Es ist jedes Jahr dasselbe: soeben habe ich Version 8.5 meiner Lieblings-Musik-Software heruntergeladen, trotz aller guten Vorsätze, bis zur nächsten Musikmesse in Frankfurt auf Version 9.0 zu warten. Es ist noch lange bis Weihnachten oder Februar, und weil es sogar bis November so lang ist, erscheinen regelmäßig im Sommer die Manafonistas-CD-Halbjahres-Überblick-Listen – eine nie versiegende Quelle zuverlässiger Musiktips. Nun sortiert sich wahrscheinlich bei Michael alles bereits auf die nächsten Klanghorizonte hin; und bei einem verantwortungsbewußten Musikboxen-Vertreter wie Gregor erwartet man ohnehin eine von 1-100 durchnummerierte Ordnung im Basislager. Meine Liste dagegen entsteht beim Gang durch die Wohnung: von Küche bis Badezimmer suche ich aus Discmen, Computerschubladen, Wohnzimmeranlagen, Radioweckern und Ghettoblastern meine aktuellen CDs zusammen. Ich bin erstaunt, was ich alles gehört habe in den vergangenen Wochen. Bereits jetzt fest zu legen, welche CD Ende des Jahres auf welchen Platz kommen wird, erscheint mir schwierig. Deshalb bleibt meine sommerliche „toptwentyfive“-Liste unnummeriert:
CHARLES MINGUS: LIVE AT MONTREUX 1975, DVD (!): Sollte man mal vergessen, was Jazz ist, dann reicht es, dieses energiereiche Video einzulegen. (Es singt im Stil eines isländischen Fußballreporters: Saxophonist George Adams.)
Dagegen wirkt JOSÉ JAMES so smart, dass man ihm seine Behauptung nicht glaubt: YESTERDAY I HAD THE BLUES. Das ist bei fast allen Billie Holiday Tributes so.
Es gibt Holiday-Seelenverwandte, z.B. JEANNE LEE, deren 1961 erschienenes Album seinen Titel THE NEWEST SOUND AROUND zu Recht trägt; wegweisend auch Pianist Ran Blake.
Dagegen klingt WOLFGANG DAUNER auf der CD DAUNER & DAUNER mit seinen Stop and Go Kompositionen etwas kühl; vielleicht hätte er bei Sohn FLO und Fanta 4 mitspielen sollen.
Gefühlvoll KHATIA BUNIATISHVILI, piano solo – MOTHERLAND; doch Vorsicht: es gibt auch das Mutterland des 19.Nervenzusammenbruchs.
Auch YO-YO MA zieht es mutterwärts: SING ME HOME, vom SILK ROAD ENSEMBLE unaufdringlich begleitet auf der CD zum Film „The music of strangers“.
Ein Mixtape zum Thema WATER ist HÉLÈNE GRIMAUD gelungen; 8 Klavierstücke, romantisch bis zeitgenössisch, werden ergänzt durch musikalische Meditationen von NITIN SAWHNEY.
Schlicht SAXOPHONE heißt die CD von ASYA FATEYEVA, auf der sie wenig bekannte Saxophon-Kompositionen von F. Decruck, W. Albright, J.-D. Michat und J. Ibert vorstellt.
Ebenfalls selten zu hören sind die Cembalo-Konzerte von Gorecki und Geminiani. Höhepunkt von TIME PRESENT AND TIME PAST“ ist die Steve-Reich-Interpretation von MAHAN ESFAHANI: über 16 Minuten die Wiederholung einer einzigen Phrase. Das erfordert starke Nerven.
An Reich, Glass, Riley erinnert die Musik von MOONDOG, der Jahrzehnte lang in Wikinger-Kleidern an einer New Yorker Kreuzung stand und seine streng komponierten Musikstücke anbot.
Eine andere Großstadt, gleich dreimal vertreten: durch CHRISTIAN JOST mit seiner BERLINSYMPHONY, die sehr ruhig beginnt: um 4 Uhr in der Frühe…
… durch das Indie-Duo ME AND MY DRUMMER: LOVE IS A FRIDGE (zumindest ist das 1 Aspekt). Zur Musik kann man tanzen. Ich glaube, dass ich die erste CD des Duos noch mehr mag; …
… und durch WALLIS BIRD, in Berlin lebende irische Sängerin, deren CD YEAH einen Überblick über 7 Jahre Live-Dream-Pop gibt. Anspieltip: „Hardly Hardly“.
Die CD BRUTE von FATIMA AL QADIRI enthält auch tanzbare, eingängliche Musik; es bricht aber immer wieder eine gewalttätige Realität ein, etwa durch „a few troublemakers“ mit Pfefferspray und Dienstmarke.
KLANK bezeichnet sich als MusikAktionsEnsemble. Jeder der 4 Bremer Musiker spielt außer einem Instrument „Sachen“ – nicht leicht anzuhören, aber anregend und interessant.
Endlich mal wieder ein infomationshaltiges CD-Booklet. Alle Tracks von JOHANNES MOTSCHMANN’s CD ELECTRIC/FIELDS werden mit ihrem Entstehungsprozess vorgestellt
Der Grund des Erscheinens dieser CD auf der Sommerliste liegt darin, dass AKI RISSANEN sein Album AMORANDOM in Järvenpää / Finnland abgemischt hat. Es klingt nach Järvenpää – ich weiß es, denn ich war mal dort. PS: Der Flügel wurde von Juha Huotari gestimmt. Gut, dass jetzt auch die Klavierstimmer auf der Hülle auftauchen.
Bevor er so schöne elektronische Popmusik machte, war JAAKKO EINO KALEVI (dto. CD-Titel) Straßenbahnfahrer; gut vorstellbar, dass ihm die flaniertauglichen Melodien auf den Tramschienen Helsinkis eingefallen sind.
Meine Piano-CD des Jahres: BEAUTY & TRUTH, JOACHIM KÜHN NEW TRIO. Besonders überraschend Tracks 2 und 8 mit den Doors-Titeln „The End“ und „Riders on the Storm“.
Orgelstücke von Bach als Electronic-CD of the year; das weckt Erinnerungen an Wendy/Walter Carlos‘. 50 Jahre später hat sich der amerikanische Organist CAMERON CARPENTER eine Orgel mit allen ihm wichtigen weltweit gesampelten Sounds bauen lassen; erstmals zu hören auf ALL YOU NEED IS BACH. Natürlich ist es für den Musiker so bequem; aber ist es für den Hörer ein Gewinn, wenn die Originalinstrumente nicht mehr gespielt werden?
Beste Meditationsmusik: WHAT WAS SAID von TORD GUSTAVSEN, JARLE VESPESTAD und der deutsch-afghanischen Sängerin SIMIN TANDER, die Jazz mit Orientalischer Musik und etwas Meredith Monk verbindet.
Die Sparte „TomWaitsiana 2016“ bleibt noch unbesetzt. Es liegt mir einzig und allein die THEATERMUSIK von KANTE IN DER ZUCKERFABRIK vor; darin: The Black Rider.
Immerhin hat mich die Suche nach Tom Waits covers zu ANGELA MCCLUSKEY (CURIO) geführt; sie steht schon lange im Plattenschrank (1994). In ihrer Stimme ist etwas Billie Holiday dabei.
Ich muss auf ältere Aufnahmen ausweichen – die Plattenfirmen schicken immer noch keine Probe-Päckchen. Mein Sommerhit stammt aus dem Jahr 1998: 1,2,3 SOLEILS von TAHA, KHALED & FAUDEL. Seitenscheiben runter, Lautstärke voll auf, mit überwachten 30 km/h die Theo-Heuss (Stuttgarter „Party-Meile“) rauf und runter cruisen, wenn nicht gerade EM-Autocorso-Zeit ist (das wäre dann der Test für Katar).
Meine aktuelle No.1, erstmals mit einer Sopranistin: SIMONE KERMES – LOVE. Skurille Texte, eine unaufdringliche Stimme, Musik aus dem 16./17. Jahrhundert – einfach hinreissend schön. Wie wäre es damit mal auf der Theo-Heuss?