Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Author Archive:

zu Jean-Philippe Toussaint, „Das Badezimmer“, btb 2007 (Original: Paris 1985), 111 Seiten, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Joachim Unseld

 
 

 
 

Dem namenlosen Helden begegnen wir sogleich in der Badewanne: „Ich verlebte angenehme Stunden da“, heißt es, die Lebensgefährtin Edmondsson findet ihn „ausgeglichener“, die Mutter bringt Eclairs und schließlich kommt ein Brief von der österreichischen Botschaft, der wohl ein Irrtum sein müsse, befindet der Held, da er „weder Diplomaten noch Österreicher kenne“. Weil es aber „möglicherweise nicht sehr gesund (sei), im Alter von siebenundzwanzig, bald neunundzwanzig Jahren“ (ich lese mehrmals, aber es steht wirklich so da) „mehr oder weniger zurückgezogen in einer Badewanne zu leben“ müsse er „das Wagnis eingehen (…) die Seelenruhe (seines) abstrakten Lebens auf Spiel zu setzen“: Er verlässt die Badewanne.

In der übrigen Wohnung kann der Held aber nicht auf Ungestörtheit bauen: In der Küche harren zwei polnische Künstler aus, Edmondsson hat sie bestellt, um dort zu streichen, aber mangels Farbe (die Edmondsson offenbar nie vor hatte zu besorgen) häuten die beiden mitgebrachte Tintenfische.

Ein Umzug findet statt, aber es bleibt ungemütlich, ungeheizt, und es gibt nur einen einzigen warmen Pullover für den Helden und seine Freundin, der auch noch viel zu klein ist – dazu die Begegnung mit den Vormietern und auch der Besuch zur Wohnungs-Einweihung, die Toussaint in einer kühl-ironischen Haltung als eine Abfolge von Peinlich- und Zudringlichkeiten schildert.

So endet der erste von drei Teilen, das Buch ist in kürzere und längere, durchnummerierte Absätze gefasst. Zu Beginn des Mittelteils unternimmt der Held dann einen weiteren Versuch, seinen inneren Frieden wiederzufinden: „Ich war überstürzt aufgebrochen“.

Ich suche nach einem Hinweis, wohin die Reise führt – dieser zweite Abschnitt ist mit „die Hypotenuse“ betitelt – und reibe mir die Augen: Geht es hier um Mathematik? Um das Lösen einer komplexeren Aufgabe? Oder schlicht um die Sehnsucht nach der Emotionslosigkeit mathematischer Vorgänge – „einem abstrakten Leben“ – Meine Neugier und mein Spürsinn sind geweckt: Nach und nach stellt sich heraus, dass der Held nach Venedig gefahren ist, in ein Hotel, das Toussaint, als wollte er einen Museumsbesuch beschreiben, in karger Sprache als barocke Tableaus entfaltet. Was unser Held dort mit sich anfangen soll, bleibt ihm offenbar ebenso rätselhaft wie uns LeserInnen selbst, diesem Held, der sich schließlich im letzten Teil des Buches einer „Nebenhöhlenvereiterung im Anfangsstadium“ ergibt und in ein Krankenhaus reklamiert. Von wo aus er sich mit dem behandelnden Arzt anfreundet, der ihn zum Abendessen (Nieren) und Tennisspielen einlädt. Man könnte nun meinen, in diesem letzten Teil habe der Held seine Bestimmung gefunden, da er sich schon seit der Ankunft in Venedig nach einem Tennis-Match sehnt, so sehr, dass er sich unter anderem darüber mit seiner ihm nachgereisten Gefährten Edmondsson entzweit.

Edmondsson versucht, ihn dazu zu überreden, zu ihr nach Paris zurückzukehren – in ihrer Gegenwart profiliert sich unser scheuer Held am deutlichsten: Gegen ihre „ruhige Entschlossenheit“ kommt er nicht an, lässt sich von ihr durch die Stadt, die Museen, die Kirchen führen, statt dass sie mit ihm zum Tennisplatz käme, wo er sich doch schon in aller Früh, noch vor Öffnung des örtlichen Kaufhauses, um den Kauf von Bällen bemüht hat. Zum wiederholten Mal verführt sie ihn, und die auf der Bettdecke platzierte Schachtel fällt zu Boden: „alle Tennisbälle kullerten über das Parkett“, ein Sinnbild für den Helden, der immer wieder und bis zur Selbstverleugnung versucht, „ihr zu Gefallen zu sein“ – „Nein, sie hörte mir nicht zu“, heißt es wenig später, und: „Wir hatten uns alles gesagt, wir waren uns nicht einig. (…) Angesichts soviel bösen Willens blieb mir nichts mehr zu sagen: nein, ich sagte nichts mehr.“ Die Situation spitzt sich zu: Er bleibt auf dem Zimmer, tröstet sich mit einem Wurfspiel, im gleichen Kaufhaus erstanden, sie findet ihn „beklemmend“, bittet ihn aufzuhören: „Mit aller Kraft warf ich einen Pfeil, der in ihrer Stirn steckenblieb.“ Wenig später quält den Helden selbst „ein stechender Schmerz in der Stirn.“

Ist das wirklich so geschehen? Beim Lesen lässt mich das Gefühl nicht los, einem Tagtraum beizuwohnen, denn schließlich kehrt der Protagonist doch nach Paris zurück, in die Badewanne, in exakt gleichen Sätzen und Formulierungen, so dass man sich fragt: Hat er sie jemals verlassen?

Das schmale Bändchen hat mehrere Böden, Falltüren, durch die man von einer Symbolik zur nächster rutscht, wiederkehrend, von der Dame Blanche (Vanilleeis mit heißer Schokolade), die gleich zu Beginn auftaucht als „Kombination (…) der Vollkommenheit schlechthin“ bis zu Mondrian als Maler der „Bewegungslosigkeit“.

Ich staune angesichts der Bestimmtheit, mit der Toussaint seine Szenen entfaltet: Die Absurdität stört angesichts der subtil-eleganten Situationskomik kein bisschen, die geschilderten Unannehmlichkeiten erscheinen einem auf unheimliche Weise nur allzu bekannt: Hat man sie schon gehört? Irgendwo gelesen? Gar selbst erlebt und schnell im Gedächtnis vergraben?

Toussaint legt seinen Helden auf kein Gefühl fest – in welcher Bedrängnis er sich jedoch gerade befindet oder welche Neugier ihn umtreibt, erschließt sich geradezu natürlich, ergibt sich wie das Ergebnis einer Rechenaufgabe aus der Konstellation des Helden zu seiner Umgebung: Eine Mathematik des Hingeworfenseins? Ist hier auch das fehlende achtundzwanzigste Jahr „aufzufinden“, ein verbotenerweise ausgestrichenes Jahr, ein nach Möglichkeit verdrängtes?

Leidenschaft entfalten beim Helden Spiel und Sport: Intensiv fiebert er beim Fußballmatch zwischen Inter Mailand und den Glasgow Rangers mit, das im Aufenthaltsraum des Hotels per Fernsehen übertragen wird, hier entsteht menschliche Verbundenheit mit den Männern des Hotelpersonals. „Ich begann mich mit dem Barmann anzufreunden (…) Dass uns eine gemeinsame Sprache fehlte, entmutigte uns nicht“, die Unterhaltung besteht aus Kopfnicken im Treppenhaus und in der abwechselnden Nennung der Namen von Radrennfahrern: „Was zum Beispiel Radsport betrifft, waren wir nicht zu bremsen.“

Imponierend, wie es Toussaint gelingt, die Innenwelt des Helden anhand von äußeren Vorgängen darzustellen, die nüchtern-schnörkellose Erzählweise lädt die Fantasie der LeserIn ein. Kitzelt die Sehnsucht, sich ebenfalls mal „Urlaub vom Leben“ zu nehmen, wie Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, auf den Toussaint ganz offensichtlich anspielt: Unser Held malt sich in einem lebhaften Tagtraum aus, den österreichischen Botschafter zu treffen, den der Autor ganz ohne Umschweife „Eigenschaften“ nennt.

2024 6 Mai

Leben in Wien

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 18 Comments

 

Ankunft spätabends im siebten Bezirk, die U-Bahn rattert auf einem kurzen Stück als Hochbahn über Gürtel und Wienzeile hinweg, die Fassaden der umstehenden Häuser geben sich verschlossen und schmutzig, verschiedenste Lichter funkeln, wandern herum, huschen vorbei, Werbetafeln locken meinen Blick. Einige Halte-Stationen sind hell erleuchtet, offen, mit lindgrünen Ornamenten.

Ich steige aus und trete auf die Straße, bleibe stehen:

 
 

 
 

Soll das eine Anrufung sein? Ein Hilfeschrei? Warum heißt es nicht Mama?

Mutti hat immer so etwas Verschämtes, auch Verniedlichendes, für sehr alte Frauen, und für solche, die in den Augen der anderen nicht mehr so ganz ihre Sinne beisammen haben (vielleicht lächeln die Muttis aber wohlwollend über ihre verkannte Rebellion hinweg?).

Sind die fünf Buchstaben als Denkmal gemeint? Oder ein Klageruf?

Ich beherrsche mich, das Wort nicht probehalber mit verschiedener Betonung laut vor mich hin zu sprechen – drehe mich um: Haben sie schon bemerkt, dass auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein Kino ist?

 

Zu Annie Ernaux: L’autre fille –

Nil Edition, Paris 2011, 78 pages;

in der deutschen Übersetzung: Das andere Mädchen, Suhrkamp Berlin 2022, 74 Seiten

 
 

 
 

Vor einigen Jahren, 2011, um genau zu sein, bat ich eine französische Freundin, sich doch in einer von uns beiden geschätzten Buchhandlung über die Neuerscheinungen beraten zu lassen und mir einige davon zu schicken, ich war aus der Übung gekommen mit der französischen Sprache und wollte wieder darin lesen. In ihrem Paket befand sich unter anderem ein dünnes Bändchen: Annie Ernaux, L’autre fille.

 
 

 
 

Die anderen Bücher las ich nur an, bei diesem Buch aber blieb ich hängen, las es teils erschreckt, teils staunend beinahe in einem Zug durch. Die Sprache kam mir entgegnen, auch wenn ich nicht jedes Wort kannte. Rhythmus und Bau der Sätze erlauben ein emotionales Erfassen. Scharf gezeichnete Szenen entstanden schlagartig, wie einst durch Belichtung in der fotografischen Dunkelkammer, prägten sich ein.

Beim Wiederlesen, sowohl der französischen als auch der erst 2022 erschienenen deutschen Fassung, kommt mir Annie Ernaux’ Wortwahl stellenweise roh vor – oder fügt sich dieses Rohe im Französischen selbstverständlicher in die gehobene Umgangssprache ein, welche die Autorin benutzt? Vielleicht kann ich roh noch genauer als „nahe an der Materialität der Bedeutung“ beschreiben, Annie Ernaux gibt an: „quand j’écris, je ne vois pas les mots, je vois les choses/ wenn ich schreibe, sehe ich nicht die Wörter, ich sehe die Dinge“ (Annie Ernaux, L’écriture comme un couteau, Entretien avec Frédéric-Yves Jeannet, eigene Übersetzung). In L’autre fille lese ich: „me lancer en pleine visage“ könnte man kraftvoll mit „mir voll ins Gesicht klatschen/ schleudern“ übersetzen, emotional trifft der Satz wie eine Ohrfeige – die deutsche Übersetzung gibt zurückhaltend wieder: „mir ins Gesicht zu sagen“, und fügt sich so in den Sprachduktus und Ton des übrigen Textes ein.

Das Schweigen der ganzen Familie schützt die Autorin vor dem Satz, der infrage steht und den sie dann doch als 10-Jährige aufschnappt. Der die Erzählung in Gang setzt, ihr als roter Faden dient, der immer wieder auftaucht: „Elle était plus gentille que celle là/ Sie war viel lieber als die da.“ Ernaux ergänzt: „Celle là, c’est moi./ Die da, das bin ich.“ Die Autorin erfährt erst an diesem Sommersonntag von der zwei Jahre vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester, die, wie sie im Laufe des Buches entfaltet, immer schon als eine Art Engel oder Heilige präsent war: „Et, naturellement, tu as dû rôder autour de moi, m_environner de ton absence dans la rumeur ouatée qui enveloppe les premières années d’arrivée au monde/ Natürlich musst du dich auch schon im Rauschen der ersten Lebensjahre verborgen haben, musst mich mit deiner Abwesenheit umgeben haben“. An diesem Tag jedoch begreift sie, der Bezug zu ihr selbst ist hergestellt. Damit zerreißt die Welt der Unschuld, der Kindheit – oder ist es umgekehrt: Weil die Kindheit sich neigt, schnappt die Autorin diesen Satz auf, gelangt er in seiner Bedeutung erst in ihr Bewusstsein?

Ernaux rührt mit ihrer Erzählung an ein Tabu der Familie, bei der Beerdigung des Vaters direkt neben dem Grab der Schwester zeigt es sich auf absurde Weise: „Elle et moi nous avons feint de l’ignorer/ (die Mutter) und ich taten beide so, als könnten wir es (das Grab der Schwester) ignorieren“. Bis zum Lebensende der Eltern wechselt die Autorin mit ihnen kein Wort über die Schwester, die mit sechs Jahren an Diphterie stirbt, sieben Monate bevor die Impfung Pflicht wird, Annie Ernaux verankert das familiäre Vorkommnis in der Zeitgeschichte.

Die Erzählung ist als Brief geschrieben, so sieht es die Reihe des Verlags NiL vor – Ernaux stellt klar: „cette fausse lettre – il n’y en a de vraies qu’adressées aux vivants/ dieses unechten Briefes – echte Briefe schreibt man nur an Lebende“ – Warum sie diesen Brief dennoch schreibt: „Peut-être j’ai voulu m’acquitter d’une dette imaginaire en te donnant à mon tour l’existence que ta mort m’a donnée/ Vielleicht wollte ich, indem ich dir eine Existenz gebe, nachdem dein Tod mir eine Existenz gegeben hat, eine imaginäre Schuld begleichen“, denn „je suis venue au monde parce que tu es morte et je t’ai remplacée/ ich wurde geboren, weil du gestorben warst. Ich habe dich ersetzt“ – Ernaux’ Eltern konnten sich nur ein einziges Kind leisten.

Annie Ernaux nähert sich mit diesem Buch dem Schmerz der Eltern, dem verzweifelten Beten der Mutter, das sie als Kind so abstößt. Spürt Spuren der Schwester auf: die eigene Schultasche war von ihr, das Kinderbett aus Rosenholz, Fotos … Die Schwester hatte andere Eltern, noch jung und unbeschwert. Noch nicht von Krieg und Verlust gezeichnet, auf Fotos von 1945, Ernaux ist fünf Jahre alt, wirken sie ermattet, verhärmt. Im selben Jahr gerät auch die Autorin durch eine Tetanus-Infektion in Todesnähe, die Eltern sind außer sich, die Mutter sucht danach Trost in einer Wallfahrt nach Lourdes.

Es geht Annie Ernaux, wie in ihren anderen Büchern auch, nicht darum, Anekdoten zu erzählen, auch nicht um die Mitteilung von Vertraulichem (siehe das Nachwort A jour in: Annie Ernaux, L’écriture comme un couteau, Entretien avec Frédéric-Yves Jeannet) – das Anekdotische dient wohl der Unterhaltung, das Geständnis der Entlastung von Schuldgefühlen, beides Motive für autofiktionale Bücher. Die französischen Literaturwissenschaftlern Philipp Lammers und Marcus Twellmann schreiben in ihrem Aufsatz l’autociobiografie, une forme itinérante, dass es besonders in Deutschland eine große Begeisterung für diese Stoffe der Echtheit gebe. Eine AutorIn gibt sich als GarantIn und wählt doch aus, am Dokumentarfilm kann man diese Positionierung am augenfälligsten beschreiben: Mit der Auswahl des Bildausschnitts, der Kameraführung und dem späteren Schnitt wird auch die Botschaft gelenkt. AutorInnenschaft bedeutet Subjektivität, Annie Ernaux versucht, diese zu ent-individualisieren, von der Frage Ging es anderen Menschen in ähnlichen Verhältnissen zu dieser Zeit auch so? aus zu operieren, in ihrem Fall: Der gesellschaftliche Mikrokosmos eines französischen Kleinstadtviertels, mit den Augen der Krämerladen-Familie gesehen. 

 

2024 13 Mrz

Hören & Fahren

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 8 Comments

 
 

Frauen sollten ein Verhältnis zur Wirklichkeit pflegen, schreibt Virginia Woolf 1929 in „Ein Zimmer für sich allein“, ich horche auf die Stimme von Erika Pluhar, die mir den viel zitierten Aufsatz nahebringt. Mit dieser Aufforderung zu eigenständigem Denken schließt die Autorin, nachdem sie zuvor ausführt, was zu- und was abträglich ist für einen freien Geist.

Später fällt mir auf, dass Weltfrauentag ist, während ich dem Vortrag lausche und mein Automobil in Richtung Süden steuere, unablässig streift der Blick den grauen Bandwurm von Autobahn entlang. Fast 100 Jahre ist es her, dass Frau Woolf gute Literatur daran misst, ob sie ein Feuerwerk an Gedanken auslöst oder weitere Einfälle erstickt: Mit solchen in eine Erzählung eingebundenen Hinsichten ist es eine wirklich muntere Fahrt geworden.

 

 

Wieder setzt er an, rasch müssen seine Finger die Tasten aufwärts klettern. Aber dieser verflixte kleine Finger an der rechten Hand macht nicht mit. Verhaspelt sich, kommt nicht auf die Tasten hinunter. Get your kicks: Er hat gute Lust, dieses sch-verf-Klavier mit seiner Fußspitze zu traktieren, es ist so verdammt schwergängig. Stellt sich ihm in den Weg. Was ist nur los: Fingerabspreizen und ähnliche Geziertheiten passen doch überhaupt nicht zu ihm … !

Wenn andere das spielen, klingt es so locker und leicht. So beschwingt. Als ob sich da keiner so recht Mühe zu geben bräuchte, wie um ihn noch extra zu ärgern. Er hat sich das Stück ein paar Male angehört, ja gut, das Tempo schafft er noch nicht, das fordert seinen Ehrgeiz. Mit der Zeit würde er das aber schon knacken. Nur der Rhythmus: Bei ihm klingt es so sperrig, dass es ihn regelrecht schüttelt! Probehalber stemmt er seine Fußspitze nun doch gegen das lackierte Holz des Instruments: Ihr redet euch leicht, ihr Alten, einsame Weiten auf einem kultigen Highway durchqueren, Strecken, die heutzutage garantiert vom Verkehr verstopft sind, und die Inspiration fliegt euch nur so zu! –

Sowas fängt er sich aber gar nicht erst an, die sowieso schon von den Landkarten getilgte Route 66 gen Westen fahren – Und dann womöglich auch noch als Klimaschwein beschimpft werden: Leider ist er überhaupt zu spät auf die Welt gekommen, ein Jammer! Weil auch schon seine Eltern zu spät dran waren und die Großeltern erst recht. Dafür hat er’s jetzt mit einem heutzutage zu tun, in dem es einfach schon alles gibt, was man musikalisch noch erfinden könnte – Und ihm bleibt bloß noch sich damit abzumühen, die Stücke einigermaßen gelungen nachzuspielen.

Missmutig lässt er den Kopf nach vorne sinken, kühlt seine Stirn an dem glatten Holz, das er eben noch hat malträtieren wollen. Wozu das Ganze eigentlich, er ist am Ende, auf den Hund gekommen, genial sind nur die anderen.

Er hievt seinen unwilligen oder unfähigen Körper, wie man’s eben nimmt, aufs Sofa daneben und schließt die Augen. Will einschlafen, alles vergessen, aber er hat keine Ruhe: Die Melodie des Stücks schält sich aus all den Geräuschen in seinem Kopf rücksichtslos heraus. Mit einer Bestimmtheit, die ihn aufrüttelt, darappbapbap-bapbapbamm! Darappbapbap-bapbapbamm! – Wie klingt das denn jetzt? Hat er das so schon einmal gehört? –

 

 

Auf wen warten diese Sachen? Soll hier jemand vorbeikommen, sich in einem der beiden Stühlen niederlassen, mit einer Flasche Wein, einem längst zu Ende gegangenen Fest nachtrauernd? Einer vielversprechenden Begegnung, bei der sie oder er zu wenig Eindruck oder auch Nachdruck gemacht hat?

Hier in Venedig, im trüben Licht eines italienischen Wintermittags, es ist nämlich der 31. Dezember, wird schwebender Staub im Halbschatten des schmutzigen Durchgangs sichtbar. Es geht ein leichter Luftzug, der den Aufenthalt unbequem macht.

Eher ist wohl ein Fest in Vorbereitung, hinten im prächtig geschmückten Garten, unter einer mit Planen verstärkten, beheizten Pergola, schließlich steht der Jahreswechsel bevor. Und erst mit den überzähligen Gästen, die doch wie immer nicht auf sich warten lassen werden, wird auf die schon beschädigten Stühle im Durchgang zurückgegriffen. Aber wer weiß: Vielleicht ist der Gastgeberin etwas zugestoßen, dem in Eile zusammengestellten Personal die Neujahrstorte zu Boden gestürzt, so dass die weiteren Vorbereitungen zur Feier stocken.

Hoffentlich hat niemand einen Herzanfall erlitten oder ist auf der Cremeschicht am Boden ausgerutscht und unglücklich mit dem Kopf angeschlagen, Festivitäten haben so ihre Tücken.

 

 

Zu Daniel Schreiber, „Allein“, Verlag Hanser Berlin, 160 Seiten

 

„Und wir vergessen“, notiert Daniel Schreiber, „vergessen, auch wenn wir es nicht wollen, wer wir einmal waren. Wir brauchen Menschen, die uns genau davor bewahren.“ (17) Ich blieb an diesem Satz hängen und dachte lange darüber nach, verdichtet er doch Haltung und Überzeugung des Buches. Stimmt die LeserInnen darauf ein, in welcher Weise der Autor sich uns zur Verfügung stellen, seine Erfahrungen als Messinstrument einsetzen wird, zur Analyse gesellschaftlicher Umstände, er verfolgt dabei ein ähnliches Anliegen wie einst Joan Didion. Dieses Buch kann ein so persönliches sein, weil es vor Verallgemeinerungen der verwässernden Sorte und jeglicher Wohlfühl-Rhetorik zurückschreckt, auch bei allen inneren Betrachtungen erstaunlich diskret bleibt. Uns nur mit Fragen behelligt, die den Autor selbst umtreiben. Und das doch kein pessimistisches ist, obwohl es uns auch einlädt, den eigenen „grausamen Optimismus“ (29, Lauren Berlant) aufzuspüren.

Eine ganz eigene Gefühlsmischung begleitete mich bei der Lektüre des Buches, im wesentlichen ein Mischung aus Dankbarkeit und Trauer, ich fand es tröstlich, verschiedene Spielarten von Unbehagen in so klare Worte gefasst zu lesen. Um dann schmerzhaft festzustellen, dass damit allein ja noch nicht viel anzufangen ist: Das erspart Daniel Schreiber uns LeserInnen nicht, wenn wir bereit sind, den Blick auf die Krisen unserer Zeit zu richten, zum Beispiel auf die „neoliberale Umverteilungsmaschine, die für viele der sozialen, ökonomischen und ökologischen Notlagen, verantwortlich war“ (132/133), dass „jene gefürchteten Kippmechanismen eingesetzt hatten, die dazu führen würden, dass die Erderwärmung mit ihren Extremwetterlagen (…) nicht mehr aufzuhalten war.“ (133). Der Blick darauf sollte uns bewusst machen, dass wir hinsichtlich dieses Planeten als Lebensgrundlage alle zusammen gehören, nicht ausweichen können. In politische Verhältnisse, in einen sozialgeschichtlichen und philosophischen Zusammenhang eingebunden sind, egal wie klug und differenziert wir uns dazu äußern.

Wichtigster Auslöser für Daniel Schreibers Betrachtungen in „Allein“ war offenbar die Corona-Pandemie: In der Isolation realisierte der Autor, dass seine Erzählungen und Fantasien über sich und sein Leben als „gutes“ nicht länger Bestand haben, er zitiert dazu das Konzept des „uneindeutigen Verlusts“ (79) der Psychologin Pauline Boss, ein Konzept, das Schreiber in der zweiten Hälfte des Buches immer wieder zur Veranschaulichung einsetzt, um der überzuckerten Beschwörung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit in allen Belangen entgegen zu treten. Leben ist Vergänglichkeit und Ausgeliefertsein, an Umstände, die wir womöglich nicht beeinflussen können – als Gegenentwurf schildert Schreiber ganz zum Schluss des Buches die Pracht des Gartens von Derek Jarman, einem schwulen Maler und Filmemacher, einer kargen Landschaft und der eigenen Krankheit abgerungen.

Schonungslos könnte man zu Daniel Schreibers Buch sagen, aber vor allem ist es voller Mitgefühl, das – wie der Autor überzeugend argumentiert – bei der eigenen Person beginnt: Er traut uns LeserInnen selbst große Empathie zu, wendet sich an den Teil unserer seelischen und körperlichen Ausstattung, der uns alle verbindet: Sollten wir nicht mehr darauf schauen, anstatt auf die Unterschiede? Sind diese nicht viel unbedeutender angesichts der drängenden Aufgaben unserer Zeit? – So macht uns der Autor Toleranz vor und fordert sie nicht nur. Er zeigt aber auch, welche Spuren an Körper und Seele Stigmatisierung und Marginalisierung hinterlassen und wie ideologisch das Gerede vom „guten Leben“ tatsächlich ist: „Bezeichnenderweise schlägt keiner der wiederkehrenden Propheten des sozialen Niedergangs vor, den Kampf gegen Einsamkeit mit dem Kampf gegen Rassismus, Misogynie, Antisemitismus, Homo-, Trans- und Islamophobie zu beginnen, gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die in Armut leben, gegen all die strukturellen Phänomene der Ausgrenzung (…) Die Antwort (…) liegt fast immer in der Beschwörung der Magie der Kernfamilie.“ (62)

Im Prinzip führt uns das Buch ein umfassendes und vielstimmiges Miteinander vor: Schreiber lässt eine Vielzahl von GesellschaftswissenschaftlerInnen und EssayistInnen zu Wort kommen – die Literatur-Liste im Anhang ist lang und vor allem im amerikanischen Sprachraum verwurzelt. Daniel Schreiber macht seine Gedanken als Ergebnisse von zum Teil jahre- und jahrzehntelangen Gesprächen und Lektüren sichtbar und legt somit auch nahe, dass sich die existentiellsten Erfahrungen der Unverbundenheit wohl außersprachlich abspielen und auch in diese erste Zeit des Menschen zurückführen (so muss es nicht verwundern, dass während der Pandemie bei so vielen Menschen solcherart schwer zu ertragende Grunderfahrungen aufgebrochen sind).

Wir brauchen einander, auf die vielfältigste Weise, und sollten das nicht vergessen, ruft Daniel Schreiber uns zu: Die von vielen heißersehnte und -beschworene Unabhängigkeit ist in Wirklichkeit an Privilegien geknüpft, der Herkunft, der Hautfarbe, der Veranlagungen – Und wie erstrebenswert ist es denn wirklich, fragt der Autor, immerzu tun und lassen zu können, was man möchte? Um welchen Preis? In unser aller Köpfen steckt die Erzählung, dass zum gelingenden Leben eine Liebesbeziehung gehört, und es lauert die Scham – sollte man keine haben – mit einem Makel behaftet zu sein, zuallererst in uns selbst. Aber wie kann man als Alleinlebender lebendig bleiben, der „Trockenheit des Herzens“ (96, Roland Barthes) entgehen?

Daniel Schreiber behandelt seine LeserInnen wie gute FreundInnen, er bietet seine Gedanken und Erfahrungen als Projektionsfläche an, als zählte allein, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen. Ein Apfelbäumchen zu pflanzen zum Beispiel, denn der Autor ist offenbar ein großartiger Gärtner.

 


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz