Gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen, seien sie bereichernder oder ernüchternder Natur, oder beides gleichermassen, konkurrieren stets mit verbliebenen Leerstellen des Unwissens, die pures Gold wert sind. Als Duo bilden sie ein osmotisches Gleichgewicht, das sklerotischen Stillstand ebenso verhindert wie den Dünkel des Alles-Wissens und wie gehabt den Eintritt in die Sondervorstellung namens „Neugier“ sichert. Nicht, dass es, wie die Herren Philosophen Sloterdijk und Heinrichs in dem Buch Die Sonne und der Tod verkündeten, zu jenem Unglück kommt, man habe sich schon in jungen Jahren „zu Schanden gelesen“. Dann wird aus Ziel kein Weg mehr. Ersetzen wir noch kurzerhand die Silbe „Gier“ durch „Lust“, nehmen auch das freie „Spiel“ mit in den Bund, schon stimmt die Sache. Da auch das Serienschauen in unserem gepflegten Hause stets und strikt dem Lustprinzip die Ehre erweist, in dem der sogenannte Flow-Effekt Orientierung bietet, war es jüngst ein Satz aus einer Online-Rezension, die den entscheidenden Funken bot. Das suchende Interesse zündete an diesem kurzen Satz nur: „Dieser Film beflügelt.“ Auf denn, du junger Wandersmann, im Lande Netflix wird Unorthodox als Mini-Serie wohlfeil angeboten, und so streamte man wieder, was das Zeug hielt, alle An- und Abstandsregeln wurden dabei eingehalten. Erzählt wird von einer jungen Jüdin, die aus ihrem strikten, repressiven religiösen Milieu des erz-orthodoxen Judentums im New Yorker Stadtteil Williamsburg flieht, zu ihrer Mutter nach Berlin, weil sie dem Druck der Ehe in diesen Kreisen nicht mehr standhält. Zudem gehört die zarte junge Frau zu den Naturen, deren Lebenslust, Neugier und Widerspruchsgeist sich nur ungern in die Schranken weisen lässt. Das ist fantastisch gut erzählt, lehnt an einen Roman von Deborah Feldmann an, wird fast ausschliesslich von jüdischen Schauspielern gespielt, auch viele Laien sind dabei, das merkt man aber nicht. Man gewinnt einen intimen, authentischen Eindruck in diese befremdlich interessante Welt des orthodoxen Judentums. Den Kontrapunkt bildet ein utopischer, idyllischer, freiheitlicher Ort namens Berlin. Are you serious? Na klar, im Film ist alles möglich. Zu viel soll nicht verraten werden, die Serie begeistert und berauscht geradezu. Oder, wie die Online-Rezension im Vorfeld zu Recht unkte: er beflügelt.
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Michael Engelbrecht:
Und UNORTHODOX ist sehr bewegend. Eine ganz und gar fesselnde Mini-Serie in vier Teilen. Das Sektiererische dieses orthodoxen Judentums erscheint mit nicht weniger krank wie die Ideologien der Zeugen Jehovas, die dumme Arroganz von Scientology und TM. Und fundamentalistische, Menschen brechende Strömungen gibt es bei Evangelen und Katholen auch. Interessant würde ich diesen spinnerten Zirkus nicht nennen. Und skurril auch nicht, da würde er gefährlich verniedlicht.