind alles andere als Repetitionen des Immergleichen, die beiden Groovenummern entkommen der „Disco“ und landen (mit unendlichem Abstand, im Jahre 2022 darf man diese Behauptung anstellen) in jener Art des Zeitlosen, in der das Hören nicht historisierend ist, nicht akademisch, nicht erinnerungstaumelnd – und weitaus mehr Meditationsort, Untergrundhöhle, Niemandszone.
Und so machtvoll wie die drei Solostücke diverse Schalter unseres Wahrnehumgsapparates umlegen (können), so sehr bringen die dezent überdrehten Vokalismen von David Byrne und die Bass-Schlagwerk-Stimulationen der „Discotronics“ eine andere Art von Tanzmusik ins Spiel, eine, die auch im Sitzen funktioniert. Zudem präsentiert der Abräumer „Zero Of The Dignified“ eine der verwegendsten, zum Finale hin (nach diversen inneren wows und ahhs) noch sprachloser machenden, Gitarrensoli seiner Laufbahn. Aus der Abteilung Asche, Glut, und Feuer. In Surround pures Surrender, in Stereo audiophil.
Im Mai 1980 lebte ich eine Zeitlang in den Gedichten von Jürgen Becker, und hätte der Meisterlyriker nur Edwin und mich am 22. Mai nach Weißenohe begleitet, in die Fränkische Schweiz, hätte gewiss ein einziges Gedicht gereicht, diesen Ort im Jahrbuch der Lyrik unsterblich zu machen.
Jürgen Becker erzählte mir die Dinge aus dem Alltag der BRD, unverbraucht von Bildungsdeutsch. Wie eine Vaterfigur, der einen Kosmos-Baukasten der Lyrik öffnet. So erfuhr ich auch, wie der alte Krieg sich immer noch einnistete an den Randzonen des Bewusstseins, in altem Geld und Finsterkatholizismus. Manchmal war das eine Art Geschichtsunterricht, der den Blick klärte und leerräumte, in reine Gegenwart vewandelte. Wie der Sound der Rillen beim Auflegen einer ECM-Platte, in den frühen Zeiten, vor dem ersten Ton. Kein Jahr, ohne Ralph Towners „Diary“ aufzulegen!
In den Wochen vor dem Fripp-Konzert in Weißenohe blockierten (soweit ich mich erinnere) zwei Platten abwechselnd meinen Dreher: Linton Kwesi Johnsons „Bass Culture“, und Robert Fripps „Fripper“- und „Discotronics“ von „God Save The Queen / Under Heavy Manners“. Ich hatte unlängst beim Magus der Verhaltenstherapie das Thema für meine Diplomarbeit durchgesetzt, „Funktionen der Sprache, dargestellt an Konzepten der Kognitiven Verhaltenstherapie“, mein Psychologiestudium neigte sich dem Ende entgegen.
Meine Verlobung war Geschichte, die schönste Frau Gelsenkirchens trieb sich zu meinem Leidwesen an einem Golfplatz in Nova Scotia herum (Teil meiner Trauerarbeit war das Hören von „Darkness at The Edge of Town“), und das erste Mädel, das ich nach der Trennung aus der Halbdistanz ihres Arbeitsplatzes in einer Apotheke (zumindest ein wenig) anhimmelte, wurde von einem Auto überfahren. Obwohl Edwin und ich schon Jahre lang in Würzburg lebten, erfuhren wir erst jetzt von diesem Powerspot für neue Klänge: Punk, Art-Rock, Reggae, Experimente, underground, Vorhang auf für einen ehemaligen Pferdestall, und einen Bahnhof, der nur mühselig aus dem Norden Nürnbergs mittels Bummelzug zu erreichen war. Ich hätte hier Stammgast sein müssen seit 1975. Verschüttete Milch.
Wir kamen mit meinem VW 1303 herangerauscht, und hinter Wiesen, Kirchtürmen und anderen Requisiten einer stehengebliebenen Zeit, landeten wir beim „To Act“. Als erstes fiel mir ein Graffiti ins Auge, das ich eher in Earl‘s Court an einer Metro-Wand vermutet hätte: „Tom Verlaine Superstar“.
Erst vor Wochen war hier Ari Up beim Reggae-Schuhplattler ertappt worden, während die beiden anderen von den Slits Gitarre und Bass probten. In dieser Parallelwelt gab es Volkswandertage, ein „traditionelles Schlachtfest“, und den Einbruch der Avantgarde in die Provinz. Dass die Slits und die Pop Group hier auftraten, war für Insider der Normalfall in Weißenohe, um uns herum parkte eine muntere Wagenkolonne aus München, Regensburg, Kaiserslautern, Nürnberg, Hof und Stuttgart.
Wir waren im Hinterland angekommen,und vom Hinterland fühlte ich mich von früh an angezogen. Gerne hohe Wellen, gerne wildes Grau, gerne grüne Wiesen, Auen, Almen. Der Name der Sehnsucht hatte vorzugsweise einem weiblichen Vornamen. Die Brünette, die ich an einem Bach, nah des Dorfes, um einen Kuss bat, frech wie ich war, und die retournierte: „Macht ihr Landeier das so?“ „Ich bin kein Landei. Ich bin der letzte Romantiker des Internationalen Studentenhauses zu Würzburg.“ „Guter Versuch, Schätzchen.“ Netter Korb. Hippie baggert Punk an – „es wird böse enden“. Edwin und ich gingen nach zwei Gläsern Bier in einem zünftigen Wirtshaus in den Club, und es gab dort eines dieser Konzerte, das ich nie vergessen würde: „Robert Fripp & The League of Gentlemen.“
Ich weiss gar nicht mehr, sassen wir in der alten Scheune auf Stühlen, oder standen dicht gedrängt? Dem Punk, der Lisa hiess, warf ich eine Kusshand zu, und sie rollte mit den Augen und lachte. Der erste Ruf aus dem Publikum, Fripp möge sich erheben. Fripp entgegnete: „I have to sit. I‘m only a limited guitar player.“ Es wurde gelacht. Aber tanzten wir? Schliesslich wurde das Quartett mit den eide „Toobads“ (Sara Lee, klassisches Training, Bass), Johnny Toobad (Schlagzeug), Barry Andrews (keyboards) und Fripp (Gibson, Synthi) als „second wave dance band, with an emphasis on spirit rather than competence“ (OTON Fripp) umschrieben.
Da das Album erst Ende 1980 rauskommen sollte, hatten wir keine Idee, was uns erwartete in Weißenohe. Nun: eines von 77 Konzerten dieser kurzlebigen Formation, und auf der Rückseite der LP sollten all diese Orte und Nächte vermerkt werden. So roh und pink wie das Cover war auch diese deep rockende Veranstaltung: ein dichter, rein instrumentaler, repetitiv durchgegroovter „Art Punk Rock“, so herrlich dirty, dann wieder feingeschliffen, pirouttendrehend, von klarer, Fripp’scher Handschrift konzipiert. Wir lauschten gebannt. Man konnte nicht nicht hinhören – die Musik bewegte sich auf einem immens hohen Energielevel, den Joint reichte ich ungeraucht weiter. Eine Liga der Gentlemen mit einer Frau, das hatte was. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft, schön laut, Disc 17 der Exposures Box, der Auftritt im Paradise Club in Boston vom 26. Juni 1980. Es fiepst und zischt.
Und wie es halt so Geschichte ist in den Gruppen von und mit Fripp – es geht es nicht ohne gruppendynamischen Stress ab. Fripp, der Eigensinnige, Fripp, der Disziplinfanatiker, Fripp, der Sarkast, Fripp, der Humorist, dessen Humor nicht jeder versteht. Mr. Toobad hatte eine Neigung zu Heroin, und reiste einmal vom europäischen Festland nach London und zurück, um sich den Stoff seines Vertrauens zu besorgen – er wurde bald gefeuert und durch den talentierten Kevin Wilkinson ersetzt. Barry Andrews fühlte sich zeitweise wie in einem „Gurdjieff‘schen Sozialexperiment“, und Sara Lee behielt Lust und Nerven, immer, und sorgte mit ihrem Spiel für gute Erdung und grossen Anklang – die B52‘s nahmen sie alsbald mit Kusshand.
Dieses Quartett hatte auch einen Beat-Combo-Sound der frühen Sechziger, das liess sich nicht auf Punk und New Wave runterbrechen. All diese rauchgeschwängerten kleinen Clubs am Rande der grossen Städte und des Hinterlandes, die dieses Quartett beherbergten – da waren sie in ihrem Element, fraglos.
Der Surround-Mix zieht mich ins Zentrum der Musik, die für mich damals wie heute etwas von dem Rumstreunen auf einer riesigen Kirmes meiner Kindheit in Dortmund-Hombruch hat: an jeder Ecke wird die Aufmerksamkeit eingefangen, beim Autoscooter, bei der Geisterbahn, bei der Zuckerwatte, bei jedem Geplärre aus einem Transistor, bei all den Kindergesichtern. Reines Staunen, schöner Krach, Twists und Turns. Für jede mögliche Zukunft von damals ein verrückter Sound im Hier und Jetzt. (Und mit diesem letzten Satz will ich nur der guten alte Tante „Retrofuturismus“ aus dem Weg gehen.)
September 82.
We were lying on the grass, the heat was on,
the lightnin in the sky, Like A Hurricane,
Nils Lofgren was still so young. As were you and me.
We were bloody everything, our faces east, our feet dancing,
Robert, Tony, Adrian, Bill. And they naturally played
Heartbeat – at that moment, night included,
eternity, too (the one in decay mode), the gloom of the moon
on your nakedness , in that odd old town hotel,
windows to the heavens, i can still feel
your heartbeat (in the song), and though everything
was loss later, pictures running on empty,
in circles through my mind, it doesn‘t matter.