Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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„One of the joys of Licorice Pizza is the way that things just happen – bizarre incidents that seem to go nowhere, elaborate set-ups for punchlines that never come – yet they leave you hooked from start to finish. Anderson depicts ’70s Californian suburbia as the last hurrah of ’60s naivety, and the soundtrack – Taj Mahal, Wings, yet another sublimely counter-intuitive Jonny Greenwood score – adds to the sometimes perplexing magic. It’s a joy, and the sort of film that like a great LP – it’s named after a Californian record store – you’ll want to play over and over.“

(Jonathan Romney)


Am besten den Film sehen, ohne sich vorher „schlau“ zu machen. Wäre eher doof, sich nicht überraschen zu lassen. Und wie leicht könnte man sich verzetteln, im Vorfeld, bei all den Verweisen und Anspielungen. Hintergrundinformationen können das Erleben torpedieren. Wer nur auf den Subtext aus ist, verliert den Thrill aus den Augen. Ein neuer Lieblingsfilm? Viellecht – abwarten auf das zweite und dritte Sehen. Aber – was für ein Sog! Und doch die alte Story: boy meets girl (or woman.) In altem Breitwandformat gedreht, was auch nicht mehr viele Kinos zeigen können,  und eine grossartig verwirbelte Geschichte. Wir sind in den Siebziger Jahren. Im Valley. Und, meine Güte, es ist eine ganz besondere Welt mit vielen Details aus der damaligen Zeit. Eine Inspiration fraglos „American Graffiti“. Und wie hat sich wohl die enorme Menge des Materials auf den Schreibprozess augewirkt? 

 

„Hier geht es definitiv nicht darum, zu schreiben und zu sehen, wohin es einen führt. In diesem Fall habe ich tonnenweise Munition und einzelne Teile, über die ich lange, lange Zeit nachgedacht habe, und ich habe versucht, lange darüber nachzudenken, bevor ich anfing, etwas darüber zu schreiben, was ein ziemlich gesunder Weg sein kann, wenn man die Geduld aufbringen kann. Normalerweise will man an Heiligabend einfach nur seine Geschenke aufreißen. Ich war diszipliniert und habe mit der Niederschrift gewartet, bis ich es mehr oder weniger durchdacht hatte. Der Trick dabei ist, dass man immer noch einen gewissen Spielraum für Entdeckungen haben muss, denn was nützt das sonst? Ich würde mich langweilen. Ich skizziere es nicht wirklich und setze mich hin und schreibe. Ich arbeite aus dem Gedächtnis und in Gedanken. Ich erinnere mich daran, was passieren muss: Ich muss von hier nach hier kommen, es gibt diese Episode, die ich interessant finde. Worauf steuere ich zu?“

(Paul Thomas Andersen)

2022 11 Juni

„Impressionen mit verrücktem Pferd“

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Wir sind früh da und hocken lange draussen in der Sonne. Die Bob Dylan- und Neil Young-Bootleg-Experten reden sich die Köpfe noch etwas  heisser. Man kanns auch übertreiben, Jungs! Dafür finden wir weit vorne Platz in der Laxness-Arena. Es tut sich was. Die verrückten Professoren hadern noch miteinander, beim Fabrizieren bzw. Errichten der überlebensgrossen Pille, die letztendlich wie ein Mikrofon ausschaut, dieweil einer der grössten Songs des 20. Jahrhunderts, „A Day In The Life“ ertönt, und das leitet die Zeitreise ein, die schon begann, als ich während der Hinfahrt, nichtahnend, „Sgt. Pepper in Mono“ spielte, und dann betritt die Combo der vier alten Männer die Bühne, und das „verrückte Pferd“ feuert aus allen Zylindern.

Wie Neil Young sich ans verwitterte Saloon-Piano setzt, und anmutig von einer verlorenen Seele singt, und, mitten in all den erfolgreichen Raubzügen in der Ursuppe der Rockmusik, auch mal für eine Weile in alten „Harvest“-Zeiten andockt.

Wie Neil auch nach diesem akustischen Mittelteil in aller Ruhe am Klavier den rechten Schuh zubindet, über die Bühne schlendert, und dann mit drei harten Akkorden das nächste, elektrische Songgewitter einleitet.

Roll another number  – dieser schleichende Rocker erlaubt sich ein paar sentimentale Zeilen und rockt das Pferd. „Tomorrow is a long time when you’re a memory“ singt er an anderer Stelle, und die Hörer, die Neils Musik gut kennen, wissen, dass sich hier alle auf einem Trip befinden, dessen Quellcode in den dunklen Mittsiebzigern liegt, als Neil Young mit einigen Illusionen der Ära aufräumte und all jene Fans vergraulte, die nur zu gerne altem Sanftmut, alter Nostalgie erliegen. No way. Aber mit Traumstoffen spielen – gerne.

Das nächste Soundgewitter folgt und legt das Finale des Liedes über verlorene Illusionen, „Walk Like A Giant“, in Geräusch und Asche; auf einmal hören wir virtuellen Platzregen niedergehen, und wie einst erschallt überall „more rain, more rain“.  Die „Alchemy“-Tour ist in ihrem Element. Diese Musik ist, zum Glück, nicht ungefährlich.

Crazy Horse hauchen jedem „fuckin‘ old song“ neues Leben ein, und wenn „Heart Of Gold“ ohne jede Brechung, akustisch und sanft ertönt, ist klar, dass hier ein alter Traum nichts als eine Seifenblase ist, die am Ende genau das macht, was Seifenblasen machen.

Das Gesicht von Neil Young ist eine „schöne Ruine“, sein famoses Spiel auf der E-Gitarre lässt immer neue Winkel einstürzen.

„Hey hey, my my, Rock’n Roll will never die“ – Die Beschwörung. Es wird geschrien und geflüstert. Die gereckten Hände der ersten fünfzehn Reihen im Innenraum vollführen einen organischen Tanz, das „verrückte Pferd“ erzittert! Jede Improvisation geht Risiko.

Ja, überlebensgross, die Marshall-Amps,  aber die ganze Performance ist das Gegenteil eines gigantischen Spektakels: vier Männer, einer mit Hendrix auf dem T’Shirt, sind sich der Brüchigkeit von Allem bewusst, manövrieren wie Zeitgeister zurück in die Zukunft. Das Wilde ist keine Geste. Jeder falsche Ton genau der richtige!

Das Feuer brennt noch. Papierfetzen fliegen über die Bühne. „Everybody knows this is nowhere.“

Und wie wohltuend, viele Jahre später, im Sommer 2022 in einer in Aufruhr empfindlichen Welt, zu erfahren, dass Gudrun und Hansjörg auch da waren, im Juli 2013, irgendwo hinter uns im weiten Rund. Hätte ich davon gewusst, hätte ich dreimal laut ihre beiden Namen gerufen: Risiko – ein paar „falsche“ Gudruns und Hansjörgs hätten sich wohl auch gemeldet. Da waren Tausende. Bald sind wir wieder in der Arena, mit Nick Cave & The Bad Seeds – und Masken!

Wer wissen will, wie das Pferd damals schnaubte: ich empfehle die Vinyl-Ausgabe von „Psychdelic Pill“.

 

2022 10 Juni

Aus der Eifel

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(für Gudrun und Hansjörg, die ich danach besuchte, wunderbares „Wiederwiedersehen“, gute Gespräche, herrliche „Mörderwanderungen“ usw.) 

Die Landschaft drängt sich nicht auf (das wird, später im Jahr, am Chiemsee, anders sein) – in aller Ruhe suchte ich mir zwei ruhige Zielpunkte. Im Toyota lief Neil Youngs „Roxy“, ein begnadeter Aufritt in Miami Beach. Crazy Horse bot die Musik von „Tonight‘s The Night“ erstmals vor Publikum, und so verstörend etliche Songs waren, für den nostalgischen Teil des Publikums, sie spielten mit Lust und Wucht – pure Katharsis, Trauerarbeit im Gewande eines Rock‘n‘Roll-Rausches!

Zuerst fuhr ich viele hügelige Landstrassen rauf und runter, nach Steineberg, und parkte dort mein Auto. An der Vulcano-Plattform sassen ein paar Wanderer in munterem Gespräch, ich begrüsste sie, und sagte, sie sollten sich nicht stören lassen. Ein kurzer Blick in den Reiseführer, dann schaute ich zum Turm hoch, und fragte, in eine kurze Stille hinein, ob man all die Treppen unfallfrei hochkäme (die Konstruktion wirkte leicht verwittert, eine Metallabsperrung vor dem Aufgang war roh abgerissen worden). Es entwickelte sich ein freundliches Geplauder, und als die Gruppe zu ihrem nächsten Ziel aufgebrochen war, bestieg ich den Turm (und fühlte mich von ferne an „Myst“ erinnert, fast das einzige Videospiel, das ich eine Zeitlang mal gern gespiel habe), und  liess den Blick ins Weite schweifen.

 
 

 
 

Als nächstes fuhr ich zum Ulmener Maar, mit rund  11000 Jahren angeblich der jüngste Vulkansee Deutschlands. Nach einer Weile setzte ich mich auf eine Bank, und las in meinem e-Book, wie sehr Cliff Richard auch nach Jahrzehnten noch sein Beatles-Trauma pflegte. (Manche Menschen machen sich dermassen klein, indem sie an konfektionierten Verbitterungen festhalten.)  Das Ambiente hatte hier nichts Weltabgewandtes, man sieht das angrenzende Städtchen, und auf einer Anhöhe die Überbleibsel einer alten Burgmauer – die Oberburg galt seit 1150 als Stammsitz der Ritter. Früher, als ich noch eine Pistole am Gurt trug, und die Natur erkundete, ging es abenteuerlicher zu. Unvergessen, der Regentag im Schwarzwald, als ich mit Cowboyhut und Halstuch, von Pfütze zu Pfütze sprang, immer bereit, mich, wenn sich ein Gangster nähern sollte, in den Matsch fallen zu lassen und aus der Hüfte zu feuern.

Die Lady, die auf der anderen Bank Platz nahm, war vielleicht Mitte 40, hatte langes braunes Haar, und suchte offenbar meinen Augenkontakt. Auch hier entwickelte sich erstmal der übliche small talk unter Fremden, der etwas persönlicher wurde, als sie sich wiederholt an den Nacken griff, und eine kurze sichtbare Anspannung ihrer Stirn auf Schmerzen deutete. Als ich sie darauf ansprach, entgegnete sie mit einem Lächeln: „Eher eine schmerzhafte Erinnerung.“ Und dann begann sie zu erzählen.

 

 

Am 4. August sind „meine“ nächsten JazzFacts im Deutschlandfunk, um 21.05 Uhr. Es ist bislang noch nie vorgekommen, dass knapp zwei Monate vor der Produktion noch kein Beitrag feststeht, und nur eine Cd. Tabula rasa, fast. Wer also spannende Entdeckungen macht, über Jazzzeitschriften (die gibt es noch!), Vorankündigungen bei bandcamp oder ähnlichen Plattformen, die den Veröffentlichungsraum zwischen Ende Juni und Mitte August umfassen, kann gerne in den Kommentaren darauf hinweisen. Oder mir eine Mail senden.

Ich weise aber darauf hin, dass jetzt gerade auf den Markt kommende Produktionen eher wenig Chancen haben, weil sie entweder vorher von Kollegen vorgestellt werden, oder schlichtweg nicht mehr aktuell genug sind für ein Magazin über „Neues von der improvisierten Musik“. So erscheint das neue Werk des Lisbeth Quartetts, „Release“ morgen, am 17. Juni, wohl um einiges zu früh für meine Abendsendung.

Ich versuche stets, einem solchen Magazin eine thematische Bindung zu geben – zuletzt ging es um das weite Feld von Improvisation und spiritueller Praxis (was auch aus der Sicht eines Agnostikers sehr spannend war) – oder zumindest zwei, drei roten Fäden für die Form zu gewinnen. Diesmal scheint es auf einen „bunten Flickenteppich“ aus allen mögliche Winkeln jazznaher und jazzferner Sounds zu gehen. Dann wäre ein stetes Wechseln von Horizont zu Horizont das Programm.

 

 

Im Sommer 1991 sagte Robert Wyatt zu mir: „Michael, the future is now“. Er spielte auf sein Alter und die knapper werdenden Zonen der „schönen kleinen Ewigkeit“ an,  für die wir das Leben im Überschwang mitunter halten. Einst wartete ich, als Musik Seelennahrung wurde, und wir reden hier mal von Songalben, von der Kindheit, der Jugend, und all den späteren Jahren, auf Singles und Alben von den Beatles und Kinks, auf Lps von Neil Young und Joni Mitchell. Die ganzen Siebziger Jahre wartete ich auf neue Alben von Joni, später nicht mehr so. Ich wartete auf neue Alben von Leonard Cohen, von Brian Eno und Robert Wyatt. Ich wartete seit Spirit of Eden auf neue Alben von Talk Talk und Mark Hollis, und immer noch auf neue Songs von Neil, Brian, Robert und Leonard. Ich rede hier mitunter von  Favoriten, bei denen das Warten noch gerade Sinn machte, und manchmal schon an Godot erinnerte. Nur Neil lieferte inmer. Ich wartete seit Before Hollywood und More Songs about Buildings and Food auf neue Alben der Go-Betweens und Talking Heads. Ich wartete immer noch auf neue Alben von Leonard. Heute warte ich, was nun die alten und nicht ganz so alten Wegbegleiter angeht, nur noch auf neue Alben der Mountain Goats, von Wilco, von Fathe John Misty, und das wohl letzte Songalbum von Brian Eno. Als ich im Oktober 2018 auf Sylt die Biografie von Robert Wyatt las, nahm ich nachts auf eine Wanderung seine Platte „Dondestan“ mit, und hörte sie am Morsumer Kliff im Stockdunkeln, mutterseelenallein und seltsam euphorisiert. Ich hatte einen alten Sony Walkman dabei. So viele Faszinationen darüber hinaus, in Songwelten, aber das hier sind die innigsten und dauerhaftesten Liebesbeziehungen.  By the way: das  Foto machte ich im Teekontor Keitum, in dem es einst zu einem legendären Manafonisten-Treffen kam. Der damalige Chef war auch Jazzfan, und einige Künstler, die sicher Freunde haben bei den „Freunden nordischer Musik“ traten dort schon auf. Dann musste für die Konzerte ein Riesenaufwand im Kontor betrieben werden. Der Jazz hat den Chef aber nicht so richtig locker gemacht, er war unhglaublich pingelig und ging damit sicher etlichen Gästen auf die Nerven. Jetzt ist er im Ruhestand, die neue Chefin ist entspannter. Ein echter Power Spot, zu gewissen Zeiten sich in den Strandkorb vorne rechts draussen hinzusetzen, und dann eine oder zwei Kannen Tee zu trinken. Ohne Drogen (und diesen Text zwei Susannes zu widmen), das geht gar nicht: es gibt dort, zu allem eleganten Überfluss, ultraköstlichen Zitronenkuchen mit Eierlikör zum Draufkippen.

 

    1. Don Cherry & Ed Blackwell: El Corazon (ECM)
    2. Brian Eno: On Land (45 rpm-edition)
    3. Keith Jarrett: Book Of Ways (ECM)
    4. Sonny Rollins: Way Out West
    5. Neil Young: Hitchhiker (Reprise)
    6. Gary Peacock: Voice from The Past (ECM)
    7. Muddy Waters: Folk Singer
    8. Archie Shepp & Mal Waldron: Let Alone Revisited (Enja)
    9. Kenny Burrell: Midnight Blue
    10. Joan Armatrading: s/t (Intervention Records)
    11. The Beatles: Rubber Soul (The Mono Box Set)
    12. John Coltrane: My Favourite Things (60th Anniversary Ed.)

 

„It sounds like the album is supposed to sound, or — perhaps more accurately – how I remember it sounding growing up as a kid. Sure, I was listening to the Capitol Records version at the time, but it was a MONO version and that is the sound I grew accustomed to. I never quite got into the Stereo versions of Rubber Soul, try as I did over the years. I especially prefer the Mono mix of “Drive My Car” as it puts the cowbell into proper perspective (its way too in your face on the Stereo mix – whenever I hear the Stereo mix, I expect Christopher Walken to come walking through the door demanding yet “a little more cowbell!” Yes, Rubber Soul sounds really so so good. Big rich sounding acoustic guitars with just enough jangle when the songs need to rock out. Dead quiet vinyl, again, and the sides are perfectly centered.“

(Mark Smotroff)

 

 

Die einfachste Liste, es handelt sich schlicht um meine am häufigsten gehörten Platten der letzten Jahre. Bis auf 11 und 12, die ich erst zuletzt entdeckte oder neu entdeckte. 11 und 12 stehen auch für die neue, alte Lust am Mono. Einige der Alben sind recht kostspielig gewesen, andere hatten einen Normalpreis. Es muss also nicht immer alles remastert oder aufwändig bearbeitet werden, um audiophil zu sein. Und diese Platten sind durchweg audiophil. Die Neil Young-Schallplatte ist an allem, was Transparenz, Dynamik, Intensität, Intimität, Unmittelbarkeit ausmacht, nicht zu übertreffen: a night with David Briggs at the controls. Immer noch unter 30 Euros erhältlich.

(m.e.)

 

 

Here’s an old text from 2019: I once was asked about my favourite Blue Note albums, and I was surely not asked as an insider. I was just way too young to be totally immersed with the label‘s salad days that were heavily connected with the stylings of what they then called hard bop. But over the years, I stumbled on some famous ones, and lesser known gems. The wonderful German writer Ernst Augustin has lived out his knack for Lee Morgans The Sidewinder in his nearly forgotten masterpiece „Der amerikanische Traum“. I can definitely say, I nearly obsessively listened to two very old jazz albums. One was Sonny Rollins‘ Way Out West (no Blue Note record), the other ones Kenny Burrell‘s Midnight Blue. It puts a smile on my face remembering I once sent Robert Wyatt Julio Cortazar’s Rayuela, a book that is a terrific work of lost hopes, friendship, everlasting love, soul food called jazz, sex and escapes, sex and exile, smoking, sipping tea from Argentina, and, well, dying. Let‘s return to the music. As I said, I am not a Blue Note afficionado. For example, I never understood what made me love Sonny Clark‘s „Cool Struttin‘“, at least for a while, I would never call it „my music“. Life is strange. Life is, at certain points and passages, a long drink of the blues. Saying this, another gem of the Blue Note catalgues springs to mind: „Let Freedom Ring“

(m.e.) 

2022 1 Juni

Oh, dear!

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Der Tag begann mit der intensivsten Regendusche seit der schwarzen Wolke von Sylt. Ich war so nass, dass ich nur die Klamotten auszog, und auf der Couch jene Sacd ungebremst vom Stapel liess, auf die ich lange warten musste: die Quad-Version von „Bitches Brew“. Sony, Japan. Was war machtvoller: der prasselnde Regen oder das wilde  Gebräu des Dark Magus? „From an immersionist perspective, Bitches Brew ranks at the top, with fantastic use of all four channels, along with plenty of ear candy for quadroholics. In true 70’s fashion, parts float around the room and Davis’s trumpet blasts across the entire soundstage with delayed echoes reverberating across the back channels.“ Die Worte von Wesley Derbyshire sind fast schlicht gehalten, und ich neige dazu, dem Hörer eine kleine Warnung mit auf den Weg zugeben: nichts für schwache Nerven. Ein wahnsinniger Mix, basierend auf analogen Masterbändern, nichts klingt digital, analytisch, kalt. So habe ich Miles Davis’ Musik aus der Zeit zwischen 1969 und 1975 noch nie gehört. Und gerade der „elektrische Miles“ erscheint mir ein Fest für Surroundfreunde zu sein. Wer ohne Surround hört, bekommt die erstklassige Stereospur serviert, die m.E. keine Vinylausgabe toppen wird. Allerdings kenne ich nicht die Version von Mobile Fidelity. Und, interessant, das Cover von Mati Klarwein ist so berühmt, dass man gar nicht mehr dazu tendiert, es sich genau anzugucken. Vielen reicht das Wiedererkennen. Aber wer es nur in eine Schublade packt, verfehlt das Wilde, das Unheimliche, das ihm nach wie vor zueigen ist. Und das, was es über die Musik „aussagt“.

2022 1 Juni

„Zum Niederknien“

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Das ist nicht der finale, aber der Arbeitstitel einer kleinen Storysammlung, an der ich gerade schreibe. Anders wird es sein als die üblichen „Wohlfühlerotikbücher“, und eine feine literarische Qualität verströmen (aber nicht von der Sorte, dass sexuelle Inhalte aseptisch, kunstvoll überhöht, wirken!). Es kommen in dem Buch, das 140 Seiten ungefähr umfassen wird, 33 meiner Liebesbegegnungen aus dem letzten Jahrhundert vor. Nichts Ausgedachtes. Orte und Namen werden verändert, damit es nicht justiziabel wird. Drei ziemlich „verrückte“ Stories durften nicht fehlen, in denen ich aber sowas von der „fool of love“ war. Eine dieser drei „shame attacks“ trägt den Titel The Enchanted Sea, auf deutsch, nach dem Stück von Martin Denny. Und die Geschichten sind weshalb so interessant für die Leserschaft?! Weil sie m. E. kurzweilig sind, gedankenreich, und Horizonte öffnen. Emma Peel, Fetisch, Surrender, Fesselung, Tantra, „das wahre, innere Afrika“ (Jean Paul), „der fliegende weisse Tiger“, aber alles beiläufig, gelegentlich fast kurzweilig-essayistisch, auch ketzterisch (wider die Missionare und die Missionarsstellung) – und romantisch geht es sowieso zu – zuweilen. Es gibt zudem eine Art Soundtrack für diesen fulminanten Sinnenzauber. Die Storys sind miteinander verwoben durch Aufzeichnungen aus meinen damaligen Traumtagebüchern. Und eine Grundregel beim Aufzeichnen von Träumen: nie fabulieren und ausschmücken. Auf diese Weise erhöhen selbst Träume den Ausschlag auf der Realismus-Skala. Never leave with your hard on, sang schon Leonard einst.

 

 

„War alles nur ein Spuk, wie Ari-Ups Erlebnisse im Wald, oder in einer Kirche, wo sie mit einer alten Frau über den Teufel gesprochen hat? Sind sie buchstäblich im Untergrund verschwunden? Ist die Provinz die Provinz oder ist sie das Aufmarschgebiet für einen Aufstand gegen die Metropolen? Ein Tag Später war in Hamburg die Strassenschlacht im Karolinenviertel, Mai ’80.“

(Diedrich Diederichsen, Sounds, Juni 1980)


„Wir sind so oft wie möglich nach Weißenohe gefahren: Robert Fripp + League of Gentlemen, Gong, Soft Machine, Nucleus, Hardin + York, Osibisa, Wolfgang Dauner, Livin‘ Blues, Chicken Shack, Hawkwind, Johnny Winter, Volker Kriegel, Alexis Korner. Bin selbst Musiker geworden, ohne das to Act hätten mir einige wichtige Inputs gefehlt.“

(Rainer Berneth,  To Act-Insider)

 

 

The gardener plants an evergreen / Whilst trampling on a flower / I chase the wind of a prism ship / To taste the sweet and sour“. Irgendwann, ganz sicher, ist mir auf einer Party, als es noch keine sozial-liberale Koalition gab und „Der Kommissar“ mit dem Stoiker Erik Ode zu den Innovationen des Zweiten Deutschen Fernsehens zählte, die erste King Crimson-Platte mit dem berühmten Cover der verhutzelten   Famtasiegestalt in die Hände gefallen, und wir staunten nicht schlecht, als wir den wilden rhythmischen Verwirbelungen des „21st Century Schizoid Man“ folgten. Unerhörter Stoff.

 

Neben den karmesinroten Unheimlichkeiten, die sich auf dem Album bemerkbar machten, zogen auch diverse, mellotrongetränkte, Sehnsüchte ihre einsamen Bahnen. Und so  wurden diverse King Crimson-Alben Begleiter durch meine Jahre als Teenager und Twen. Seit einiger Zeit ist die Musik von Herrn Fripp und seinen Kollaborateuren Gast in meiner „elektrischen Höhle“, vorzugsweise in den Surround-Mischungen von Steven Wilson, die mich eher nicht in sog. gute alte Zeiten transportieren, vielmehr immer neu aufleuchtende Winkel freilegen.

 

Und so begab ich mich in den letzten Wochen auf eine Zeitreise in die Jahre von Fripp, dem Solisten: zwischen 1977 und 1983, spielte er solo seine Frippertronics, erholte sich von der ersten langen Regentschaft von King Crimson, übte den „lateralen Drift“ frei nach Robert Pirsigs „Zen oder die Kunst, ein Motorrad zu warten“, brachte diverse Musikproduktionen auf den Weg, widmete sich (etwas früher noch, zwischen 1974 und 1977), und sehr „diszipliniert“ (ein Schlüsselwort seines Credos), einer von Gurdjieff-Nachfahren befeuerten Schule der Spiritualität, und pflegte seine Freundschaft zu dem bekennenden Atheisten Brian Eno, den er stets „Captain“ nannte.

 

Wie das Leben eben so spielt, zwischen frühen Jahren des Ruhmes, dem heimischen Dorset und dem fernen Manhattan, und stets begleitet von einem mindestens grenzwertigen Hang zur Perfektion! Von all dem handelt meine „Besprechung“ der neuen und, gelinde gesagt, opulenten Robert Fripp-Box, „Exposures“. Angefüllt mit Erinnerungen, Umschreibungen, Fantasien, Tatsachen, Empfindungen, Beiläufigkeiten. Alles endet auf dem Nürnberger Zeppelinfeld, auf welchem die neu formierte Ausgabe von King Crimson (mit Adran Belew, Bill Bruford, und Tony Levin) am 5. September 1982 aufspielte. Und aus allerlei Gründen kann ich mich an jenen heissen Spätsommertag besser erinnern als Mr. Fripp. Um es mal so zu umschreiben: ich war als Gärtner unterwegs und pflanzte einen Evergreen, und während ich auf einer Blume herumtrampelte, jagte ich ein Prismenschiff, um das Süsse und das Saure zu verkosten. Damals, die Bilder hinter den Bildern, sie verschwanden nicht. Auch später nicht.

 

Nennen wir diese Box eine Schatzkiste!  „Robert Fripp: Exposures – Studio, Live 1977-1983“. 25 CDs, 3 DVDs, 4 Blurays. Viele Memorabilia, ein 38-seitiges Booklet, etliche Tickets und Faksimiles. Wo soll man da ein-, wo auftauchen? Alle Platten aus jenen Jahren habe  ich mir seinerzeit gekauft, und sie bilden, neben zahllosen Abschweifungen voller Frippertronics, Live-Auftritte und Studiosessions, ein Kernelement von „Exposures“.  Musik, die sich nicht mit gelebtem Leben verbindet, ist sowieso zum Vergessen. There is no replacement for fire, schrieb der Architektur-Philosoph Christopher Alexander in seinem Buch „A Pattern Language“ über die besondere Magie von Kaminen im Wohnzimmer. Für das Hören von Musik gibt es auch keinen Ersatz.

 

1981, als das einzige pure „Frippertronics“-Album der frühen Jahre rauskam, erntete es gemischte Reaktionen, aber der „down beat“ vergab fünf Sterne, einen klugen Text, und bei mir landete „Let The Power Fall“ gewiss auf den vordersten Plätzen meines damaligen Jahresrückblicks – und 1981 war ein schwergewichtiges Jahr für richtig gute Platten. Ich liebte die Schallplatte, legte sie gerne nach der Arbeit in der Fachklinik Furth i. W. auf meinen Dreher, und, gemäss dem Aufruf des Titels, liess ich all meine „power“ fallen. Es war wie eine Reinigung der Sinneskanäle, und ich tendiere nicht zu Feng-Shui und esoterischem Small Talk. „Wenn Robert Gitarre spielt, klingt das, als würde das Universum weinen.“ Der Satz stammt nicht von mir, das sagte Daryl Hall. Wer das Album nicht mag, spricht von grossem Gebrumm und endlos repetitiven Tonschleifen zweier präparierter Revox A-Tonbandmaschinen, zu denen sich Fripps Gitarrenimprovisationen mischten. Wer die Musik nicht mochte, erlebte sie als harte Kost, mathematisch, kalt, unheimlich, schockierend, langweilig ohne Ende. Die Gegenseite empfand die sechs Stücke, die nachfolgende Jahreszahlen zum Titel erklärten, also auch „1984“ mit seinen Orwell‘schen Anklängen, als unheimlich, umfassend, dunkel, hinreissend, meditativ. Tja, Sie wissen schon, die Sache mit dem Auge des Betrachters, und dem Ohr des Hörers. Nun erscheint „Let The Power Fall“ endlich wieder als Schallplatte. Ich liebte die Klangqualität, den Sound, und der Sound war die Musik.

 

Ich träume schon länger davon, „Let The Power Fall“ – hochauflösend – und in Surround zu erleben, und dieses „Box Set“ liefert dazu den ultimativen Stoff – der Stereo-Mix die pure Freude, die Abmischung für Surround „frippertronics for the heavens“. Mit vielen Extras: Basisloops des Albums, Live-Konzerte, nicht verwendete Kompositionen.  Akustische Archäologie solcher Art mag nicht jedermanns Hobby sein, aber das Material ist gehaltvoll. Dokumentarfilmer können hier in über dreissig Stunden „Solo-Mediationen“ fündig werden. „A long weekend with Frippertronics“ – wer ein Wochenend-Retreat plant, braucht sich über verwandelte Bewusstseinszustände nicht mehr über Gebühr kümmern.

 

Es gibt in dem grossen Beiheft der Schatzkiste ein witziges Foto: Robert Fripp im heimischen Dorset, in einer Art „Umerziehungslager“ bei der Gartenarbeit. Der junge Mann hatte bereits kleine und grosse Rockgeschichte geschrieben, mit zwei Fripp & Eno-Alben (die damals nicht gerade als Klassiker erkannt wurden, selbst der geschätzte Manfred Sack (Die Zeit) empfand die Musik des Duos als tendenziell zugedröhnt und wenig berauschend), darüber hinaus und vor allem mit King Crimson und diversen Erkundungen am Hof des kamesinroten Königs – aber King Crimson hatten sich vorerst in die Historie, Abteilung Mottenkiste, verabschiedet. Die englische Presse liess kein gutes Haar an den Überkomplexitäten des „Progressiven Rock“ – das preisende Etikett wurde zum Schimpfwort, und der Punk als Stunde Null einer neuen aufregenden Kultur gefeiert.

 

Robert gestaltete seinen Nullpunkt anders und zog sich in ein „spirituelles Zentrum“ im englischen Hinterland zurück, „Guru“ inklusive, um auf den Spuren der Lehren des Mystikers Gurdjieff eine neue „Verortung“ seines Selbst vorzunehmen, Meditation, Gartenarbeit, Stille. Nebenbei – Gurdjeff hatte ja auch ein Händchen für Musik, war ein Globetrotter und Sammler fast verschollener Lieder und unerhörter Töne. Keith Jarrett zauberte einst aus alten Transkriptionen  die entrückten Solo-Piano-Meditationen von „Sacred Hymns“ (ECM) – hören Sie sich die Schallplatte mal an, und hinterher  Fripps Soloexkursionen von „Let The Power Fall“. Zum Versinken. Dass das Elektronische und das Akustische zwei Welten sind, wird kurzerhand als absurd entlarvt.

 

Und alsbald verschlägt es ihn, im Jahre der Dame 1977, nach New York, und  er gerät in eine kulturelle Szene, die er, rückblickend, als immensen „power spot“ erlebt, so überbordend wie der wilde Teil der „Sixties“ im Mutterland der Popmusik. Er reaktiviert die Revox-Tonbandmaschinen, und, die wandlungsfreudigen Gitarren-Loops der „Frippertronics“ wurden seine spezielle Art der „Selbstversenkung“ (meditationstechnisch wird das alte Ego natürlich nicht wirklich „versenkt“, es befreit sich lediglich, wenn es gut läuft, von eingeschliffenen „patterns“).

 

Mit einem guten Vorrat an neuer Energie ausgestattet, reihen sich in den Jahren zwischen zwei „King Crimson-Inkarnationen“ Abenteuer an Abenteuer  – und genau davon handelt „Exposures“. Weihnachten 77 verbringt Fripp zum ersten Mal fern der alten Heimat, und ein anderer New York-Umsiedler bringt die Glöckchen für den Weihnachtsbaum mit, Brian Eno. Die beiden Pop-Intellektuellen mit einem Faible für „(wild card) collaborations“ und einem geschätzten IQ von 300 (addiert, wir wollen ja nicht übertreiben) mischen die Karten neu.

 

Eno produziert, mit seinen „Oblique Strategies“ zur Hand, drei grandiose Talking Heads-Alben. Nachts schaut er aus seinem Dachgeschossfenster und entwickelt „Mistaken Memories Of Mediaeval Manhattan“. Fripp rockt die Bühne mit Blondie und gibt sein erstes Frippertronics-Konzert in „The Kitchen“. (Das kann man sich auf „Exposures“ anhören, das alte Bootleg verströmt, bestens restauriert, einen frischen dunklen Glanz.) Fripp gibt Greg Lake von Emerson, Lake & Palmer spät abends in einem Taxi einen Korb, der ihn überreden will, „King Crimson 69“ zu reformieren. No way!

 

Auch seine „Persona“ erfährt eine dezente Wandlung, vom gelockten Kruselhaar zum Typ mit Nadelstreifenanzug. Einen kleinen Kulturschock gibt es für manche Leser des Londoner Magazins „Melody Maker“, als dort auf einmal Deborah Harry aka „Blondie“ und Robert Fripp posieren – der extrem cool und etwas finster dreinblickende Brite ist, neben Mrs. Harry, vorgesehen für die Rolle des Privatdetektivs in einer Neuverfilmung von „Alphaville“.

 

Die Vergangenheit ist ein Pendel, das in die Zukunft ausschlägt. „It is impossible to reach the aim without suffering“ (Oton von Fripps altem Guru J. G. Bennett, der es, natürlich geloopt, auf die verzweigten wie verwegenen Songs von Robert Fripps „Exposure“ schafft.) Im Jahr der Dame 1998 nimmt die Musikzeitschrift „The Wire“ das Soloalbum des Gentleman aus Dorset in ihre Reihe auf:  „100 Records That Set The World On Fire“.

 

„Exposure“ ist langlebig. Ich vergleiche das Hören von 1979, 1980, 1981, in Würzburg, dann in einem Dorf im Nirgendwo, mit der „remasterten“ Begegnung, nach so langer Zeit. Ich bin sofort „drin“. Der flow-Faktor 10. Es gelingt ein Zusammenfall klanglicher Polaritäten. „…One of those records that set the world on fire“, diese Übertreibung ist nicht nötig. Aber was sonst der „Wire“ schreibt, im Rückblick, macht Sinn: das im April 1979 erschienene erste Soloalbum von Robert Fripp, sei klipp und klar „the Sgt. Pepper of Avant Punk“. Wie bei „Pepper“,  ausser Intro und Outro, gleicht kein Stück dem andern. Kurz vor Erscheinen war Fripp unsicher, ob „Exposure“ überhaupt „relevant“ sei – dieses kunterbunte, kuntergraue Gemisch – gerade hier kommt das Besondere zum Vorschein, in harten Schnitten, „audio verité“, Apokalypse, Alltag, Hymne, Rohheit.

 

Die Szene betritt: Peter Hammill, in wallendem Flanellmantel, links das Rauchwerk in der Tasche, rechts sein Brandy zum Auflockern: flüchtig studiert er Song und Text, und legt eine derartige entfesselte Gesangsimprovisation vor, dass Fripp ihn  „co-composer“ nennt. Und dann zweiter Auftritt: Peter mit Terry Roche, Auge in Auge, hinter Glas.

 

Die Szene betritt: Daryl Hall. Und gleich sein Abgang hinterher. Seit Fripp dessen „Sacred Hymns“ produzierte (wurde erst mal auf Eis gelegt), wittern die Labelbosse von Hall & Oates kommerziellem Selbstmord. In der einen Version fast sowas  wie Leadsänger mit fünf Auftritten, werden seine „guest vocals“ auf zwei limitiert. Erst viel später werden die Rechte freigegeben, für die Albumversion mit „viel“ Daryl Hall (so ein falsches Theater um die Vocals – kein Wunder, das Fripp sich zunehmend unabhängiger machte vom „big business“ und, nach diversen Gerichtsveranstaltungen, und immensen Prozesskosten, „Discipline Global Mobile“ ins Leben rief).

 

Die Szene betritt: Brian Eno. „Indiskretionen“ zur Musik, kleine schräge Einwürfe, Humor haben die Zwei. Mit all den found voices ensteht allmählich ein  fulminantes „Theater der Stimmen“, zum Ende Peter Gabriels „Here Comes The Flood“, eine end-of-times-Vision, eine langsame Auflösung ins Nichts, die einzige Aufnahme des Trios Fripp-Gabriel-Eno. Der „Flickenteppich“ von „Exposure“ enthüllt seine Textur, das Richtungslose seine perfekte Gestalt.

 

Und, in aller Ruhe, noch einmal, ganz langsam, im Zeitalter des Loops: Der „Flickenteppich“ von „Exposure“ enthüllt, mit der Zeit, seine  ausgefeilte Textur, das Richtungslose eine nahezu perfekte Gestalt. Und langsam sollte es klar werden: Fripps Musik der New Yorker Jahre ist ein Bruch mit den Mythen und Göttern, die am Hof es Kamesinroten Königs rumschwirrten, aber sie ist kein Bruch mit der eigenen Klangsprache. Das Wurzelwerk erweitert sich einfach. Lateraler Drift.

 

Nach dem Erscheinen von „Exposure“, diesem fragmentierten Song-, Stimmen- und Stimmungsalbum, wäre es normalerweise an der Zeit gewesen, damit auf Reisen zu gehen. Stattdessen setzt Fripp seine intimen Solodarbietungen mit den Frippertronics fort, die Reisekosten sind gering, die Gerätschaften anfällig (die Revox-Maschinen haben ihre Tücken, einmal gerät eine in Brand), und manche Kunden und Zuhörer wundern sich, warum es diesen einstigen Hero einer Superband in Pizzerien, Büchereien, Kaffeehäuser, Schallplattenläden und Kirchenhöfe treibt.

 

Er liebt den direkten Kontakt mit den Menschen (wenn sie nicht gerade Harcore-Fans der guten alten Zeit sind, und Poseidon, Druiden und den Maskenspielen des Königs nachstellen), was man bei seinen oft hyperintellektuell wirkenden Diskursen nicht unbedingt vermutet. Es ist auch ein Spiel mit der Enttäuschung von Erwartungen: kann man sich auf dieses vermeintlich karge Szenario seiner Improvisationen einlassen, das so wenig mit Rock oder Roll zu tun hat, und so viel mit weiten Räumen?!

 

Bald erscheint ein Album, mit einem seltsamen Doppeltitel (nicht eingängig), einer Seite „Frippertronics“ (nicht eingängig) und einer Seite „Discotronics“ (auch nicht eingängig). Widerständige „soundscapes“ (ein einst modernes Wort dafür), von Fripp absichtsvoll in keiner Weise geschliffen. Die Lust an den Eingebungen des Augenblicks, das Skizzenhafte von „Exposure“  – es  setzt sich fort in der provokativen Unmittelbarkeit von Meditation und Tanz.

 

Die drei Frippertronics-Stücke des Albums „God Save The Queen / Under yheavy Manners“ sind alles andere als Repetitionen des Immergleichen,  die beiden Groovenummern entkommen der „Disco“ und landen (mit unendlichem Abstand, im Jahre 2022 darf man diese Behauptung anstellen) in jener Art des Zeitlosen, in der das Hören nicht historisierend ist, nicht akademisch, nicht erinnerungstaumelnd – und weitaus mehr Meditationsort, Untergrundhöhle, Niemandszone.

 

Und so machtvoll wie die drei Solostücke diverse Schalter unseres Wahrnehumgsapparates umlegen (können), so sehr bringen die dezent überdrehten Vokalismen von David Byrne und die Bass-Schlagwerk-Stimulationen der „Discotronics“ eine andere Art von Tanzmusik ins Spiel, eine, die auch im Sitzen funktioniert. Zudem präsentiert der Abräumer „Zero Of The Dignified“ eine der verwegendsten, zum Finale hin (nach diversen inneren wows und ahhs) noch  sprachloser machenden, Gitarrensoli seiner Laufbahn. Aus der Abteilung Asche, Glut, und Feuer. In Surround pures Surrender, in Stereo  audiophil.

 

Im Mai 1980 lebte ich eine Zeitlang in den Gedichten von Jürgen Becker, und hätte der Meisterlyriker nur Edwin und mich am 22. Mai nach Weißenohe begleitet, in die Fränkische Schweiz, hätte gewiss ein einziges Gedicht gereicht, diesen Ort im Jahrbuch der Lyrik unsterblich zu machen.

 

Jürgen Becker erzählte mir die Dinge aus dem Alltag der BRD, unverbraucht von Bildungsdeutsch. Wie eine Vaterfigur, der einen Kosmos-Baukasten der Lyrik öffnet. So erfuhr ich auch, wie der alte Krieg sich immer noch einnistete an den Randzonen des Bewusstseins, in altem Geld und Finsterkatholizismus. Manchmal war das eine Art Geschichtsunterricht, der den Blick klärte und leerräumte, in reine Gegenwart vewandelte. Wie der Sound der Rillen beim Auflegen einer ECM-Platte, in den frühen Zeiten, vor dem ersten Ton. Kein Jahr, ohne Ralph Towners „Diary“ aufzulegen!

 

In den Wochen vor dem Fripp-Konzert in Weißenohe blockierten (soweit ich mich erinnere) zwei Platten abwechselnd meinen Dreher: Linton Kwesi Johnsons „Bass Culture“, und Robert Fripps „Fripper“- und „Discotronics“ von „God Save The Queen / Under Heavy Manners“. Ich hatte unlängst beim Magus der Verhaltenstherapie das  Thema für meine Diplomarbeit durchgesetzt, „Funktionen der Sprache, dargestellt an Konzepten der Kognitiven Verhaltenstherapie“, mein Psychologiestudium neigte sich dem Ende entgegen.

 

Meine Verlobung war Geschichte, die schönste Frau Gelsenkirchens trieb sich zu meinem Leidwesen an einem Golfplatz in Nova Scotia herum (Teil meiner Trauerarbeit war das  Hören von „Darkness at The Edge of Town“), und das erste Mädel, das ich nach der  Trennung aus der Halbdistanz ihres Arbeitsplatzes in einer Apotheke (zumindest ein wenig) anhimmelte, wurde von einem Auto überfahren. Obwohl Edwin und ich schon Jahre lang in Würzburg lebten, erfuhren wir erst jetzt von diesem Powerspot für neue Klänge: Punk, Art-Rock, Reggae, Experimente, underground, Vorhang auf für einen ehemaligen Pferdestall, und einen Bahnhof, der nur mühselig aus dem Norden Nürnbergs mittels Bummelzug zu erreichen war. Ich hätte hier Stammgast sein müssen seit 1975. Verschüttete Milch.

 

Wir kamen mit meinem VW 1303 herangerauscht, und hinter Wiesen, Kirchtürmen und anderen Requisiten einer stehengebliebenen Zeit,  landeten wir beim „To Act“. Als erstes fiel mir ein Graffiti ins Auge, das ich eher in Earl‘s Court an einer Metro-Wand vermutet hätte: „Tom Verlaine Superstar“.

 

Erst vor Wochen war hier Ari Up beim Reggae-Schuhplattler ertappt worden, während die beiden anderen von den Slits Gitarre und Bass probten. In dieser Parallelwelt gab es Volkswandertage, ein „traditionelles Schlachtfest“, und den Einbruch der Avantgarde in die Provinz. Dass die Slits und die Pop Group hier auftraten, war für Insider der Normalfall in Weißenohe, um uns herum parkte eine muntere Wagenkolonne aus München, Regensburg, Kaiserslautern, Nürnberg, Hof und Stuttgart.

 

Wir waren im Hinterland angekommen,und vom Hinterland fühlte ich mich von früh an angezogen. Gerne hohe Wellen, gerne wildes Grau, gerne grüne Wiesen, Auen, Almen. Der Name der Sehnsucht hatte vorzugsweise einem weiblichen Vornamen. Die  Brünette, die ich an einem Bach, nah des Dorfes, um einen Kuss bat, frech wie ich war, und die retournierte: „Macht ihr Landeier das so?“ „Ich bin kein Landei. Ich bin der letzte Romantiker  des Internationalen Studentenhauses zu Würzburg.“ „Guter Versuch, Schätzchen.“ Netter Korb. Hippie baggert Punk an – „es wird böse enden“.  Edwin und ich gingen nach zwei Gläsern Bier in einem zünftigen Wirtshaus in den Club, und es gab dort eines dieser Konzerte, das ich nie vergessen würde: „Robert Fripp & The League of Gentlemen.“

 

Ich weiss gar nicht mehr, sassen wir in der alten Scheune auf Stühlen, oder standen dicht gedrängt? Dem Punk, der Lisa hiess, warf ich eine Kusshand zu, und sie rollte mit den Augen und lachte. Der erste Ruf aus dem Publikum, Fripp möge sich erheben. Fripp entgegnete: „I have to sit. I‘m only a limited guitar player.“ Es wurde gelacht. Aber tanzten wir? Schliesslich wurde das Quartett mit den  eide  „Toobads“ (Sara Lee, klassisches Training, Bass), Johnny Toobad (Schlagzeug), Barry Andrews (keyboards) und Fripp (Gibson, Synthi) als „second wave dance band, with an emphasis on spirit rather than competence“ (OTON Fripp) umschrieben.

 

Da das Album erst Ende 1980 rauskommen sollte, hatten wir keine Idee, was uns erwartete in Weißenohe. Nun: eines  von 77 Konzerten dieser kurzlebigen Formation, und auf der Rückseite der LP sollten all diese Orte und Nächte vermerkt werden. So roh und pink wie das Cover war auch diese deep rockende Veranstaltung: ein dichter, rein instrumentaler, repetitiv durchgegroovter „Art Punk Rock“, so herrlich dirty, dann wieder feingeschliffen, pirouttendrehend, von klarer, Fripp’scher Handschrift konzipiert. Wir lauschten gebannt. Man konnte nicht nicht hinhören – die Musik bewegte sich auf einem immens hohen Energielevel, den Joint reichte ich ungeraucht weiter. Eine Liga der Gentlemen mit einer Frau, das hatte was. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft, schön laut, Disc 17 der Exposures Box, der Auftritt im Paradise Club in Boston vom 26. Juni 1980. Es fiepst und zischt.

 

Und wie es halt so Geschichte ist in den Gruppen von und mit Fripp – es geht es nicht ohne gruppendynamischen Stress ab. Fripp, der Eigensinnige, Fripp, der Disziplinfanatiker, Fripp, der Sarkast, Fripp, der Humorist, dessen Humor nicht jeder versteht. Mr. Toobad hatte eine Neigung zu Heroin, und reiste einmal vom europäischen Festland nach London und zurück, um sich den Stoff seines Vertrauens zu  besorgen – er wurde bald gefeuert und durch den talentierten Kevin Wilkinson ersetzt. Barry Andrews fühlte sich zeitweise wie in einem „Gurdjieff‘schen Sozialexperiment“, und Sara Lee behielt Lust und Nerven, immer, und sorgte mit ihrem Spiel für gute Erdung und grossen Anklang – die B52‘s nahmen sie alsbald mit Kusshand.

 

Dieses Quartett hatte auch einen Beat-Combo-Sound der frühen Sechziger, das liess sich nicht auf Punk und New Wave runterbrechen. All diese rauchgeschwängerten kleinen Clubs am Rande der grossen Städte und des Hinterlandes, die dieses Quartett beherbergten – da waren sie in ihrem Element, fraglos.

 

Der Surround-Mix zieht mich ins Zentrum der  Musik, die für mich damals wie heute etwas von dem Rumstreunen auf einer riesigen Kirmes meiner Kindheit in Dortmund-Hombruch hat: an jeder Ecke wird die Aufmerksamkeit eingefangen, beim Autoscooter, bei der Geisterbahn, bei der Zuckerwatte, bei jedem Geplärre aus einem Transistor, bei all den Kindergesichtern. Reines Staunen, schöner Krach, Twists und Turns. Für jede mögliche Zukunft von damals ein verrückter Sound im Hier und Jetzt. (Und mit diesem letzten Satz will  ich nur der guten alte Tante „Retrofuturismus“ aus dem Weg gehen.)

 


September 82.

We were lying on the grass, the heat was on,
the lightnin in the sky, Like A Hurricane,
Nils Lofgren was still so young. As  were you and me.
We were bloody everything, our faces east, our feet dancing,
Robert, Tony, Adrian, Bill. And they naturally played
Heartbeat – at  that moment,  night included,
eternity, too (the one in decay mode), the gloom of the moon
on your nakedness , in that odd old town hotel,
windows to the heavens,  i can still feel    
your heartbeat (in the song), and though everything
was loss later, pictures running on empty,
in circles through my mind, it doesn‘t matter.

Erstmals auf Vinyl, endlich, frisch gemasterte Audioaufnahmen und restauriertes Artwork. Seite 4 enthält gar eine Mondradierung. Wer die Musik hört, hält Schuberts  Winterreise für eine Butterfahrt mit Weihnachtskugeln. Aber der Reihe nach. Im Jahr 2003 reiste ich in das verschlafene Rentnerstädtchen Weston-super-Mare (nicht weit weg von Bristol und Portishead), und setzte bei der Stadteinfahrt, in der Dämmerung, meinen alten Toyota in einen Graben voller Matsch. Fuck! Unfreiwillig musste ich eine Woche in dem verschlafenen Ort bleiben, auf Ersatzteile warten – aber ich hatte Glück, zwei Musiker kennenzulernen, die sehr gastfreundlich waren, und womöglich die unheimlichste Musik Grossbritanniens fabrizierten.

Das Duo richtete sich in einem palastartigen Anwesen mit acht Schlafzimmern ein, um ihre kabbalistische Chemie weiter zu vertiefen. Mit Hilfe eines walisischen Multi-Instrumentalisten stiess das Duo noch tiefer in die Tiefen der surrealistischen Electronica vor, die als „Mondmusik“ bezeichnet wird – post-industrielle Zauberei auf der Achse von narkotischen und nächtlichen Energien. Not funny, you‘re right!

 

 

 

 

Was uns da erwartete, von diesen ausgewiesenen Freunden der Gruselgeschichten von H.P. Lovecraft, war eine aussergewöhnliche Geisterstunde aus schleichendem Acid-Sounddesign, Synthesizer-Reisen, opiumhaltigen Balladen, luziferischem Glitch und unterschwelligen Hymnen, die abwechselnd bedrohlich, orakelhaft und absurd waren. My goodness. Es gibt darin ein Spoken-Word-Experiment für windgepeitschte Leere, zudem einen luftigen Strudel aus kosmischen Synthesizern,  eine Übung in Trauerzug-Piano und berauschendem Wortspiel, während andere Stücke wie liturgisches Gemurmel auf dem Sterbebett lauern, eingerahmt von Granular-Effekten und flackerndem Kerzenlicht.

Die Formation hat auch eine komödiantische Seite, etwa eine Spieldosen-Halluzination: über einem verzerrten, wackeligen Beat entwickelt sich eine undurchsichtige Erzählung über Gelassenheit, den heiligen Petrus, und selbstmörderisches Gemüse, begleitet von einem spiralförmigen Cembalo und stotternden Elektronikquietschern. Holy moly. Es wird berichtet, dass sogar hartgesottene Fans von The Cure (gemeinhin gewohnt an Trübsal, Weltschmerz und Baudelaires „Blumen des Bösen“) reihenweise aus Live-Darbietungen dieser fantastischen Band geströmt sind, einfach, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben, und ein tiefes Caravaggio-Schwarz die helleren Zonen ihrer Empfindungsräume zu besetzen drohte.


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