Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

You are currently browsing the blog archives for the month Mai 2019.

Archives: Mai 2019

Bedauerlicherweise konnte ich den von Uli so einladend beschriebenen Abend nicht miterleben. Beim zweiten Manasoirée war ich dabei und da wiederholte sich zum Glück das tiefe gemeinsame Zusammensein, nicht zuletzt wegen dem liebevoll gestalteten Essen und dem musikalischen Vortrag. Es wurde auch über das Schreiben auf dem Blog gesprochen, was mich dazu veranlasst hat, meine derzeitige Lektüre – zum Thema passend – hier einzustellen.

 
 

 
 

Der Schriftsteller und Ethnoanalytiker Hans- Jürgen Heinrichs hat einige interessante Literaten interviewt, dabei ist er stets von der Frage ausgegangen: Wie schreiben Sie?

 
 

Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek setzt sich ab von den Autoren, die etwas bloß „im Schnee nachspüren“; sie dagegen oszilliere, springe hin und her zwischen verschiedenen Sprachrhythmen und Sprecherpositionen und beharre nicht auf ihrer Position. „Ich habe immer das Gefühl, dass sich die Bücher selber schreiben und dass nicht ich es bin, die das schreibt.“ (S. 316)

 

Friederike Mayröcker

Am Anfang steht meist etwas Erlebnishaftes. Es war so bei „brütt“, dass ich auch da wieder nicht gewusst habe, wohin es gehen wird, und mit etwas begann, das ich dann völlig gelöscht habe. Ich habe dann wieder ganz anders begonnen und viele Seiten geschrieben, die ich als null und nichtig erkennen musste. Dann fing ich neu an und da ist es besser gegangen. Es ist sicher etwas Erlebnishaftes dabeigewesen. (S. 65)

 

Gerhard Roth

Ein Zeitrahmen ist für mich notwendig, wenn ich schreibe, da ich sonst psychische Probleme bekomme. Ich zerfalle sozusagen. Ich löse mich auf, wenn ich mir nicht selbst eine Zeitvorgabe stelle, die ich aber nicht zwingend einhalten muss. Ich kann an verschiedenen Orten schreiben. Ich brauche keinen bestimmten Platz, keine bestimmte Uhrzeit. (S. 84)

 

Georges-Arthur Goldschmidt

Mir ist es selten passiert, dass ich genau das schreibe, was mir so vorschwebt. Ich habe eine Idee, oder ein Bild kommt mir und das behalte ich in mir tagelang, und dann, wenn ich das niederschreibe, dann kommt völlig was anderes. Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die ich schreiben wollte, es kommt einem immer anders. (S.126)

 

Paul Nizon

Wenn ich wirklich ernsthaft und entsprechend motiviert an einem Fischzug bin, dann habe ich von einem gewissen Punkt an das Gefühl, dass ich dieses Lebewesen in seiner Artikulation oder auch in seinen ersten Pulsierungen kennenlerne. Und dann geht es darum, es möglichst ganz an Land ziehen … Wenn nach der langen Inkubinationszeit oder dem Bebrüten die Gangart und die Tonart gefunden worden sind, so dass das Ding in den ersten Passagen sprachlich zu funktionieren beginnt, dann nehme ich diese Passagen auf Tonband auf und spiele sie mir vor. Das ist eine Technik, die mir erlaubt, mich nicht selber lesen zu müssen, weil ich Schwierigkeiten habe, mich selber zu lesen, ich habe dann immer das Bedürfnis wegzulaufen. (S.176)

 

Nathalie Sarraute

Was mir wichtig ist, schreibe ich im Café. Dort fühle ich mich wohl. Dort empfinde ich nicht die Einsamkeit, die manchmal so groß wird, wenn ich allein in einem Zimmer eingeschlossen bin, inmitten der Bücher. Ich habe Angst, mit dem Schreiben anzufangen … in einem Café habe ich das angenehme Gefühl auf Reisen zu sein. (S. 190)

 

