Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

You are currently browsing the blog archives for the tag ‘Philosophica’.

Archives: Philosophica

 
 


 
 
 

Auf dem Büchertisch im Carrefour Market zufällig gesehen. Ich hatte eigentlich nach einem Taschenkalender gesucht, aber Kalender gab es nicht.

 

2023 9 Jun

Ein Buch mit Kraft

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  34 Comments

 

 

„Man kann jedoch seine Gedanken nicht aufmerksam und ohne jede Wertung dabei beobachten, wie sie auftauchen und wieder verschwinden, wenn man nicht bereit ist, sich dann auch auf radikal ehrliche Weise dem zuzuwenden, was man schrittweise zu sehen beginnen wird: die leidvolle Ruhelosigkeit des eigenen Geistes; die eigenen Gewaltfantasien; den Neid und das Bedürfnis nach Vergeltung; die Langeweile und die Gekränktheit; die subtilen Grundgefühle von existenzieller Einsamkeit, innerer Leere und Verzweiflung.“

Thomas Metzinger, Bewusstseinskultur

 

Der Philosoph und Kognitionsforscher Thomas Metzinger ist ein interessanter Autor, der viel Erfahrung hat mit meditativen Praktiken und dem sachgemäßen Ausprobieren einer Vielzahl von bewusstseinserweiternden Substanzen, die er einer kritischen und letztlich Abstand nehmenden Betrachtung unterzieht. Er verbindet innere Schau mit politischem Engagement, indem er beispielsweise „intellektuelle Redlichkeit“ einfordert hinsichtlich der durch unseren Lebenstil verursachten drohenden Klimakatastrophe: die Zeit des Optimismus sei vorbei. Ich musste schmunzeln, als er in einem Gespräch auf die provokante Frage (angesichts seiner offensichtlich agnostischen Grundhaltung), ob er Hoffnung habe, Krishnamurti zitierte mit den Worten, Hoffnung sei ihre eigene Hölle. Ich erinnere mich an eine tiefere Meditationserfahrung auf einem Sufi-Camp Mitte der Achtziger Jahre. Mir fiel damals auf, dass mein Geist sich störend an Dinge und Projekte heftete, die aus einer gefühlt unvollkommenen Gegenwart hinaus in einer projizierten Zukunft Identität, Verwirklichung und Erfüllung bringen sollten. Nach dem Motto: „Ja, wenn ich erst den neuen Fitness-Tracker habe, dann fange ich an zu laufen“.

 

2022 16 Feb

Idiot und Antidot

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: , 8 Comments

 

Lange vor Corona schon und der schleichenden Invasion durch Aluhüte, Querdenker und Verschwörungstheoretiker jeglicher Coleur, tauchte in der Bevölkerung ein allgemeines Unbehagen angesichts der Bevormundung durch öffentliche Medien auf, von dem auch unsereins sich affiziert sah. Es ging schlichtweg um die Erkenntnis, dass Berichterstattung selten objektiv ist, hingegen meist an Einflussnahme gross. Auch stellte man eine Anpassung persönlicher Äusserungen an die sogenannte political correctness oder social correctness fest. Man konnte allerdings einem Claus Kleber vom Heute-Jounal, Stefan Aust von der Welt oder einer Grünen-freundlichen Taz-Literatur sowenig vorwerfen, dass sie beeinflussen, wie einem Lebewesen, dass es atmet oder anderweitig oszilliert. Hier waltet immer noch das selbstregulative Kritik- und Konterwesen, in Anlehnung an Kants Kritik der eigenen Urteilskraft. Auch Skeptiker erheben hier das Wort: „Ich glaube erstmal gar nichts!“ Ganz ähnlich fand sich auch in der deutschen Tatort-Landschaft zuweilen dieses Unbehagen, kam man sich als Fernsehzuschauer oft vor wie im Sozialkundeunterricht. Was auch öffentlich-rechtliche Drehbuchautoren mühsam lernen mussten: der Zuschauer ist kein unmündiges Kind oder Sektenmitglied, dem man Botschaften einimpft. Amerikanische Serien waren für unsereins ein stark wirksames, pädagogikfreies Antidot gegen diese Art der Idiotie, denn sie vermittelten Traum- und Realitätsstoff frei von Belehrung. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wirken sie bis heute: in tausend und einer Bingewatch-Nacht.

 

1  „a rainy day in bankok“  

2  „fearless“ (covered from taylor swift)

3  „mahavishnu folk“

 

 

Ein ganz normaler Tag im Paradies begann damit, dass man sich zunächst happy fühlte, weil man frühmorgens in der Zeitung las, dass just jener Impstoff, den man wählte, zuverlässig vor Delta schütze. Ein Gewitter wurde angekündigt und so schnappte man sich schnell das Fahrrad, um auch in sportlichen Belangen noch die notwendige Dosis zu erlangen. In schwül-hitziger Luft durch die Stadt radeln zählt unsereins zur Kategorie „Glückserleben“. Rast gemacht an einem meiner Lieblingsplätze, schillerte die Graffiti rundum – auf Mauer, Bänken und Häuserwänden – so subtropisch farbintensiv, dass ich wieder einmal bedauerte: „Damned, you miss the camera!“ Ich denke tatsächlich oft auf Englisch und möchte in diesem Kontext gleich mal nebenbei die siebte und finale Staffel von Bosch erwähnen. Dringend sei empfohlen, sie keinesfalls mit deutschen, sondern mit englischen Untertiteln zu geniessen, ansonsten versteht man weder Wort noch Sinn – dann aber wird es grandios. Weiter im Text: der Tatbestand der vergessenen Kamera liess mich dann auch gleich erneut über das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit nachsinnen, wie es ja schon Dietmar Kamper oft thematisierte: „Ohne Körper geht es nicht“. Wobei zum Körpererleben ich auch das Atmosphärische zähle: auch dieses lässt sich nur bedingt durch Bilder repräsentieren. Das mag auch ein Grund sein, noch die beste Fernsehserie skeptisch zu betrachten, weil es eben nicht die Wirklichkeit ist. Wieder zuhause, fing es an zu regnen, und ich fand den Mut, mein musikalisches Equipment anzuschliessen. Das ist immer ein zeitfressendes Wagnis, denn, wie Peter Sloterdijk treffend feststellte: „Musik ist dämonisches Gebiet.“ So und nicht anders kann ich es erklären, wenn man nach sechs Stunden am Stück immer noch nicht aufhören will. Gut, Ben Monder übte bis zu sechzehn Stunden, so die Sage. Jedesmal aber fallen mir zwei Dinge auf. Das Erlebnis des Spielens ist wesentlich intensiver als dessen Repräsentation, will sagen: die Aufnahme. Hinzu kommt das Reinhören, Aussortieren, Reflektieren. Zum anderen wird einem bewusst, wie wichtig doch die Gabe wäre, Details in Noten festzuhalten, um Struktur zu bilden. Mir fällt jedenfalls auf, dass die meisten Jazzmusiker, zumindest stellenweise, aufs Notenblatt fixiert sind, wenn sie spielen. Nun war es wieder Abend geworden nach gefühlten dreissig Minuten und tatsächlich vergangenen sechs Stunden. Eigentlich geplante Aktivitäten wurden auf den nächsten Tag verschoben. Bei einem zufällig entdeckten Vortrag über Schopenhauer fühlte man sich spät noch gut aufgehoben: nach dem homegrown folgte tröstlich ein homecoming. Wieder einmal bot die Philosophie ein unerlässliches Gegengewicht.

 

2019 31 Okt

Die passende Lektüre

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  Comments off

Das Alltagsleben durchschnittlicher spätmoderner Subjekte in den Zonen, die der sogenannten »entwickelten westlichen« Welt zugerechnet werden, konzentriert sich und erschöpft sich mehr und mehr in der Abarbeitung von explodierenden To-do-Listen, und die Einträge auf dieser Liste bilden die Aggressionspunkte, als die uns die Welt begegnet: der Einkauf, der Anruf bei der pflegebedürftigen Tante, der Arztbesuch, die Arbeit, die Geburtstagsfeier, der Yogakurs: erledigen, besorgen, wegschaffen, meistern, lösen, absolvieren.

(H. Rosa, Unverfügbarkeit)

 

Es gab eine Zeit, da war das Thema „Beschleunigung“ in aller Munde und stand auf Tages-Ordnungen von Soziologen, die etwas auf sich hielten. Warum auch nicht? Gab es nicht zu jeder Epoche ihr passendes phänotypisches Verdachtsmoment, quasi als zwillingshafter Urbegleiter, um mit Sloterdijk zu sprechen? Paul Virilio („Geschindigkeit“) kommt mir in den Sinn oder Helga Novotny mit ihrem Buch Eigenzeit. Ging es dabei nicht immer auch um Entfremdung und um das Unbehagen in der Kultur? Des einen Marx ist des anderen Freud. Die Kritik an Auswüchsen des preußisch-protestantischen Arbeitsethos hat sich heute allerdings gründlich gewandelt und andere Schwerpunkte treten in den Vordergrund. Autoren wie Byung-Chul Han behandeln sie, oder Hartmut Rosa in seinem hitverdächtigen „Resonanz“- Buch, das ganz oben steht auf meiner To-do Liste abzuarbeitender literarischer Verlockungen. Nun aber zunächst dessen vermeintliche „Kurzfassung“ Unverfügbarkeit, die ich mir ausnahmsweise mal als E-Book besorgte. Da fehlt doch entschieden das sinnlich Haptische und mit Bleistift ankreuzen kann man hier auch nichts! Wie gesagt, jede Zeit hat ihre wunderlichen Wunden.

 

Eine Verbindung zwischen Philosophie und Fernsehen lässt sich leicht finden. Gerne denke ich an jene Nächte, in denen Dingens und ich bei Vollmond, begleitet von einem Hund namens Tiger, stundenlang am Fluss entlangliefen und etwa über die Gäste von Talkshows sinnierten, hinsichtlich der lebensphilosophischen Relevanz des Gesagten und angesichts jener durch äussere oder innere Stimmen geäusserten Forderung: Du musst dein Leben ändern! Ein anderer Kumpel früherer Tage war da eher Freund der schnellen Lösungen: „Ein Loch ist im Eimer, Karl-Henry? Dann flicke es!“. Aber pure Verhaltenstherapie nach der Methode Hast du Angst vor einer Brücke dann spring von ihr hinunter war unsereins ja schon immer suspekt. Das Interesse an Philosophie war und ist auch begründet in dem Verdacht (Boris Groys), dass es etwas zu wissen gibt, das sich zu wissen lohnt und sich abhebt vom Grundlagengepauke jeder noch so guten Schulbildung, vielmehr initiiert ist durch Neugier und eigene Fragestellungen. Kontraproduktive Überbleibsel schwarzer Pädagogik finden sich ja heute noch zuhauf. Auch Phänomene des Zeiterlebens waren immer von Interesse: Paul Virilio etwa und seine Gedanken über „Geschwindigkeit“, die ihren aktualisierten Fortgang finden etwa in Hartmut Rosas Begriffen der Resonanz und Unverfügbarkeit. Ein anderer, Bernard Stiegler, zählt zu den „gefährlichen“ Denkern. Nicht, weil er einst als inhaftierter Bankräuber zur Philosophie fand (siehe sein Essay Zum Akt, erschienen bei Merve), sondern weil er glaubhaft darstellt, was uns alle heutzutage tendenziell zu digitalen Zombies werden lässt. Er schreibt in seinem Buch Logik der Sorge: „Die Retention ist die Grundlage jedes Sorge-Systems, das stets ein Lernsystem ist, durch das sich Aufmerksamkeit entwickelt. Lernen bedeutet etwas behalten, lateinisch retenire.“ Mit anderen Worten: darf es bitte etwas mehr sein als das Zappen durch Kanäle und das Wischen auf der Screen? Fernsehserien sind hier aber nicht nur Stoff, aus dem die Träume sind, die uns wehrlos überfluten (Stieglers „pharmaka“), sondern vielmehr Fundgrube für Identifikationen, Empathien, Leitbildspiegelungen und biografische Parallelen. Und sie sind Objekte des Rückbezugs: der Retention. Da man sie nicht ins Regal stellen kann wie Bücher, die man schnell zur Hand hat, um das mit Bleistift Angekreuzte aufzufinden, führt man eben Listen und erinnert sich auf diesem Weg an seine televisionär zurückgelegten Strecken und Terrains. Hier wird dann die eigene Einbildungskraft revitalisiert, zudem das Gedächtnis geschult. Man ist dann mehr als blosser Konsument von kulturellen Inhalten. Denn was hilfts: die Tage der Gutenberg-Ära sind lange gezählt und man muss sich anderweitig zu behelfen wissen. „Seit Jahren nervte mich dieser klappernde Hinterbauständer am Fahrrad. Heute habe ich endlich einen Neuen montiert. Herrliche Stille nun!“ Well done, Karl-Henry. Es leben die Aufmerksamkeitstechniken!

Das literarische Vermögen, über einfache Alltagsangelegenheiten auf interessante Weise zu schreiben, schätze ich sehr. Desweiteren auch die Fähigkeit, die negativen Aspekte des Lebens herauszustellen: die Schwierigkeit des Seins zu schildern, vom Nachteil des Geborenseins zu reden, das Unbehagen an der Kultur nicht vorschnell untergraben, das Falsche im wahren Leben zu entlarven, den Schimmelpilz mit Namen Menschheit zu verachten, die Ausbeutung der Natur anprangern, die Missachtung des Tierwohls anklagen, den Riss zwischen Trieb und Vernunft zu beachten. Kurzum: den Kritiker und Skeptiker in uns zu pflegen. Dies war einst starker Impuls hinsichtlich der Neugier an einer Philosophie, die sich als erbaulicher Schulstoff wenig eignet. Bei Schopenhauer und Cioran liess es sich finden oder dem wenig bekannten, einst sehr geschätzten Soziologen Dietmar Kamper. Der kürzlich verstorbene Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino war auch hilfreich. Witzig, präzise beobachtend, dabei besänftigend öffnete er Räume. The doors of perception. Die Schriftstellerin Sibylle Berg, ein schärferes Kaliber: schonungslos, als radikal gegenspirituelle Randfrau unverzichtbar. The lady is a punk. In Tuchfühlung bleiben mit den Dunkelwelten, nicht nur die wohlgefärbten Erinnerungen pflegen. Der Wiederkehr des Verdrängten Vorschub leisten, indem man gar nicht erst verdrängt. Permanentes Hintergrundgrummeln, so nannte es ein Malerfreund, dessen witzig provokante Bilder für mich immer ein Stück Heimat waren. Momentaufnahmen des Abgrunds, die Blumen des Bösen, Paraden der Peinlichkeit, die Sprache des Unbewussten. Sehe ich so manches Foto von mir aus der Jugend, graust es mich: „Das war ich? Nichts wie weg!“ Glücklich sind jene, die sich selbst toll finden. Genazino und der genannte Dietmar Kamper zählen zu denen, die halfen, unbehagliche Selbst- und Weltfremdheiten auszuloten: der eine bot den „Regenschirm für diesen Tag“, der andere würdigte die Einbildungskraft und verteidigte das Körperliche (Kamper war einst Sportler) gegen vorschnelle und vorlaute Vergeistigungen. Er sagte es einst treffend: „Das Leben lebt nicht, man muss ihm helfen – das nannte man früher Magie.“ Zum Abschluss dieser rückschauenden Reflexion ein Satz aus dem Buch Gedanken ohne Denker, das auch vom Buddhismus handelt. Sein Autor lässt eine Klientin zum Ende ihrer Psychoanalyse hin sagen: „Gott gibt es nicht und die Familie gibt es auch nicht.“

2018 25 Aug

Pirsig reloaded

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: , , 1 Comment

 

 
 

Die Dinge, die wir am besten kennen, sind jene, mit denen wir uns in beständiger Praxis auseinandersetzen. Von Heidegger stammt die berühmte Feststellung, dass wir einen Hammer nicht begreifen, indem wir ihn anstarren, sondern indem wir ihn in die Hand nehmen und mit ihm hämmern.

(Matthew B. Crawford)

 

Dass man den Robert M. Pirsig nun endlich ruhen lassen möge mitsamt allem Zen und der Kunst, ein Motorrad zu warten, hörte ich desöfteren von intelligenten Zeitgenossen. Aber der Wille trotzt: das Ich ist nicht Herr im Haus des Cogito und so wünscht der reflexive Verstand, der immer wieder gerne auf richtungsweisende Einflussnahmen der Vergangenheit zurückgreift, dass jenes geniale Buch über Philosophie, Selbstsuche und die phänomenologische Definition von Qualität regelmässig auferstehe im Geiste. Es ist nämlich so, dass jene aufgezeigte Dichotonomie von romantischer und klassischer Weltanschauung immer noch brandaktuell ist, beispielsweise hinsichtlich eines denkwürdigen Wechselspiels von Betrachtung und Operation. In dem Moment, wo man zu handeln beginnt („Handwerk“), ändert sich nämlich jene Sichtweise, die etwas als absolut, gegeben, unverrückbar und unantastbar annimmt. Ich kann einen störenden Fleck auf der Tapete ewiglang ehrfurchtsvoll anschauen, doch eines fernen Tages dann im Jahre 2084 putze ich ihn einfach weg.

 

2017 4 Okt

The handy Han

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  3 Comments

Zugegeben: ich lese immer wieder gerne den Autoren Byung-Chul Han, würde ihn als einen Leib- und Magenphilosophen bezeichnen. Einst las ich die Safranski-Biografie über das Leben Martin Heideggers und neulich gerade sah ich einen Film über Friedrich Nietzsche und seine durchtriebene Nazischwester auf Arte. Viele Philosophen, die mir etwas sagen, deuten in gewisser Weise auf eine „Eigentlichkeit“ (ein Begriff, den längst nicht nur Heidegger für sich in Anspruch nehmen darf) hin, die in Verbindung steht mit kontemplativer Lebensweise und „Selbstfindung“. Wen wundert es, ist doch die Abstandnahme eine hervorragende Technik – man könnte fast von der Gnade sprechen, in der einem etwas zufällt: zufälligerweise, selten gewollt. Man kann es erahnen: das Reh in der Lichtung, the skinnerfree rabbit, weit weg von Psychopathen, malignen Narzissten oder liebestollen Goldmündern. Dort findet man Stille, Gewahrsein und Frieden, abseits auch von moralsaurer Frömmigkeit. Zurück zu Han: habe ich einen Termin, etwa beim Zahnarzt, nehme ich ein paar Zeilen von ihm mit, zur Sicherheit, falls da keine Lektüren liegen. Die Zeilen sind vorzugsweise vom Matthes & Seitz Verlag gebündelt, praktisch im Taschenformat, als da sind erschienen: Transzendenzgesellschaft, Agonie des Eros, Im Schwarm und andere. Aber auch der im Transcriptverlag erschienene Essay zur Kunst des Verweilens, betitelt Duft der Zeit, beinhaltet gedankliche Perlen. Ich schlage eine Seite auf, wie so oft zufällig, lese ein paar Zeilen, bei denen ich dann eine Zeitlang bleibe, ohne Eile, ohne Laptop, ohne ebook mit drohend sich leerendem Akku – nur Bleistiftstriche hier und dort zeugen von einer interessierten Offline-Gegenwart:

 

„Ein weiteres Problem hinsichtlich des Sterbens heute besteht in einer radikalen Vereinzelung und Atomisierung des Lebens, die dies noch endlicher werden lässt. Das Leben verliert immer mehr an Weite, die ihm Dauer verleihen würde. Es enthält in sich wenig Welt. Diese Atomisierung des Lebens macht es radikal sterblich. Es ist vor allem diese besondere Sterblichkeit, die eine allgemeine Unruhe und Hektik hervorruft. Beim flüchtigen Hinsehen mag diese Nervosität den Eindruck erwecken, alles beschleunige sich. Aber in Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine wirkliche Beschleunigung des Lebens. Nur hektischer, unübersichtlicher und richtungsloser ist das Leben geworden.“

(Kapitel „Un-Zeit“, Seite 17)

 
 

 
 
 

more… »

2016 12 Aug

Verwickelt

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: , 2 Comments

Als Gilles Deleuze und Félix Guattari einst den Anti-Ödipus ins Leben riefen, entstand damit eine Art Gegenfigur zu jenem Helden aus griechischem Mythos, der seinen Vater tötete und die eigene Mutter heiratete. Ein Begriff, der in dem Buch mit dem Untertitel Kapitalismus und Schizophrenie immer wieder gebraucht wurde, lautete „Die Wunschmaschinen“.

Was genau das sei, habe ich nie so ganz verstanden, wie Vieles aus den Denkerwelten Jacques Lacans oder Jean Baudrillards. Ehrwürdige Mitstreiter am Rande der Scharlatanerie, wenn es darum ging, sprachlich überkonstruierte Unverständlichkeiten zu erschaffen: Dickicht und Gestrüpp, in dem der Leser sich verfangen konnte oder aber intellektuelle Zuflucht fand. Lag es am Französisch, das unsereins ja leider nie richtig lernte? Animierte nicht so manche Sprachmelodie auch zu einem linguistischen l´art pour l´art: zum Palaver? So wie das brasilianische Portugiesisch zum Bossa Nova inspirierte? Outras palavras.

Man könnte meinen, ausgewiefte Exegeten wie beispielsweise Slavoj Zizek böten nun Gebrauchsanweisung und Klempnerdienst an für derlei komplizierte Theorien. Doch weit gefehlt, der slowenische Philosoph treibt ein sehr unterhaltsames, jedoch vermaledeites Spiel, immer mit dem Schalk im Nacken: er setzt den Hasen auf die Fährte, hält ihm die begehrenswerte Möhre vor die Nase und der ist doch am Ende nur genaseweisst und ausser Atem. „Ick bün al dor!“, grinst Rabbitskinner Zizek auf gut plattdeutsch und hält statt der Lösung nur deren dialektischen Kontrapunkt hin. Anstelle kognitiven Landgewinns wieder nur das stets entkräftende Gegenargument: ewiges Vexierspiel.

Zurück noch einmal kurz zu den mythischen Anfängen: ein „Anti-Narziß“ wurde meines Wissens nie geschrieben, auch wenn Peter Sloterdijk („Er schon wieder!“) in seinem Buch Zorn und Zeit darauf hinweist, man könne Ödipus und Narziß jetzt mal getrost vergessen. Sie seien längst diskreditiert als unverbesserliche Idioten, die den Schuss noch nicht hörten. So meinte es wohl einst auch eine Freundin: immer wenn ein Verehrer sich als Möchtegern-Napoleon aufspielte, nach dem bekannten Motto Ja-wie-toll-bin-ich-denn!, entgegnete sie spröde, er sei doch nur vom Wickeltisch gefallen.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz