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2024 17 Apr

„Als Tote kamst du in mein Leben“

von: Anja Sturmat Filed under: Blog | TB | 5 Comments

Zu Annie Ernaux: L’autre fille –

Nil Edition, Paris 2011, 78 pages;

in der deutschen Übersetzung: Das andere Mädchen, Suhrkamp Berlin 2022, 74 Seiten

 
 

 
 

Vor einigen Jahren, 2011, um genau zu sein, bat ich eine französische Freundin, sich doch in einer von uns beiden geschätzten Buchhandlung über die Neuerscheinungen beraten zu lassen und mir einige davon zu schicken, ich war aus der Übung gekommen mit der französischen Sprache und wollte wieder darin lesen. In ihrem Paket befand sich unter anderem ein dünnes Bändchen: Annie Ernaux, L’autre fille.

 
 

 
 

Die anderen Bücher las ich nur an, bei diesem Buch aber blieb ich hängen, las es teils erschreckt, teils staunend beinahe in einem Zug durch. Die Sprache kam mir entgegnen, auch wenn ich nicht jedes Wort kannte. Rhythmus und Bau der Sätze erlauben ein emotionales Erfassen. Scharf gezeichnete Szenen entstanden schlagartig, wie einst durch Belichtung in der fotografischen Dunkelkammer, prägten sich ein.

Beim Wiederlesen, sowohl der französischen als auch der erst 2022 erschienenen deutschen Fassung, kommt mir Annie Ernaux’ Wortwahl stellenweise roh vor – oder fügt sich dieses Rohe im Französischen selbstverständlicher in die gehobene Umgangssprache ein, welche die Autorin benutzt? Vielleicht kann ich roh noch genauer als „nahe an der Materialität der Bedeutung“ beschreiben, Annie Ernaux gibt an: „quand j’écris, je ne vois pas les mots, je vois les choses/ wenn ich schreibe, sehe ich nicht die Wörter, ich sehe die Dinge“ (Annie Ernaux, L’écriture comme un couteau, Entretien avec Frédéric-Yves Jeannet, eigene Übersetzung). In L’autre fille lese ich: „me lancer en pleine visage“ könnte man kraftvoll mit „mir voll ins Gesicht klatschen/ schleudern“ übersetzen, emotional trifft der Satz wie eine Ohrfeige – die deutsche Übersetzung gibt zurückhaltend wieder: „mir ins Gesicht zu sagen“, und fügt sich so in den Sprachduktus und Ton des übrigen Textes ein.

Das Schweigen der ganzen Familie schützt die Autorin vor dem Satz, der infrage steht und den sie dann doch als 10-Jährige aufschnappt. Der die Erzählung in Gang setzt, ihr als roter Faden dient, der immer wieder auftaucht: „Elle était plus gentille que celle là/ Sie war viel lieber als die da.“ Ernaux ergänzt: „Celle là, c’est moi./ Die da, das bin ich.“ Die Autorin erfährt erst an diesem Sommersonntag von der zwei Jahre vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester, die, wie sie im Laufe des Buches entfaltet, immer schon als eine Art Engel oder Heilige präsent war: „Et, naturellement, tu as dû rôder autour de moi, m_environner de ton absence dans la rumeur ouatée qui enveloppe les premières années d’arrivée au monde/ Natürlich musst du dich auch schon im Rauschen der ersten Lebensjahre verborgen haben, musst mich mit deiner Abwesenheit umgeben haben“. An diesem Tag jedoch begreift sie, der Bezug zu ihr selbst ist hergestellt. Damit zerreißt die Welt der Unschuld, der Kindheit – oder ist es umgekehrt: Weil die Kindheit sich neigt, schnappt die Autorin diesen Satz auf, gelangt er in seiner Bedeutung erst in ihr Bewusstsein?

Ernaux rührt mit ihrer Erzählung an ein Tabu der Familie, bei der Beerdigung des Vaters direkt neben dem Grab der Schwester zeigt es sich auf absurde Weise: „Elle et moi nous avons feint de l’ignorer/ (die Mutter) und ich taten beide so, als könnten wir es (das Grab der Schwester) ignorieren“. Bis zum Lebensende der Eltern wechselt die Autorin mit ihnen kein Wort über die Schwester, die mit sechs Jahren an Diphterie stirbt, sieben Monate bevor die Impfung Pflicht wird, Annie Ernaux verankert das familiäre Vorkommnis in der Zeitgeschichte.

Die Erzählung ist als Brief geschrieben, so sieht es die Reihe des Verlags NiL vor – Ernaux stellt klar: „cette fausse lettre – il n’y en a de vraies qu’adressées aux vivants/ dieses unechten Briefes – echte Briefe schreibt man nur an Lebende“ – Warum sie diesen Brief dennoch schreibt: „Peut-être j’ai voulu m’acquitter d’une dette imaginaire en te donnant à mon tour l’existence que ta mort m’a donnée/ Vielleicht wollte ich, indem ich dir eine Existenz gebe, nachdem dein Tod mir eine Existenz gegeben hat, eine imaginäre Schuld begleichen“, denn „je suis venue au monde parce que tu es morte et je t’ai remplacée/ ich wurde geboren, weil du gestorben warst. Ich habe dich ersetzt“ – Ernaux’ Eltern konnten sich nur ein einziges Kind leisten.

Annie Ernaux nähert sich mit diesem Buch dem Schmerz der Eltern, dem verzweifelten Beten der Mutter, das sie als Kind so abstößt. Spürt Spuren der Schwester auf: die eigene Schultasche war von ihr, das Kinderbett aus Rosenholz, Fotos … Die Schwester hatte andere Eltern, noch jung und unbeschwert. Noch nicht von Krieg und Verlust gezeichnet, auf Fotos von 1945, Ernaux ist fünf Jahre alt, wirken sie ermattet, verhärmt. Im selben Jahr gerät auch die Autorin durch eine Tetanus-Infektion in Todesnähe, die Eltern sind außer sich, die Mutter sucht danach Trost in einer Wallfahrt nach Lourdes.

Es geht Annie Ernaux, wie in ihren anderen Büchern auch, nicht darum, Anekdoten zu erzählen, auch nicht um die Mitteilung von Vertraulichem (siehe das Nachwort A jour in: Annie Ernaux, L’écriture comme un couteau, Entretien avec Frédéric-Yves Jeannet) – das Anekdotische dient wohl der Unterhaltung, das Geständnis der Entlastung von Schuldgefühlen, beides Motive für autofiktionale Bücher. Die französischen Literaturwissenschaftlern Philipp Lammers und Marcus Twellmann schreiben in ihrem Aufsatz l’autociobiografie, une forme itinérante, dass es besonders in Deutschland eine große Begeisterung für diese Stoffe der Echtheit gebe. Eine AutorIn gibt sich als GarantIn und wählt doch aus, am Dokumentarfilm kann man diese Positionierung am augenfälligsten beschreiben: Mit der Auswahl des Bildausschnitts, der Kameraführung und dem späteren Schnitt wird auch die Botschaft gelenkt. AutorInnenschaft bedeutet Subjektivität, Annie Ernaux versucht, diese zu ent-individualisieren, von der Frage Ging es anderen Menschen in ähnlichen Verhältnissen zu dieser Zeit auch so? aus zu operieren, in ihrem Fall: Der gesellschaftliche Mikrokosmos eines französischen Kleinstadtviertels, mit den Augen der Krämerladen-Familie gesehen. 

 

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5 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Was für ein brutales Schicksal – offenbar auch in einer sehr drastischen Sprache beschrieben. Leidet die Geschichte nicht sehr unter der deutschen Übersetzung?

  2. Anja Sturmat:

    Ich würde nicht sagen, dass Annie Ernaux’ Sprache drastisch ist, sie ist klar, scharf, erlaubt Zugang zum Sinnlichen – wie viel da die deutsche Sprache hergibt, darüber würde es sich wohl lohnen nachzudenken!
    Ich möchte mir kein schnelles und allzu billiges Urteil anmaßen, dafür habe ich vor der Arbeit des literarischen Übersetzens zu viel Respekt, sie ist oft gar nicht angemessen bezahlt! Das Dilemma des Übersetzens: Bleibt man bei der inhaltlichen Wiedergabe, bleibt die der Sprache eigene sinnliche Dimension an manchen, vielleicht sogar an vielen Stellen verborgen – man müsste einen kongenialen eigenen Text schaffen: Es gibt da einige Beispiele von SchriftstellerInnen, die dies für ihre KollegInnen geleistet haben. Ist aber sehr rar. Bei der Übersetzung von „l’autre fille“ gab es vermutlich gar nicht viel Zeit, sie ist 2022 erschienen, als Annie Ernaux der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde

  3. Anonymous:

    Das ist dann ähnlich wie beim Film – Bildsprache, Kamerasprache, Farbe – visuelle Stilmittel. Auch das erzählt Geschichten. Ich frage mich gerade wie man eine autofiktionale Geschichte im Film erzählen kann – ohne diese oft störende Erzähltonspur.

  4. Littlejack:

    Vor langer Zeit habe ich ihr erstes Buch im Original gelesen, ich glaube es heisst hier „Die leeren Schränke“, ihre Sprache ist unverwechselbar und nur schwer zu übersetzen.

  5. Ursula Mayr:

    Jetzt interessierts mich langsam doch..

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