E.M. Cioran

Ich schreibe nur, wenn ich deprimiert bin, im Zustand der Verlassenheit und der Verzweiflung. Aber indem ich geschrieben habe, habe ich mich doch davon befreit. Für mich ist nur das Schreiben eine reale Therapie. (S. 215)

 

Breyten Breytenbach

Schreibzwang habe ich sehr wenig. Was manchmal passiert: ich erwache frühmorgens mit einer Phrase oder einem Wort, und das ist wie ein Signal, wie ein herunterhängender Faden von einem Kleidungsstück, und man zieht daran … was bei mir jedoch häufiger ist -etwas sehr Frustrierendes -, dass man sich eine Notiz macht, einen Satz notiert, ein Wort, ein kleines Bild, und man dann zu etwas anderem übergeht. Am nächsten Morgen greift man es wieder auf oder weiss dann nach drei Tagen nicht mehr, was man damit machen soll. (S. 287/288)

 

Hans Werner Henze

Es ist so, dass ich nur frisch gewaschen und mit frischer Wäsche an den Schreibtisch gehen will und kann. Sonst stimmt etwas nicht, ist in Unordnung. Es muss alles ungeheuerlich ordentlich sein. (S. 305)

 
 
Ich empfehle das Buch von Hans-Jürgen Heinrichs auch wegen seiner wunderbar direkten, grenzenlosen Fragen an die bekannten Schriftsteller.

2019 30 Mai

An evening with Gurdjieff

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 4 Comments

Als ich den Raum betrete, in dem Gregor immer seinen Platten- und Bücherschrank öffnet – genau genommen ist der ganze Raum der Platten- und Bücherschrank – zeigt Hans-Dieter gerade die Stelle auf, an der Carla Bley die Beatles aus Abbey Road gekonnt, aber unverkennbar zitiert und alsbald nahm das 3. Manafonista-Treffen zunächst in kleiner Runde langsam Fahrt auf. Zusammen tauschten wir Aktuelles und persönliche Erinnerungen aus und machten uns auf die Suche nach musikalischen Anregungen. Irgendwann erklangen die Harmoniumimprovisationen von Georg Iwanowitsch Gurdjieff von 1949, die zu den letzten von ihm selbst gespielten Aufnahmen gehören (er starb am 29. Oktober 1949) und die Atmosphäre im Raum verwandelte sich langsam und zunächst unmerklich. Die Gespräche wurden intensiver und tiefer und die subtile Intimität der 70 Jahre alten Aufnahmen fing an sich im Hintergrund zu verselbstständigen, was uns aber erst auffiel, als das Album gerade zum dritten mal durchlief. In ihrer einfachen und doch vollendeten, fast meditativen Weise stehen diese fließenden Improvisationen leise für sich, fast am Ende einer der ungewöhnlichsten Lebensreisen des letzten Jahrhunderts. Man möchte sie ganz zwanglos Joachim-Ernst Behrendts Hinübergehen – Das Wunder des Spätwerks zum Abschluß hinzufügen.

 

 

Bereits Mitte der 20er Jahre begann Gurdjieff seinen Schüler, den ukrainischen Pianisten Thomas de Hartmann, zu schulen – zunächst, in dem er ihn auf Reisen zu musikalischen Events schickte, damit er dann damit anfangen konnte, ihm die vielen hundert Stücke, die in den Jahrzehnten seiner Reisen gesammelt hatte, zu diktieren. In Our Life with Mr Gurdjieff  beschreiben Thomas und Olga de Hartmann wie das vor sich ging:

 

„Ich erlebte mit dieser Musik sehr schwierige und anstrengende Augenblicke. Manchmal pfiff Gurdjieff oder spielte mit einem Finger auf dem KLavier eine sehr komplizierte Art Melodie – wie es all östlichen Melodien zu sein scheinen. Diese Melodie zu erfassen, sie in europäischer Notenschrift aufzuschreiben erforderte eine tour de force.

Es ist interessant, genauer darzustellen, wie dies vor sich ging: In der Regel spielte es sich abends im großen Salon des Château (du Prieuré bei Fontainebleu) ab (und) das Musikdiktat fand stets vor jedermann statt.

Die Notation war nicht leicht. Während ich seinem Spiel zuhörte, mußte ich mit fieberhafter Geschwindigkeit die Wechsel und Doppelschläge der Melodie hinkritzeln, zuweilen bei Wiederholungen von gerade zwei Tönen. Doch in welchem Rhythmus? Wie die Betonungen kennzeichnen? Häufig gab es keine Spur von herkömmlichen westlichen Metren; der Fluß der Melodie ließ sich mitunter nicht durch Taktstriche unterbrechen oder unterteilen. Und die Harmonie, die den östlichen Klangcharakter der Melodie unterstützen konnte, vermochte man nur nach und nach zu erraten.

Nachdem die Melodie niedergeschrieben worden war, klopfte Gurdjieff auf dem Klavierdeckel einen Rhythmus, nach welchem die Begleitung zu gestalten war. Und als Krönung des Ganzen musste ich dann das Stück sofort spielen, wobei ich die Harmonie im Spielen improvisierte.“

 

Diese ungewöhnlichen und außerordentlichen Zusammenarbeit verdanken wir es, dass dieser weit kulturübergreifende Schatz nicht verloren gegangen ist und heute in wunderbaren Einspielungen vorliegen kann. Dabei wäre es müßig, hier auf die Sacred Hymns von Keith Jarrett hinzuweisen, die diese Musik einem weiten Publikum bekannt gemacht haben. Wesentlich weniger bekannt ist die von Robert Fripp produzierte Journey to inacessible Places von Elan Sicroff, der die Stücke mit unglaublicher Präzision und Dezenz spielt und ihnen so eine bemerkenswerte neue Tiefe abringt. Sicroff hat sich seit nunmehr mehreren Jahrzehnten mit dem musikalischen Lebenswerk Gurdjieffs auseinandergesetzt und dieses eingespielt. Hier bleibt es kaum noch vorstellbar, dass dieser wunderbaren Musik einmal diese traumhaft verwaschenen, fast jenseitigen Improvisationen auf einem Harmonium zu Grunde gelegen haben könnten. Auf Improvisations ist das zuletzt aufgenommene Stück vom 14. Oktober 1949, zwei Wochen vor Gurdjieffs Tod mit fast solemner Friedlichkeit, die wir an diesem Abend auch miteinander teilten. Danach war keine andere Musik an diesem Abend mehr möglich…

 

 

Zu meinen Lieblingsplatten aus der Rubrik „field recordings“ zählt die Schallplatte „Trains in the Night“, auf der sympathische Verrückte im Morgengrauen mit ihren Mikrofonen den Dampflokomotiven auflauern wie einst Räuber im Wilden Westen den Postkutschen. Als kleines Kind liebte ich den Sound der alten Loks, und hörte sie, wenn ich bei der Grossmutter war, vom  Bahnhof gegenüber, tief im Essener Westen. Für alle, die Zügen gern hinterherschauen, und ein Herz für „steam engines“ haben, oder die keuchenden Weisswolkenfabrikanten gerne als Zeitreiseportal nutzen, habe ich eine besondere Filmkiste zur Hand. British Transport Films, 1949 aus der Taufe gehoben, sollte die Tugenden des neuen britischen Transport-Netzwerkes ins allgemeine Bewusstsein heben. So entstanden, über Jahrzehnte, kleine Reisefilme und Kuriositäten, die ihren Weg ins Vorprogramm der Lichtspieltheater fanden. Niemand anderes als John Schlesinger gab bei der BFI sein Debut als Regisseur, und heimste mit „Terminus“ (1961) gleich mehrere Preise ein – 24 Stunden Waterloo Station, keine Erzählung, Fiktionales und Reales brilliant verwoben, ein Traum.  Wir rasen und schleichen durch die Jahrzehnte, eine wunderbare Art, die Vergänglichkeit unseres Lebens in einen Leinwandrausch zu verwandeln. Nicht alles dreht sich um Züge. „They Take the High Road“ fängt die kurvenreichen Wege alter Lastkraftwagen durch die schottischen Highlands ein, und ich spürte sanftes Wirbelschauern, als ich meinte, eine Strasse zu erkennen, auf der ich vor Jahr und Tag mit einem geliehenen Land Rover rumkurvte. Bestimmt eine Halluzination. Die Naturfilme aus Wales und Northumberland sind unsentimental – das Träumen erledigen wir Zuschauer ganz allein. An anderer Stelle tauchen Schulkinder, Sonnenbadende und Nonnen auf, keiner fühlt sich beobachtet, als die Kameras auf ihnen ruhen. Das unverfälschte Leben, sozusagen. Bewegend in aller Stille und Ruhelosigkeit. Eine bezaubernde Anthologie. 

2019 29 Mai

2 loops

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 1 Comment

 

Beim Aufräumen fiel mir eine alte Taschenbuchausgabe von Patricia Highsmith in die Hände: Ediths Tagebuch – noch mit schwarzem Rahmen um die Titelillustriation von Tomi Ungerer herum. „Der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit: das ist die wahre Hölle“, schreibt Edith in ihr Tagebuch und entflieht so dem Alltag und einer für sie unerträglichen Realität. Nicht selten möchte man sich diesem Satz anschliessen. Und noch ein anderes mal sind die Hölle die Anderen: direkt in das Regal mit dem Buch von Patricia Higshmith stelle ich eine illustrierte Ausgabe von Das kalte Herz, jenem Märchen von Wilhelm Hauff, dass auch heute noch aktuell ist. Der dicke Ezechiel, der als Honoration hinter seinem Humpen im Wirtshaus sitzt, mit Geld um sich wirft und Hof hält – so würde Peter Munk auch gerne leben und wird es auch: um den Preis seines verkauften Herzens und einer spät einsetzenden Reue.

 

2019 28 Mai

Two Books and a Video

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 2 Comments

 
Jeder, der die Pet Shop Boys kennt, sieht natürlich sofort, dass sich sowohl der Buchtitel wie auch diese Abbildung auf das Cover des Actually-Albums beziehen:
 
 

 
 
Aber weshalb die Anspielung auf Che Guevara? Und wen stellt der Herr rechts im Bild dar?

Die Buchrückseite verrät es uns. Das Bild bezieht sich auf die Zeilen
 

I was faced with a choice at a difficult age
Should I write a book or should I take the stage
But in the back of my head I heard distant feet
Che Guevara and Debussy to a disco beat

 
aus „Left To My Own Devices“ vom Album Introspective von 1988.
Der Herr rechts ist also Claude Debussy. Den hätte ich jetzt nicht erkannt. Darauf kann man nur kommen, wenn man sich mit dem Werk der Pet Shop Boys wirklich sehr ausführlich beschäftigt. Ich fürchte, noch immer werden viele gar nicht auf die Idee kommen, dass sich das lohnen könnte, aber sie irren. Der „Spex“-Autor und Übersetzer Jan-Niklas Jäger jedenfalls hat sich dieser Aufgabe unterzogen, und das resultierende Buch ist sehr lesenswert. In neun Kapiteln geht er der Karriere dieses Duos auf den Grund, weniger im Sinne einer Band-Biographie als im Sinne einer großflächigen Analyse ihres Werks.

Dass Neil Tennant und Chris Lowe trotz ihres (scheinbaren) Dauer-Kirmesdiscobeats ziemlich geniale Songschreiber sind, muss man sicher nicht mehr betonen. Auf einem Album kann man bluffen, vielleicht auch auf zweien, aber nicht 33 Jahre lang auf — wenn ich richtig zähle — 17 Alben. Und die Songs darauf, wie Jäger an Beispielen immer wieder zeigt, sind gesellschaftspolitisch oft reflektierend, mit wachen Augen beobachtend, manchmal witzig, manchmal satirisch, manchmal melancholisch, manchmal aber auch regelrecht subversiv wie „West End Girls“ oder „King’s Cross“, ebenso bemerkenswert die freundliche Ironie, mit der eine Gurke wie „You Were Always On My Mind“ ihrer originalen Sentimentalität beraubt wird. Das Eingangszitat aus „Left To My Own Devices“ ist nicht zufällig gewählt, Jäger zeigt, dass dies ein Schlüssel zum gesamten PSB-Kosmos ist. Die Jungs kennen ihre Szene sehr genau, und weil auch Jäger sie kennt, gelingt es ihm immer wieder, auch die Musik (und die Discobeats) auf die Texte zu beziehen und klarzumachen, warum sie so sind, wie sie sind — ich muss in diesem Punkt passen; Jäger folgt den diversen Club-, Disco- und sonstigen Wurzeln manchmal bis in die feinsten Verästelungen, die ich nur noch zur Kenntnis nehmen, aber nicht mehr aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann.

Klar, etliche PSB-Songs sind einfach Schlager. Kein Problem damit — wenn sie so gut gemacht sind wie die der PSB, dann darf man das mögen. Der „Rockism“, demzufolge Rockmusik nur ehrlich ist, wenn sie auf Gitarren und Schlagzeugen handgespielt wird, ist ohnehin Unsinn. Jäger geht aber weiter. Obwohl weder Neil noch Chris je dazu tendiert haben, viel über sich selbst zu verraten, zeigt er an etlichen Beispielen die persönliche Ebene, die hinter den Lyrics und ihrer musikalischen Umsetzung steckt. „It’s all in the lyrics“, wie Chris Frager abzufertigen pflegt, die ihn zu persönlich fragen. Und da ist es wirklich. Nicht immer so hammerhart wie in „It’s A Sin“, aber wenn man weiß, worauf zu achten ist, dann hört man die persönliche Ebene ebenso wie die Sozialkritik; in der mittleren Phase der Pet Shop Boys klopft auch AIDS an die Tür und wird ohne Holzhammer thematisiert.

Selten haben sich die Pet Shop Boys so weit aus dem Fenster gelehnt wie auf dem Album Very, dem Jäger ein komplettes Kapitel widmet. Hier ist selbst die Reihenfolge der Tracks nicht ohne Bedeutung. Die Trias „Can You Forgive Her?“ (hier geht es noch darum, dass der Protagonist seiner Freundin verzeiht, statt sich seiner eigenen Sexualität zu stellen) — „I Wouldn’t Normally Do This Kind Of Thing“ (dass es „this“ heißt und nicht „that“, ist kein Zufall) — „Liberation“ (das übrigens auch Horst Königsteins Lieblingssong war) ist sprechend. Da ist nichts mehr ironisch, jedenfalls nicht, wenn man bereit ist, auf Empfang zu schalten.

Eine spezielle Analyse erhält der Song „Go West“, ein alter Titel der Village People, der es nicht so recht zum Hit geschafft hatte. Der Vergleich des Originals mit der PSB-Version zeigt, dass es nicht einfach eine Coverversion ist, sondern durch einige kleine textliche und melodische Ergänzungen (etwa die hinzugefügten Harmonien aus Pachelbels „Kanon“, obwohl die natürlich auf hunderte von Poptiteln passen) erhält der Song eine verblüffende inhaltliche Verlagerung ins Melancholische. In Verbindung mit dem Video, dessen Bluescreen-Tricks heute schon fast zum schmunzeln sind, der Kostümierung des Duos, der leicht veralberten Riefenstahl-Ästhetik sowie der Hinzunahme einer schwarzen Sängerin als Freiheitsstatue wird die inhaltliche Verlagerung noch betont, indem Neil plötzlich seitwärts von der Treppe in den Himmel hineinläuft und durch eine sich öffnende Tür in einer Art Disco-Paradies landet — das dann in wilder Grafik ausgemalt wird. Und dann ist da natürlich der Titel: Von New York aus gesehen heißt „Go West“: nach San Francisco. Auf der CD folgen dann zwei oder drei Minuten Pause, bis schließlich ein kurzer, „Postscript“ genannter Song ertönt. Hier singt Chris: „I believe in ecstasy / the times we’ve had, you and me / friends we’ve met along the way / partied every night and day / And I know we’ll meet again.“ Da bleibt nichts mehr zu sagen.

Dies nur als ein Beispiel. Jäger nennt viele; ich will sie nicht alle aufführen. Gelegentlich überzieht er seine Interpretationen vielleicht ein bisschen; manchmal nimmt er die Jungs auch ernster als die sich vermutlich selber nehmen, aber das macht nichts. Ich empfehle das Buch einfach. Man hört die Pet Shop Boys nach der Lektüre dieses Buches anders als vorher.

Eine kleine Bitte nur an den Verlag: Wenn ein Buch Anmerkungen enthält, die über reine Quellenangaben hinausgehen, dann sollten die bitte als Fußnoten unten auf der Seite stehen; das ständige Blättern ans Ende des Buches nervt irgendwann.

Weil es ebenfalls gerade erschienen ist, hier noch eine wunderbare Ergänzung:
 
 

 
 
Ein schön in weiß und silber aufgemachtes Buch mit Lyrics, deren Lektüre sich tatsächlich lohnt. Das hat man in der Popmusik nicht allzu oft. Dazu gibt es ein informatives Vorwort des Verfassers. Die Texte sind titelalphabetisch geordnet. Das ist vielleicht nicht ganz ideal, befreit einen aber auch von dem Zwang, in den Texten eine „Entwicklung“ wahrnehmen zu wollen. Es ist ohnehin nicht ratsam, die Texte hintereinander weg zu lesen. Und das „Poem“? Nein, ich verrate die Pointe hier nicht.
 
Und dann ist da natürlich noch dies:
 
 
 

 
 
 
Die bislang letzte Bühnenshow der Pet Shop Boys, aufgezeichnet an zwei Tagen im Juli 2018 in London, benannt nach einem Titel des Albums Super. Es ist müßig, über Playback oder Live zu diskutieren, das Ganze ist eine Show, kein Konzert im klassischen Sinne, und die Pet Shop Boys haben die Mechanismen solcher Events immer zu hintertreiben gewusst. Auffällig ist gleichwohl, dass die Shows der Pet Shop Boys im Laufe der Zeit „poppiger“ geworden sind. Eine latent verstörende Bühnenpräsentation wie Performance, bei der es nicht einmal Musiker auf der Bühne gab, scheint mir heute kaum noch vorstellbar zu sein. Dass Chris sein Gesicht gern hinter großen Brillen oder anderen Gegenständen versteckt, ist ein Running Gag geworden; die helmartigen Gebilde, mit denen die beiden hier aber auf der Bühne erscheinen, erinnern allmählich eher an Michel in der Suppenschüssel. Aber nach ein paar Titeln werden die Dinger entfernt, wobei kurz aufblitzt, dass inzwischen beide, Neil und Chris, sich vom wohl spärlich gewordenen Haupthaar verabschiedet haben. Die Tänzer, die in tropfenartigen Kostümen gegen Ende der Show erscheinen, erinnern an das MDR-Fernsehballett im „Kessel Buntes“, auch auf Requisiten wird weitgehend verzichtet, im Wesentlichen sehen wir Projektionen. Aber gut, damit kann man leben. Und auch, wenn offensichtlich wird, dass die Pet Shop Boys ihre stärksten Jahre wohl hinter sich haben, macht die DVD insgesamt noch immer Spaß. (Ihre beste Show, für mein Gefühl, bleibt aber Pandemonium von 2010.) Zudem gibt es als Zugabe einen Festival-Auftritt in Rio. Die Show ist dieselbe, wenngleich festivaltypisch auf 60 Minuten gekürzt; die Stimmung scheint mir dort fast besser zu sein als in London. — Geliefert werden in der Box die gesamte Show auf zwei CDs, auf einer DVD und einer BluRay-Disc.

2019 23 Mai

Banksys latest

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: , , | 1 Comment

 
 

V i d e o

 

… und alle fragen sich jetzt, ob er das wohl selber war.

 
 

 
 

L’amour inonde toutes choses

 

Hildegard von Bingen (1098-1179) ist mir als Benediktinerin, als Schriftstellerin („Der Mensch in der Verantwortung“), als Botanikerin, Heilmedizinerin und Theologin bekannt. Die Musikerin entdeckte ich erst jetzt auf einem Kulturfest in Brüssel. Dort wurden in einer Kirchenruine mehrere Stücke aus ihrer umfangreichen Musiksammlung Symphonia Harmoniæ Cælestium Revelationum uraufgeführt.

Wir betraten den halbdunklen Raum, der mit Liegesitzen, gruppiert um eine altarartige Insel, ausgestattet war. Das Konzert sollte drei Stunden dauern, Kamera verbot sich von selbst. In einer Ecke waren zwei Personen schemenhaft wahrzunehmen, leicht erhellt durch ein Instrument, das „strahlte“. Die beiden Künstler bewegten sich anmutig auf die Brücke zu, beide nur mit einem grauglitzernden Lendenschurz bekleidet. Beide die Haare zu einem dramatischen Dutt hochgesteckt. Die weißen Brüste der Musikerin lehnten an der Bandura. Jungfräuliche Renaissance Malereien kamen mir in den Sinn. Ich habe noch nie eine Bandura gesehen, angeblich ein ukrainisches Instrument, verwandt mit Harfe und Laute. Die Spielerin zupfte sehr zart, leise Klänge schufen sogleich eine mystische Atmosphäre. Der Sänger ließ sich langsam zu ihren Füßen nieder und begann mit sonorigen, gebetsartigen Gesängen. Die hellen Töne der Bandura untermalten die dunklen Klagelieder. In reinster Einfachheit saßen die beiden auf der Brücke, sangen, spielten und schmusten. Manchmal erhob sich der tanzbegabte Sänger und schien durch den Raum zu schweben. Das in Stille verharrende Publikum rutschte tiefer („meditatiefer“!) in die Liegesessel, manche waren bereits nach Minuten weggetreten oder eingeschlafen. Ich blieb wach, durchschritt angenehme, weil harmonische Sphären, betrat mystische Wege von kleinen Traumwelten. Das sparsam eingesetzte Lichtspiel liess einmal die Decke des Kirchenschiffs rot erleuchten: Morgenrot, Abendrot, Sommer, Winter, nur eine Ahnung der weltlichen Schatten. Was für eine tranceartige Zuhör-Erfahrung!

Es lohnt sich über die beiden französischen Künstler nachzulesen. Marie-Pierre Brébant und François Chaignaud haben in den Kompositionen von Hildegard von Bingen geforscht und ihr kryptisches Notenwerk übertragen.

Alle sieben Konzerte sind ausverkauft. Kein Wunder der 2012 heiliggesprochenen Hildegard von Bingen.

2019 20 Mai

Lyrik und Film

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment

 

 
 
 

Ein kleiner später Kommentar an Martina und das Poetry Zebra, denen ich erst nicht recht geglaubt habe, dass es Verfilmungen von Gedichten gibt. Es gibt sogar ein Festival in Münster und Berlin mit einem umfangreichen und spannenden Programm. Heute morgen meldete sich ein anonymer Rezensent mit diesem passenden Halbsatz zu Jim Jarmuschs Film über den dichtenden Linienbusfahrer PATERSON: „Jarmusch … gelingt ein buchstäbliches Gedicht von einem Film.“ Es geht also in beide Richtungen: Verfilmung und Verdichtung.

 

Zum Foto: Diana Taylor, Damals an einem heißen, sonnigen Tag im Jahr 1965 in Whitley Bay (Programmheft 2016)

 

2019 19 Mai

Hello, it´s me

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 8 Comments

 

 
 
 

Sometimes it takes a week to come up with the idea of making a simple phone call. In the room with the record player are four boys. On the other side of the line are four girls in trouble. (Originally they were five sisters, between 13 and 17 years old.) They are no longer allowed to listen to music. And that’s just one thing they’re not allowed to do. Their parents won´t even let them leave the house. What is the title of the film? Who is the filmmaker? The question for extra points: Did music save them?

 


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz