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2024 28 Feb

Zusammenhalten, aber wie?

von: Anja Sturmat Filed under: Blog | TB | 21 Comments

 

Zu Daniel Schreiber, „Allein“, Verlag Hanser Berlin, 160 Seiten

 

„Und wir vergessen“, notiert Daniel Schreiber, „vergessen, auch wenn wir es nicht wollen, wer wir einmal waren. Wir brauchen Menschen, die uns genau davor bewahren.“ (17) Ich blieb an diesem Satz hängen und dachte lange darüber nach, verdichtet er doch Haltung und Überzeugung des Buches. Stimmt die LeserInnen darauf ein, in welcher Weise der Autor sich uns zur Verfügung stellen, seine Erfahrungen als Messinstrument einsetzen wird, zur Analyse gesellschaftlicher Umstände, er verfolgt dabei ein ähnliches Anliegen wie einst Joan Didion. Dieses Buch kann ein so persönliches sein, weil es vor Verallgemeinerungen der verwässernden Sorte und jeglicher Wohlfühl-Rhetorik zurückschreckt, auch bei allen inneren Betrachtungen erstaunlich diskret bleibt. Uns nur mit Fragen behelligt, die den Autor selbst umtreiben. Und das doch kein pessimistisches ist, obwohl es uns auch einlädt, den eigenen „grausamen Optimismus“ (29, Lauren Berlant) aufzuspüren.

Eine ganz eigene Gefühlsmischung begleitete mich bei der Lektüre des Buches, im wesentlichen ein Mischung aus Dankbarkeit und Trauer, ich fand es tröstlich, verschiedene Spielarten von Unbehagen in so klare Worte gefasst zu lesen. Um dann schmerzhaft festzustellen, dass damit allein ja noch nicht viel anzufangen ist: Das erspart Daniel Schreiber uns LeserInnen nicht, wenn wir bereit sind, den Blick auf die Krisen unserer Zeit zu richten, zum Beispiel auf die „neoliberale Umverteilungsmaschine, die für viele der sozialen, ökonomischen und ökologischen Notlagen, verantwortlich war“ (132/133), dass „jene gefürchteten Kippmechanismen eingesetzt hatten, die dazu führen würden, dass die Erderwärmung mit ihren Extremwetterlagen (…) nicht mehr aufzuhalten war.“ (133). Der Blick darauf sollte uns bewusst machen, dass wir hinsichtlich dieses Planeten als Lebensgrundlage alle zusammen gehören, nicht ausweichen können. In politische Verhältnisse, in einen sozialgeschichtlichen und philosophischen Zusammenhang eingebunden sind, egal wie klug und differenziert wir uns dazu äußern.

Wichtigster Auslöser für Daniel Schreibers Betrachtungen in „Allein“ war offenbar die Corona-Pandemie: In der Isolation realisierte der Autor, dass seine Erzählungen und Fantasien über sich und sein Leben als „gutes“ nicht länger Bestand haben, er zitiert dazu das Konzept des „uneindeutigen Verlusts“ (79) der Psychologin Pauline Boss, ein Konzept, das Schreiber in der zweiten Hälfte des Buches immer wieder zur Veranschaulichung einsetzt, um der überzuckerten Beschwörung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit in allen Belangen entgegen zu treten. Leben ist Vergänglichkeit und Ausgeliefertsein, an Umstände, die wir womöglich nicht beeinflussen können – als Gegenentwurf schildert Schreiber ganz zum Schluss des Buches die Pracht des Gartens von Derek Jarman, einem schwulen Maler und Filmemacher, einer kargen Landschaft und der eigenen Krankheit abgerungen.

Schonungslos könnte man zu Daniel Schreibers Buch sagen, aber vor allem ist es voller Mitgefühl, das – wie der Autor überzeugend argumentiert – bei der eigenen Person beginnt: Er traut uns LeserInnen selbst große Empathie zu, wendet sich an den Teil unserer seelischen und körperlichen Ausstattung, der uns alle verbindet: Sollten wir nicht mehr darauf schauen, anstatt auf die Unterschiede? Sind diese nicht viel unbedeutender angesichts der drängenden Aufgaben unserer Zeit? – So macht uns der Autor Toleranz vor und fordert sie nicht nur. Er zeigt aber auch, welche Spuren an Körper und Seele Stigmatisierung und Marginalisierung hinterlassen und wie ideologisch das Gerede vom „guten Leben“ tatsächlich ist: „Bezeichnenderweise schlägt keiner der wiederkehrenden Propheten des sozialen Niedergangs vor, den Kampf gegen Einsamkeit mit dem Kampf gegen Rassismus, Misogynie, Antisemitismus, Homo-, Trans- und Islamophobie zu beginnen, gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die in Armut leben, gegen all die strukturellen Phänomene der Ausgrenzung (…) Die Antwort (…) liegt fast immer in der Beschwörung der Magie der Kernfamilie.“ (62)

Im Prinzip führt uns das Buch ein umfassendes und vielstimmiges Miteinander vor: Schreiber lässt eine Vielzahl von GesellschaftswissenschaftlerInnen und EssayistInnen zu Wort kommen – die Literatur-Liste im Anhang ist lang und vor allem im amerikanischen Sprachraum verwurzelt. Daniel Schreiber macht seine Gedanken als Ergebnisse von zum Teil jahre- und jahrzehntelangen Gesprächen und Lektüren sichtbar und legt somit auch nahe, dass sich die existentiellsten Erfahrungen der Unverbundenheit wohl außersprachlich abspielen und auch in diese erste Zeit des Menschen zurückführen (so muss es nicht verwundern, dass während der Pandemie bei so vielen Menschen solcherart schwer zu ertragende Grunderfahrungen aufgebrochen sind).

Wir brauchen einander, auf die vielfältigste Weise, und sollten das nicht vergessen, ruft Daniel Schreiber uns zu: Die von vielen heißersehnte und -beschworene Unabhängigkeit ist in Wirklichkeit an Privilegien geknüpft, der Herkunft, der Hautfarbe, der Veranlagungen – Und wie erstrebenswert ist es denn wirklich, fragt der Autor, immerzu tun und lassen zu können, was man möchte? Um welchen Preis? In unser aller Köpfen steckt die Erzählung, dass zum gelingenden Leben eine Liebesbeziehung gehört, und es lauert die Scham – sollte man keine haben – mit einem Makel behaftet zu sein, zuallererst in uns selbst. Aber wie kann man als Alleinlebender lebendig bleiben, der „Trockenheit des Herzens“ (96, Roland Barthes) entgehen?

Daniel Schreiber behandelt seine LeserInnen wie gute FreundInnen, er bietet seine Gedanken und Erfahrungen als Projektionsfläche an, als zählte allein, jeden Tag eine gute Tat zu vollbringen. Ein Apfelbäumchen zu pflanzen zum Beispiel, denn der Autor ist offenbar ein großartiger Gärtner.

 

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21 Comments

  1. Jörg R.:

    Wieder Literatur auf dem Blog? Schön! Sehr plastisch geschrieben.

  2. Anonymous:

    Ich verstehe nicht ganz – ist das jetzt eine Sammlung von Essays, ein gesellschaftskritisches oder zeitkritisches Buch, ein Roman, ein Erfahrungsbericht, wie der Autor die Zeit erlebt?

  3. Ursula Mayr:

    Ich glaube, ein Essay, in dem auch andere Essays zitiert werden.

  4. Lajla Nizinski:

    Ich habe beide Bücher von Schreiber gelesen. Es sind ehrliche Egobücher. “Allein” hat mich nicht inspiriert. Aber “Zuhause“ hat mir gefallen, weil er sein unstetes Leben nachempfindend gut beschreibt. Zuhause ist man erst, wenn man sich einrichtet. Das ist ein nachdenkenswerter Gedanke.

  5. Ursula Mayr:

    Zuhause klingt etwas positiver als allein – war’s das?

  6. Littlejack:

    Habe beide nicht gelesen, wäre aber neugierig auf das Alleinsein – ist ja eher negativ besetzt als Zustand und die positiven Empfindungen dazu werden selten wahrgenommen. Man traut sich ja schon kaum mehr zuzugeben, dass man vielleicht ungesellig ist. Nicht trendy …

  7. Jochen:

    „Je vereinzelter du bist und umso mehr du für dich stehen kannst, umso stärker bist du …“

    Jonathan Meese über Beuys
     
    Hatte das Buch gelesen auf Lajlas Hinweis hin. Daniel Schreiber kommt mir vor wie ein vom Leben verwöhnter Schwerenöter. Freunde zuhauf, jetted durch die Welt. Da muss innere Verlassenheit im Spiel sein. Hatte auch einen Verriss geschrieben, leider gelöscht. Titel: „Mattes von der Yogamatte“.

    Alleinsein heisst für mich: in Frieden und unbehelligt leben. In der Ukraine schiessen sie sich gegenseitig tot. Mal die Kirche im Dorf lassen statt Anspruchsdenken und Bauchpinsel-Egozentrik. Die empathische, fein ausformulierte Rezi von Anja finde ich aber gut, vor allem die Frage im Titel.

  8. Anja Sturmat:

    Ich freue mich über so viele verschiedene Kommentare!

    Was sich mir nicht recht erschließt: Woran erkennt man ein Ego-Buch? Und wodurch weiß man, dass ein Buch keines ist?

    Schreibt Annie Ernaux auch Ego-Bücher?

  9. Ursula Mayr:

    Ich habe jetzt beide Autoren nicht gelesen, schrecke aber vor den sogenannten Ego-Büchern in der Regel nicht zurück, das hat wohl auch etwas mit dem Beruf zu tun – da bekam ich täglich Ego-Geschichten erzählt. Diese Bücher sind auch Zeitdokumente über menschliches Erleben, über die verschiedenen Gesellschaftsformen und Zeitalter hinweg. Und wir leben in einer sehr narzisstisch akzentuierten Gesellschaft. Auch – oder gerade – kann ein Buch sehr informativ sein, wenn einem der Autor nicht sympathisch ist.

  10. Jörg R.:

    Ich meine, wenn Frauen über sich schreiben, klingt das immer anders, als wenn es Männer tun. Die scheinen weniger an der Welt zu leiden. Warum auch immer …

  11. Jochen:

    Guter Punkt, Jörg.

    Es wird ja immer wieder auch die Frage nach der männlichen Identität gestellt, nicht nur von good old Herbert. Zudem haben Frauen untereinander oft etwas beneidenswert Selbstverständliches, Vertrautes (Zickenterror hier mal ausgenommen). Männer verkumpeln sich – war noch nie mein Ding. Die latente Angst und Ablehnung vor dem Schwulsein mag auch eine Rolle spielen. Schon mal eine Frau gehört, die zu einer andern sagt: „Eh, bist du lesbisch oder was!?“

    Das Buch von Daniel Schreiber hat bei mir in mehrfacher Hinsicht ein deutliches Unbehagen hervorgerufen – als würde mir als Thema unter irreführendem Titel „Homosexualität und Depression“ untergejubelt, was mich wenig interessiert. Ausserdem finde ich es problematisch, wenn reihenweise zitiert wird, so als würde man sich andere Autoren als Sticker ans eigene Revers heften.

    Zudem mag ich es nicht, wenn ein Buch bei mir eine semi-depressive Grundstimmung entstehen lässt. „Something sticky all around me …“ – sang Peter Gabriel im Song Digging in the Dirt. Es gibt auch lustige Schwule, die sind mir lieber – Hape Kerkeling beispielsweise, wunderbarer Typ.

    Man/Frau sollte übrigens aufpassen, sich hier nicht zu sehr im psychotherapeutischen Fahrwasser zu verfangen: kann den freien, kreativen und spielerischen Ausdruck killen.

  12. Ursula Mayr:

    Na, bis jetzt haben wir das Letztere ja immer leidlich hingekriegt …

  13. Jochen Siemer:

    Du bist schnell, Uschi – wollte das Letztere gerade wieder rausnehmen, gut, nun lass ich es drin ;)

    (im Dienste des freien Gedankenflusses)

  14. Littlejack:

    Und wer ist good old Herbert?

  15. Jochen Siemer:

    Grönemeier. Kennste?

    (immer gern zur Auskunft bereit, auch an pseudonyme)

  16. Ursula Mayr:

    Oh Gott, der alte Jammerlappen … da langt mir schon unser Konstantin Wecker …

  17. Jochen Siemer:

    Zu Grönemeier gabs hier mal einen witzigen Verriss, zur Anfangszeit der Manas …

    (wer suchet, der findet)

  18. Ursula Mayr:

    Das ist ja ne Jahrhundertarbeit – oder gibts hier ne Suchmaschine? Wer hat den geschrieben?

  19. Jochen Siemer:

    Die Suchleiste oben rechts, auf dem Smartphone oben links.

    Auch zu der von Anja erwähnten Annie Ernaux findet sich dort etwas …

  20. Jochen Siemer:

    Ich finde, wir haben das bislang sehr gut hingekriegt, Ursula.

  21. Ursula Mayr:

    Obwohl die Psychos jetzt hier in der Überzahl sind … 😈


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