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2019 14 Apr

Television, Retention, Aktion

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags: , , 3 Comments

Eine Verbindung zwischen Philosophie und Fernsehen lässt sich leicht finden. Gerne denke ich an jene Nächte, in denen Dingens und ich bei Vollmond, begleitet von einem Hund namens Tiger, stundenlang am Fluss entlangliefen und etwa über die Gäste von Talkshows sinnierten, hinsichtlich der lebensphilosophischen Relevanz des Gesagten und angesichts jener durch äussere oder innere Stimmen geäusserten Forderung: Du musst dein Leben ändern! Ein anderer Kumpel früherer Tage war da eher Freund der schnellen Lösungen: „Ein Loch ist im Eimer, Karl-Henry? Dann flicke es!“. Aber pure Verhaltenstherapie nach der Methode Hast du Angst vor einer Brücke dann spring von ihr hinunter war unsereins ja schon immer suspekt. Das Interesse an Philosophie war und ist auch begründet in dem Verdacht (Boris Groys), dass es etwas zu wissen gibt, das sich zu wissen lohnt und sich abhebt vom Grundlagengepauke jeder noch so guten Schulbildung, vielmehr initiiert ist durch Neugier und eigene Fragestellungen. Kontraproduktive Überbleibsel schwarzer Pädagogik finden sich ja heute noch zuhauf. Auch Phänomene des Zeiterlebens waren immer von Interesse: Paul Virilio etwa und seine Gedanken über „Geschwindigkeit“, die ihren aktualisierten Fortgang finden etwa in Hartmut Rosas Begriffen der Resonanz und Unverfügbarkeit. Ein anderer, Bernard Stiegler, zählt zu den „gefährlichen“ Denkern. Nicht, weil er einst als inhaftierter Bankräuber zur Philosophie fand (siehe sein Essay Zum Akt, erschienen bei Merve), sondern weil er glaubhaft darstellt, was uns alle heutzutage tendenziell zu digitalen Zombies werden lässt. Er schreibt in seinem Buch Logik der Sorge: „Die Retention ist die Grundlage jedes Sorge-Systems, das stets ein Lernsystem ist, durch das sich Aufmerksamkeit entwickelt. Lernen bedeutet etwas behalten, lateinisch retenire.“ Mit anderen Worten: darf es bitte etwas mehr sein als das Zappen durch Kanäle und das Wischen auf der Screen? Fernsehserien sind hier aber nicht nur Stoff, aus dem die Träume sind, die uns wehrlos überfluten (Stieglers „pharmaka“), sondern vielmehr Fundgrube für Identifikationen, Empathien, Leitbildspiegelungen und biografische Parallelen. Und sie sind Objekte des Rückbezugs: der Retention. Da man sie nicht ins Regal stellen kann wie Bücher, die man schnell zur Hand hat, um das mit Bleistift Angekreuzte aufzufinden, führt man eben Listen und erinnert sich auf diesem Weg an seine televisionär zurückgelegten Strecken und Terrains. Hier wird dann die eigene Einbildungskraft revitalisiert, zudem das Gedächtnis geschult. Man ist dann mehr als blosser Konsument von kulturellen Inhalten. Denn was hilfts: die Tage der Gutenberg-Ära sind lange gezählt und man muss sich anderweitig zu behelfen wissen. „Seit Jahren nervte mich dieser klappernde Hinterbauständer am Fahrrad. Heute habe ich endlich einen Neuen montiert. Herrliche Stille nun!“ Well done, Karl-Henry. Es leben die Aufmerksamkeitstechniken!

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3 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    That‘s a cool read.

    Wo will er denn hin, frage ich mich anfangs.

    In einer anderen Sprache würde ich zu den gleichen Resultaten gelangen.

    Long live the flow of deep parallels!

  2. Michael Engelbrecht:

    Die nöchste Serie kommt bestimmt, und nach einem Pilotfolgentest ist klar, es wird KINGDOM sein.

    „Zombies’ cultural moment may be deteriorating, just as vampires before them were finally exorcised from their ubiquitous place in pop culture, but the undead’s wane in movies and on TV allows for more detailed distinctions to be made between how these stories are told, thanks to a decade-plus of cultural saturation. With Netflix’s beautiful Kingdom and last year’s less beautiful Rampant—unconnected in production but shockingly similar in content, and both set during the Joseon dynasty—coming on the heels of great modern zombie films Train to Busan and its animated prequel, Seoul Station, South Korea may now be the world leader in stories of the living dead.“ (Paste)

  3. Martina Weber:

    Es ist so ein wunderbarer, vielschichtiger, intelligenter Text.

    Ich selbst bin noch deutlich mehr als du, Jochen, in der Gutenberg-Ära. Ich streiche in (eigenen) Büchern und Kopien mit verschiedenfarbigen Stiften herum, von meiner DVD-Sammlung ist zumindest die erste Reihe sichtbar in einem Regal, und mein Fahrrad ist frisch mit dem Wasserstrahler bei der Tankstelle abgeduscht, die Kette geölt.

    Und der Merve Verlag, kleiner Insiderjoke, winkt auch aus deinem avantgardistischen Essay zu uns herüber ;)


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