Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

You are currently browsing the blog archives for the month April 2020.

Archives: April 2020

 

Ist noch nicht lange her, da fragte mich radiohoerer, ob er eine alte Sendung von mir noch einmal präsentieren könne. Ich sagte, gerne, aber ich hatte kaum eine Erinnerung an jene zwei Stunden der Osterausgabe der „Klanghorizonte“ von 2005, die sich  um „Soundtracks & das Kino im Kopf“ drehte. Er bat mich auch um eine kleine Einleitung, und mir fiel sofort ein Text aus den Tiefen des Blogs ein, der von meinen Erfahrungen mit Brian Enos Album „Music For Films“ erzählte. Erst danach habe ich die Sendung gehört, eine unverhoffte Begegnung mit einem jüngeren Ich. Und schmunzeln musste ich über den Auftaktsong: habe ich Jahrzehnte lang zu wenige Schlager aus Italien und Spanien gespielt, nachts im Radio? Das Lied ist ja umwerfend gut. Schnitt. Tage später liegt eine CD im Postkasten, die eine Interpretation eines alten Songs enthält, den Romy Schneider mit Michel Piccoli in Claude Sautets „Die Dinge des Lebens“ vorträgt. Das gute alte Wort „herzerweichend“ ist für das Chanson von Philippe Sarde erfunden worden. Es hätte auch gut in die Doppelstunde gepasst. Das Original, und die Interpretation. Auf dem Cover des Albums, das demnächst erscheinen wird, sieht man ein Auto, das wohl, statt auf einem Schrottgelände, an einem Waldrand, seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Manfred Eicher hat „Rivages“ von Jean-Louis Matinier und Kevin Seddiki 2018 in Lugano produziert. Es lohnt sich, darauf zu warten. Es lohnt sich auch, den alten französischen Spielfilm wiederzusehen. „Ce soir nous sommes septembre / Et j’ai fermé ma chambre …“ Das Leben endet immer mit einem Schachmatt, schrieb Jean Paul Sartre einmal, und dies hätte dem Film als Motto vorangestellt werden können. Sätze mit „immer“ und „nie“ sind mit Vorsicht zu geniessen. Aber trotzdem, nach der Musik, nach dem Film, und nach der ausgegrabenen Radiosendung, habe ich richtig Lust bekommen, wieder mit Sarah Bakewell im „Café der Existenzialisten“ abzuhängen. Natürlich mit dem bittersüssen Aprikosen-Cocktail. Ihr Buch ist im Beck-Verlag in einer vorzüglichen deutschen Übersetzung erschienen, schon vor längerer Zeit.

 

2020 4 Apr.

„Migration Stories“

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | Comments off

Eine Zeitlang, in einem Duo mit anderem Namen, hatte M. Ward die Lust verspürt, angenehm vergängliche Pop-Songs zu spielen, sie in grosser Zahl, mit einer sympathischen Frau an seiner Seite, aus dem Ärmel geschüttelt, alles für die Liegestühle, die Longdrinks, und die sonnige Seite der Strasse. Seine andere Seite war, wen überrascht es, schattiger, und eine nie die Jahreszeit wechselnde, herbstliche Melancholie ihr seltsam zeitloses Markenzeichen. Migration Stories erweitert die bewährte Palette nur dezent, ohne gleich Frühlingsgefühle wachzurufen. Er nennt seine neuen Songs „einen Sci-Fi-Schnellvorlauf zu einer ruhigeren Nacht viele Generationen von hier entfernt“, und das ist schon etwas gewagt. Denn mindestens zwei Stücke sind der Reise gewidmet, die seinen Grossvater vor hundert Jahre von Mexiko aus nach Texas führte. Normale Cowboylieder hat M. Ward ohnehin nie geschrieben, trotz der Liebe zum guten alten Onkel Twang. Einmal erzählte er mir am Telefon von seiner Begeisterung für eine späte Billie Holiday-Platte, „Lady in Satin“, die mit den vielen Streichinstrumenten. Während der Arrangeur Ray Ellis den Studiomusikern ihr bestes „late night-feeling“ abrang, trank die grosse Jazzsängerin Wodka wie Sprudelwasser. Das ist lange her und, zugegeben, eine andere traurige Geschichte. M. Ward bläst aber, und das ist die gelungene Paradoxie dieses neuen Albums, keinerlei Trübsal, er beschert uns, allen Verlustmeldungen zum Trotz, so was wie eine sanft betörende Gute-Laune-Platte der tiefer gehenden Sorte. Das heisst, die sog. joie de vivre springt einen nicht auf Anhieb an! Und wenn unser Spezialist für die Bestückung von Jukeboxen wieder nach Hörnum fahren darf, über den Hindenburgdamm, dann ist der Song Unreal City schon mal gesetzt. 

 

v i d e o

 

It’s important not to beat ourselves up. You don’t always have to do stuff. Or achieve stuff. You don’t have to spend your time wisely and productively. You don’t have to be doing tai chi and DIY and artisan bread-making. Sometimes you can just be and feel things and get through and survive. It’s OK to just exist. I want to write a new novel. But it is hard to know what to write as contemporary reality is melting in front of us. I must admit I have found it hard to get creative inspiration or to focus on cultural things, beyond Tiger King on Netflix.“

(Matt Haig)

 
 

Ozark (season 2 & 3) flow: 9.0 – dunkel,  verstörend, abgründig, eine Prise schwarzer Humor,  und tief – exzellent auch der Soundtrack! Entdeckung: Only You Know (by Dion, s. 3, ep. 8, last scene)

 

Unorthodox (1) flow: 8.6 – anrührend, erschütternd; schreckliche, gebrochene, und wundervolle Typen!

 

Dare Me (1) flow: 8.4 – etwas auf Effekt gedreht, aber doch mitreissend. Oder werde ich alt, dass ich mich nun schon von Cheerleadern beeindrucken lasse?

 

The Mire (1) flow: 8.3 – Polen in den Achtziger Jahren. Am Anfang denkt man, wie ein alter Tatort mit verkrachten Ermittlern, dann wird es eine richtig gute Serie.

 

Sunderland til I die (1&2)  flow: 8.3 – „maybe the best thing it does is center the experience of people who love a football club whose modern history has been largely defined by crisis, dysfunction, and imminent misery.“

 

2020 3 Apr.

Unorthodox

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 1 Comment

Gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen, seien sie bereichernder oder ernüchternder Natur, oder beides gleichermassen, konkurrieren stets mit verbliebenen Leerstellen des Unwissens, die pures Gold wert sind. Als Duo bilden sie ein osmotisches Gleichgewicht, das sklerotischen Stillstand ebenso verhindert wie den Dünkel des Alles-Wissens und wie gehabt den Eintritt in die Sondervorstellung namens „Neugier“ sichert. Nicht, dass es, wie die Herren Philosophen Sloterdijk und Heinrichs in dem Buch Die Sonne und der Tod verkündeten, zu jenem Unglück kommt, man habe sich schon in jungen Jahren „zu Schanden gelesen“. Dann wird aus Ziel kein Weg mehr. Ersetzen wir noch kurzerhand die Silbe „Gier“ durch „Lust“, nehmen auch das freie „Spiel“ mit in den Bund, schon stimmt die Sache. Da auch das Serienschauen in unserem gepflegten Hause stets und strikt dem Lustprinzip die Ehre erweist, in dem der sogenannte Flow-Effekt Orientierung bietet, war es jüngst ein Satz aus einer Online-Rezension, die den entscheidenden Funken bot. Das suchende Interesse zündete an diesem kurzen Satz nur: „Dieser Film beflügelt.“ Auf denn, du junger Wandersmann, im Lande Netflix wird Unorthodox als Mini-Serie wohlfeil angeboten, und so streamte man wieder, was das Zeug hielt, alle An- und Abstandsregeln wurden dabei eingehalten. Erzählt wird von einer jungen Jüdin, die aus ihrem strikten, repressiven religiösen Milieu des erz-orthodoxen Judentums im New Yorker Stadtteil Williamsburg flieht, zu ihrer Mutter nach Berlin, weil sie dem Druck der Ehe in diesen Kreisen nicht mehr standhält. Zudem gehört die zarte junge Frau zu den Naturen, deren Lebenslust, Neugier und Widerspruchsgeist sich nur ungern in die Schranken weisen lässt. Das ist fantastisch gut erzählt, lehnt an einen Roman von Deborah Feldmann an, wird fast ausschliesslich von jüdischen Schauspielern gespielt, auch viele Laien sind dabei, das merkt man aber nicht. Man gewinnt einen intimen, authentischen Eindruck in diese befremdlich interessante Welt des orthodoxen Judentums. Den Kontrapunkt bildet ein utopischer, idyllischer, freiheitlicher Ort namens Berlin. Are you serious? Na klar, im Film ist alles möglich. Zu viel soll nicht verraten werden, die Serie begeistert und berauscht geradezu. Oder, wie die Online-Rezension im Vorfeld zu Recht unkte: er beflügelt.

 

Es ist eine einmalige Edition, die einem modernen Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur bevorsteht. Noch im Laufe seiner Arbeit an einem für manche Kritiker eher einfältigen Werk,  Die linkshändige Frau (Marcel Reich-Ranicki war gnadenlos im Literarischen Quartett seinerzeit), änderte sich die Schreibrichtung des Meisters: ab November 1975 begann Peter Handke in seinen Notizbüchern zu einer »Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen« zu wechseln. Ein schrittweises Abgehen von einem bis zu diesem Zeitpunkt praktizierten thematischen, werkorientierten Notieren. Diesen Übergang bezeichnete Handke in der Vornotiz zu Das Gewicht der Welt, in der er die Entwicklung des ersten Journalprojekts erklärt, als »Befreiung von gegebenen literarischen Formen und […] Freiheit in einer mir bis dahin unbekannten literarischen Möglichkeit«. Nun soll zu Sommeranfang eine reich bebilderte Edition (zum Teil mit nie erblickten Zeichnungen des Autors) dieses Klassikers „schwebend-sinnlicher Momente wahrer Empfindungen“ (Gregor Heinzel) zusammen mit einer fünfbändigen CD-Box veröffentlicht werden, die das Lesetempo verlangsamen – und eine Art  „ambient reading experience“ ermöglichen soll, wie jüngst bei einer deutsch-englischen Zoom-Konferenz verlautete. Eine vollständige Tracklist liegt noch nicht vor, aber es sollen Stücke dabei sein von den Butthole Surfers, Paul Anka, The Troggs, Air, Michel Polnaref, Zarah Leander, Popol Vuh, Harfenmusik aus der Provence, Peter Thomas, Lee Marvin, Paul Young, Abi und Esther Ofarim, Freddy Quinn, Karel Gott, Hans Zimmer, Andreas Vollenweider, dem Appenzeller Spaceschöttel, den Regensburger Domspatzen, sowie Max Richter und einer neu abgemischten Version seiner vergleichsweise weichgespülten Yoga- und Einschlafmusik „Sleep“. Ein fulminantes Projekt, dem auch Handke-Kritiker verlegerischen Mut attestieren. „Ein gute Mischung aus Leichtem und Profundem,“ so eine Verlagsangetellte, „möge in diesen Zeiten die  Bürde des Alltags erleichtern, und es ermöglichen, mit dem mitunter völlig unangemessen elitär rüberkommenden Autor zu chillen.“ Als bei der Videokonferenz Kritik an der Auswahl aufkam, und man mehr musikalische Schwergewichte wie Scott Walker, Brian Eno, Jon Hassell und Arvo Pärt ins Feld führte, reagierte ein Verlagslektor mit einem freundlichen Lächeln in die Runde: „Why so serious?

2020 1 Apr.

„Murder Most Foul“

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 3 Comments

 

In Dylans Erzählung werden kleinste Details beleuchtet. Er setzt uns in diese Limousine, bevor die Schüsse fielen, während des Attentats, und auf der sechs Meilen langen Fahrt zum Parkland-Krankenhaus. Vizepräsident Lyndon Johnson  wird am Nachmittag um 14.38 Uhr als Präsident vereidigt. Es ist damals wie heute erschütternd, wenn die Verse erklingen: „Ich sagte, die Seele einer Nation wurde weggerissen / Und sie beginnt langsam zu zerfallen / Und dass es 36 Stunden nach dem Jüngsten Tag ist.“

Es sei an dieser Stelle daran erinnert, was gestern in der Zeitung zu lesen war, dass der jetzige amerikanische Präsident, der es schafft, in seiner erbärmlichen Regentschaft eine demokratische Struktur nach der anderen zu schwächen und zu vernichten, die besten Umfragewerte seit langem hat: ein bekannter Reflex grassierender Dummheit, sich in Krisenzeiten hinter der Projektion einer „starken Figur“ zu versammeln.

Was für eine Tragödie, dass er im November aller Wahrscheinlichkeit nach auf weitere vier Jahre im Amt bestätigt werden wird. Gut, dass es immer noch die Unbequemen gibt: Bob Dylans Song „Murder Most Foul“ bestätigt einmal mehr seine Kunst, völlig aus der Zeit zu fallen, und genau dort anzukommen, wo alles Lebende und Sterbende zusammenkommt, „in the here and now“.

 


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz