Im Dezember 1964 erschien eine Auskopplung aus dem Beatles-Album „For Sale“, ein Cover des Chuck Berry-Stückes „Rock And Roll Music“. Die historischen Bezüge waren mir natürlich fremd, abér diese Single, die erste meines Lebens, war die Eintrittskarte in ein neues musikalisches Universum. Ich konnte mich seit meinem zarten achten Lebensjahr daran nie satthören. Bis dahin sass ich, schon im Vorschulalter, morgens neben dem Kohleofen auf einem grossen roten Kissen, und hörte die Musik des Westdeutschen Rundfunks. Später hätte ich sagen können: Nachkriegswirtschaftswunderbiedermeier. Ich konnte meist schnell mein Gefühlsurteil fällen (fucking frühreif). In jungen Jahren war man natürlich noch besonders verführbar für allerlei Süssholzraspelei von Caterina Valente bis Frieddie Quinn, aber auch grossformatige Tanzorchester betraten die heimische Bühne. Als Kind mochte ich keine Bläsersätze, Duke Ellington war damals auf Japanreise, und ich sollte ihn erst viel später kennenlernen, in einem abgelegenen Traumhotel auf Mallorca. Und dann eben die Single, die mein Leben über Nacht veränderte. „The basic track was recorded with drums and bass on track one, two guitars on the second, and Lennon’s vocals on track three. Afterwards Lennon, McCartney and George Martin all overdubbed a piano part on a Steinway together.“ In dieser Zeit waren meine Leibgerichte (ich weiss, das ist von brennendem Interesse, denn Musik geschieht nie in einem Vakuum) Apfelpfannekuchen, Waldbeerpfannekuchen, Nudeln mit Ketchup, Himmel und Erde, Nudeln mit Zucker (ist mir gerade noch eingefallen), Haferflockensuppe und Brandtzwiebäcken, und Pfefferpotthast. Es geht ja nicht immer nur um Seelennahrung. Aber was für eine Zeit: nachts, in einem meiner Serienträume, besuchte mich eine indianisch aussehende Amazone, die mich am ganzen Körper massierte. ich konnte das nicht einordnen. Morgens dann Schule: „Gebrüder Grimm“ hiess der alte Bau, ich schoss Tore auf dem Schulhof, ich rieche heute noch das Leder meines Schulranzens. Einmal starb über Nacht der Vater eines Schulkameraden, der Helge hiess. Zuhause legte ich die magische Single auf, und die Welt fing sich an zu drehen, wenn ich meinen Hüpftanz dazu aufführte. Ohne Hüftschwung, Elvis blieb mir ohnehin fremd, ausser wenn ihm jemand im Hotel das Herz brach. Und seinen schrägen Lachanfall auf einer Live-Platte mochte ich auch gern. Gabi war acht Jahre alt, wie ich, sie schlief ein Stockwerk, also allenfalls drei Meter unter mir. Ich wäre so gern in ihr Bett gekrochen. Ich weiss nicht genau, was ich dann getan hätte, aber ich hatte schon Küsse im Fernsehen gesehen, ich hatte eine nächtliche Liebeslehrerin, wahrscheinlich hätte ich geschnurrt wie eine Katze und endlos ihre Lippen geleckt. Rock And Roll Music. Viele Jahre später schlief ich mit einer der schönsten Frauen Dortmunds (sie hiess nicht Claudia), und sie war tatsächlich 1966 bei den Beatles in Essen. Nein, erzählte sie mir, sie gehörte nicht zu den Teenagern, die kreischten und reihenweise in Ohnmacht fielen. Und dann nahm sie mich noch einmal.
Archives: Dezember 2015
2015 22 Dez.
Es war einmal vor langer Zeit (Weihnachts-Remix)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
2015 21 Dez.
Gregor öffnet seinen Plattenschrank (105)
Gregor Mundt | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 3 Comments
Wenn der Tempo mit dem Jukebox-Man kommt …
Das war nicht ganz einfach, jetzt, um diese Zeit, die Kneipiers zu erreichen, bei denen meine Boxen stehen. Viele haben im November und fast den ganzen Dezember hindurch geschlossen, andere den ganzen Winter über. Da fällt mir ein, jedes Jahr dasselbe, das Frühjahr bricht an, die Tore der Kneipen öffnen sich, frische Luft vertreibt den Wintermief, die Jukebox wird angeworfen und … tut sich nichts, die gewählte Platte wird zwar angesteuert, die Nadel setzt sich in die Eingangsrille und dann: nichts. Der Plattenteller dreht sich nicht; mindestens eine Hey-Jude-Länge passiert nichts. Dann, wenn der Wirt mich bis dahin nicht schon erbost angerufen hat, beginnt der Plattenteller zu ruckeln, zu zuckeln, die Platte eiert fürchterlich, weitere 30 bis 40 Minuten später kann man dann – vielleicht – die gewählte Platte in Originalgeschwindigkeit hören. Der Kenner weiß Bescheid, die Schmierung der beweglichen Teile der Box verharzt bei längerem Nichtgebrauch der Musikbox und dann kommt es zu dem eben geschildertem Effekt.
Zurück zum eigentlichen Thema: ich wollte die Kneipiers erreichen, um von ihnen zu erfahren, welche Platte denn am häufigsten gedrückt worden ist. Interessiert haben mich allerdings nur die 2015 erschienenen Musikstücke. Das macht die Sache natürlich kompliziert, weil in meinen alten Boxen ein mechanisches Zählsystem die zehn häufigst gewünschten Titel zwar anzeigt, aber natürlich nicht zwischen „Yesterday Man“ von Chris Andrews aus dem Jahre 1965 und Robert Forsters „Let Me Imagine You“ aus dem Jahre 2015 unterscheidet. In manchen Kneipen sind fast nur Oldies unter den ersten zehn am häufigsten gedrückten Platten und, wie erfahren wir dann, wie oft neuere Platten gedrückt wurden? Eben, schwierig. Jetzt wissen natürlich meine Jukebox-Pächter von meiner Vorliebe für Hitparaden und haben eine So-In-Etwa-Hitliste erstellt. Prima, das ist ja nun auch aussagekräftig. Und hier sind sie die Top 12 der Jukebox-Kneipen 2015 (wie gesagt, Oldies bleiben außen vor – gerne ein anderes Mal):
Ganz klar auf Platz
1. Sufian Stevens: The only thing, gefolgt von
2. Rickie Lee Jones: I´ai Connais Pas
3. Josh Ritter: Homecoming
4. Wilco: Maynetized
5. Montain Goats: Southwestern Territory
6. Joanna Newson: Sapokanikan
7. Robert Forster: Let me imagine you
8. Kacey Musgraves: Dime Store Cowgirl
9. Patty Griffin: Shine a different way
10. Buffy Saint-Marie: Ke Sakihitin Awasis (I Love you baby)
11. Martin Courtney: Northern Highway
12. Josh Ritter: Birds of the meadow
2015 21 Dez.
What’s cooking? Eine Buchempfehlung.
Lajla Nizinski | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Buchtipps, Food | 4 Comments
Slow food, Fast food, listen to „Food“.
Or read a book and then cook:
SUPPE JULIE ELIAS
Eine gebundene braune Wildsuppe, kräftig gehalten, wird beim Passieren durch das Sieb, mit abgeriebene Orangenschalen, etwas Colmans Senf, Orangensaft und Johannisbeergelee gewürzt. Vor dem Servieren wird die Suppe mit etwas Moselwein und Curacao abgeschmeckt und im Teller mit rohen Orangenfilets heiß angerichtet. Die Suppe soll nicht zu süß und nicht zu scharf sein, sondern angenehm pikant schmecken.
Julie Elias schrieb dieses Rezept in ihr Kochbuch, das sie dem Maler Max Lieberman widmete. Julie war Kulturjournalistin und Salonière in den 20 er Jahren in Berlin und eine enge Freundin von Max Liebermann. Er bedankte sich brieflich bei ihr für das ihm gewidmete Buch: “ … an einer guten Mahlzeit habe ich große Freude. Kunst und Natur sei auch im Essen eines nur: die matiére première muss gut sein, aber nur die Kunst kann aus ihr das Meisterwerk für unsren Gaumen machen.“
Wer mal draußen in Wannsee in der Max Liebermann Villa war, weiss, dass der Maler einen großen Gemüsegarten hatte, in dem er hauptsächlich Kartoffeln und Kohl anpflanzte. Nun, es waren Kriegszeiten.
In diesem ästhetisch schön gestalteten Buch stehen raffiniert einfache Rezepte, die durch Einfallsreichtum und Fantasie zu kulinarischen Geschmacksschätzchen werden.
Ich werde eine Nachspeise daraus bereiten, von der es heißt, sie sei „Musik für den Gaumen.“
Herausgegeben hat dieses Buch Meisterwerke für uns’ren Gaumen – Max Liebermanns Geselligkeit und feine Küche: Ursula Hudson-Wiedenmann, im vacat Verlag.
Nach einer Nacht, einmal mehr mit wenig Schlaf (Reisefieber?), wache ich auf, packe für den Leihwagen auf der Insel eine Sammlung alter Les Baxter-Exotica ein. Etwas schlaftrunken und überdreht bei Kamps am Hauptbahnhof, 6.30 Uhr. Die junge Frau zwischen meinem Tisch und der Kasse trägt ein Shirt mit zwei aufgeflockten Wörtern: „Heartbreaker“. Das andere fällt in den Halbschatten des Kunstlichts. Ich frage sie: – Sorry, wie heisst das Wort unter dem „Herzensbrecher“? – „Dreamcatcher“! Während der Zugfahrten nach Westerland gebe ich den galanten Kofferträger. Ungefähr vier- oder fünfmal. Ich versuche zu schlafen, ziehe den diskretesten BVB-Schal aller Zeiten übers Gesicht. Die Frau neben mir, eine alte Lady, besucht ihren Sohn, südlich von Oslo, sie liest einen Krimi, dessen Cover mich an trashige Jerry Cotton-Heftchen meiner Kindheit erinnert (ohne das grelle Rot). Im nächsten Zug nimmt die junge Frau, die in Schwarzweiss auch als Stummfilmgrazie der Zwanziger Jahre durchgehen könnte, „Die Herren von Winterfell“ in Angriff. Aber sie kommt nicht über lauter erste Seiten hinaus, wirkt abgelenkt. Irgendetwas liegt mit ihrer Liebe im Argen, rate ich. Das Buch von George R. R. Martin ist „dark fantasy“, ruht schwer in ihren Händen.
Hinter ihr sitzt eine Vollschlanke mit wachem Yoga-Blick. Die Füsse nackt. Textet hier und da was an ihren Lover. Es ist nicht das Lächeln, das übers Gesicht huscht, wenn man der Oma gute Weihnachen wünscht. Tatsächlich sehe ich, wie sie masturbiert. Manche Frauen können das, mit geschickten Reibungen der Oberschenkel aneinander. In vollen Zügen. Sie kommt lautlos. Sie braucht nur eine Minute. Charming. Lesen nur Frauen die dicken Wälzer von JoJo Meyes? Gilt als keineswegs flache „romantische“ Literatur. Die Einbände allerdings sehen aus wie die Packungen von Frauenzigaretten. „Eve“. Die schöne Blonde (kein Foto) ist am meisten von allen versunken in ihren Roman, „Ein ganzes, halbes Jahr“. Wer etwas wie liest: Die Leserinnen werden selbst offene Bücher. Ich schule den Blick und die Irrtümer. Übermüdet. Später stockt mir kurz der Atem, ich sehe ihre verkrüppelte rechte Hand. Ohne dass sie es merkt, schlüpfe ich in ihre Augen, entdecke einen Seerosenteich, einen Wasserfall. Sekundentraum.
Auch die Vollschlanke mit den nackten Füssen erkennt die Behinderung, bietet an, ihren Koffer vom Gepäckständer zu nehmen. – Nein, danke, sehr freundlich! Später sehe ich ihr fliegendes Haar, als ihr Freund auf dem Bahnsteig von Westerland auftaucht. Ich beziehe mein Zimmer, und fahre mit dem Leihwagen ins „Samoa“. So kurz vor dem Weihnachtstrubel ist das charmanteste Restaurant von Sylt angenehm leer, ich schwätze mit Anne über ihre erste Australienreise im Februar, erzähle ihr von Bill Brysons „Frühstück mit Känguruhs“, von gefährlichen Tieren und den Serienkillern „down under“. Anne hat guten Humor. Als ich den Espresso trinke, und den leckersten Apfelpfannkuchen des Jahres verspeise, traue ich meinen Ohren nicht. Ganz leise läuft „Carrie and Lowell“ von Sufjan Stevens. Wohltuend der kalte Wind. Kurzer Abstecher an den Strand. Im Auto lege ich Les Baxter auf, fürchterlich auf falsche Südseefolklore getrimmte Säuselchöre, begleitet von Barjazz und auf Afro getrimmten Trommeln. So stellte sich Tante Sam in den Fünfziger Jahren die ferne Welt vor, mir zu viel Martini Rosso und Hawaigitarre. Schmeisse Les Baxter raus, der Wind heult auf. Morgen früh, lese ich im Hotel, werde ich von einem Sturm geweckt. Ein Alptraum wäre aber auch nett. Ich bin der Traumfänger, zu sehr ins Leben verliebt.
2015 19 Dez.
„Stop Freeze Wait Eat“ – the raw and refined textures of the new Ivar Grydeland solo album (an email interview)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Michael: Looking at the cover photo, the titles, this record seems to be inspired by some polar fanatasies, desolate Northern areas or travel books about the middle of nowhere. So, what was the idea behind?
Ivar: The idea behind the titles is mainly about the sound and the music. More about that in the answer for the next question.
Michael: I read a bit about some the academic background of this project, but, thanks god, this is not the kind of academic stuff from the ivory tower. Can you explore a bit the idea of „extending“ the now of the improvisational sphere, how to make (knd of) the moment last longer, and how silence and quietness might add to it?
Ivar: Stop Freeze Wait Eat is one of the final artistic results of an artistic research fellowship project that I have been working on since 2011, carried out at the Norwegian Academy of Music. The project was financed by the Norwegian Artistic Research Programme, a programme for artistic practice-as-research. In this project I have produced solo improvisations that derive from the music of two improvising ensembles to which I belong: Dans les arbres and Huntsville.
I have used my own understanding and notion of these ensembles´ aesthetics and philosophy as a backdrop and a point of departure for the solo works. Trough the project I have aimed for an enhanced, articulated knowledge and understanding of my own approach as a member of two ensembles. I have tested how this knowledge can facilitate frameworks, filters and various approaches for my own solo works. The individual solo works of the project, such as Stop Freeze Wait Eat, are artistic responses to the collectively created music of the ensembles.
I am drawn to both the ensembles´ use of repetition, and small variations within repetitions, and how sounds bleed into each other, how the form composites, how we build in layers, our sparseness, our use of silence etc. I have pondered over the reasons why we rarely have pauses when we play, how our collective processes are depending on strong individuality etc.
The tiles on my solo release are mainly about elements I´m drawn to in the music of the ensembles (except the term eat in some of the titles. That´s there for other reasons.)
The opening track „Stop Freeze Wait Sing“ is a composition of layers of pitched down acoustic guitar. It was made from several sequences if improvisations, followed up by a lot of editing, restructuring, re-composing, over-dubs.
The other tracks are chiefly a result of a setup that allows me to play with what my own echo. I record what I play „in present“ with a delay unit. I send the original non-delayed signal (present) into one guitar amplifier, and the delayed signal (past) into another amplifier. What I do in „present time“ will come back to me in the second amplifier after a set time delay (usually around 10-12 seconds). This setup triggers an interesting self-dialogue. All the choices I make will come back to me after a while. I am stuck with all the ideas, good and bad, they will come back to me in a while. After a time delay. And they will stay. At least for a little while. This setup allows me to anticipate what I will have to communicate with in a while. I prepare my own surprises. I buy my own birthday present. Almost if I try to look into the future.
I think this concept works best when I am not considering the delay purely as a repetition of the real thing, as an echo, but rather something that also is the real thing.
Something that happens in present time even if it already has happened … – not purely an echo of what was, but something that is.
This combination of what I do in „present time“, my own anticipation of the near future and what I did in „past“ is what I call an „extended now“. I regard Stop Freeze Wait Eat as a collection of studies in „extended nows“.
Michael: What´s the idea of approaching a skeletal form of American folk archaics on one, two tracks. One could see it as a parallel to John Fahey´s aercheological research for lost tunes of the past … at least I got that impression.
Ivar: I hear a lot of subtle melodies and rhythm inside this dark and slow electronic landscape. Rhythm that can be quite fast, considering the general slowness of the electronic material. I think I just felt that the music needed to be cheered up a little. And this is what I heard.
I have listened a lot to John Fahey´s music, of course. I just started reading some of his stories, the other day. I didn´t really know about them, until I came across the stories collection How Bluegrass Music Destroyed My Life. I was immediately attracted to the title, of course. What a great title! I highly recommend this book.
Michael: What I love about this work, is the kind of tension and suspense it has to offer By mostly relying on sound and texture. It would be wrong to call it „ambient avant improv“, cause I don’t know if it works as inspiring background music. At one moment The guitar (or whatever it is) sounded quite like a Japanese koto. Is there, for you, an Asian element in the whole record, apart from its Nothern territories?
Ivar: I´ve been inspired by the sound of both Japanese koto and shamisen, but I don´t recall if I ever thought about those instruments while I made this record. There is also something about the Japanese Noh tradition that is a great inspiration to a lot of the music I do. Especially the slowness and the tension, I guess.
Michael: Last question – once more, the titles. The rather special atmospheres of the music. Ascetic, stripped-down. Is there really no hidden story behind it, no peculiar imagery – and will you tell me: it’s all about the sound?
Ivar: It is all about the sound. Sorry to be so boring. There is no story behind. However, I like the fact that the titles give such associations, too.
2015 19 Dez.
Harmonia – live in Hamburg 1975
Jan Reetze | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Harmonia | 1 Comment
Im Fernsehen läuft an diesem Abend Sie kamen von jenseits des Weltraums. Im Kulturzentrum Fabrik in Hamburg-Altona spielt Harmonia. Diese Band kommt nicht von jenseits des Weltraums, sondern aus dem Dörfchen Forst im Weserbergland, aber das ist für die meisten Hamburger so ziemlich dasselbe. Und auch, wenn der Name eher an einen Gesangverein denken lässt: Die Musik von Harmonia ist utopischer als der Film.
Harmonia gehört zu jenen Bands, die vor ihren Auftritten nicht genau wissen, was sie spielen werden. Das kann zu endlosem Genudel führen, es kann aber auch hypnotische Momente erzeugen, wie sie nur aus dem freien Zusammenspiel heraus entstehen können. An diesem Abend des Jahres 1975 funktioniert es.
Weil die Gestalt des alten Fabrikgebäudes es anbietet, spielt die Band auf zwei Ebenen. Links vor der Bühne Michael Rother mit seiner leopardenfellgemusterten Fender Mustang, die vormals dem Kraftwerker Florian Schneider gehört hat. Rechts Hans-Joachim Roedelius an seinem Elektronikturm. Oben auf der Bühne das Markenzeichen der Band, der Sonnenschirm mit den bunten Glühbirnchen. Unter dem Schirm Dieter Moebius, auch er gebietet über eine Elektronikburg. Und ein Schlagzeug steht auf der Bühne. Das kommt aber erst in der zweiten Hälfte des Abends zum Einsatz. DeLuxe, die zweite LP der Band, ist gerade erschienen, und auf ihr trommelt als Gast Guru Guru-Schlagzeuger Mani Neumeier. Der kann an diesem Abend nicht dabeisein, Lutz Oldemeier nimmt seine Stelle ein. Oldemeier kommt eigentlich aus einer anderen musikalischen Ecke, von den Jazzrockern Aera und Missus Beastly, aber seine Spielweise fügt sich auch in die Musik von Harmonia ein. Der Dämpfung wegen ist sein Schlagzeug mit weißen Tüchern abgedeckt. Ein alter Trick, den auch Ringo Starr schon draufhatte. Harmonia nämlich spielt leise – so leise, dass das ungedämpfte Instrument unangenehm aus dem Klangbild herausfallen würde. Einzig im Schlussstück des regulären Teils zieht die Band ihre Lautstärke für ein paar Augenblicke kräftig an.
In der Zugabe spielt Harmonia dann wieder etwas Leises: „Es war einmal“ vom Cluster-Album Sowiesoso. Wie immer zu fortgeschrittener Stunde in der Fabrik vermischen sich die Klänge der Musik zunehmend mit dem Klirren der auf dem Boden abgestellten Biergläser, die von umherwandernden Zuschauern umgestoßen werden.
Eine vom Publikum geforderte weitere Zugabe gibt es nicht, statt dessen ruft Roedelius zur allgemeinen Erheiterung in den Raum: „Macht ihr doch mal was!“ Aus den Hauslautsprechern tönt Lou Reeds Transformer, die Platte, die hier allabendlich signalisiert: Wir möchten jetzt Feierabend machen.
Es sind nicht viele Zuschauer da an diesem Abend, vielleicht 50 oder 60. Immerhin ein paar mehr als die legendären 16, die auf dem Album Live 1974 das Publikum bilden. Und auch, wenn ich mich nach den vier Jahrzehnten, die das alles jetzt her ist, an viele Details nicht mehr erinnern kann: Das Konzert als Ganzes ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Es gibt nicht viele Konzerte, von denen ich das sagen könnte.
2015 18 Dez.
„Turning Time Around“ – Die Liste der Radionacht Klanghorizonte vom 19. Dezember (Deutschlandfunk)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 9 Comments
„Taken as a whole, The Complete Works demonstrate that Harmonia did a small handful of things brilliantly well, and those happened to be things that no one else was doing. They also happened to sound like what various kinds of experimental music would sound like 20 years later and, I’m guessing, what some strains of it will sound like 20 years from now.“ (Mark Richardson on „The Harmonia Vinyl Box Set“)
DEUTSCHLANDFUNK – 19.12. – 1.05 Uhr bis 6.00 Uhr live mit M.E. – Jahresrückblick: Mette Henriette / Christina Vantzou / Laurie Anderson / Ivar Grydeland / David Torn / David Rothenberg / Polar Bear / Joanna Newsom / Julia Kent / Sufjan Stevens / Tigran Hamasyan / Matana Roberts / Kaczirek & Schneider / Africa Express \\\\\ Nahaufnahme (die britisch-norwegische Formation Food): Veggie / Last Supper / Molecular Gastronomy (alle Rune Grammofon) – Quiet Inlet / Mercurial Balm / This Is Not A Miracle (alle ECM) \\\\ Zeitreisen: Laughing Hands (Australien, 1981-1982), King Crimson (New York, 1981), Harmonia (Niedersachsen 1974-1976)
Und ein herzlicher Dank für einen Brief von Jan Reetze aus Pittsburgh, sowie die Bereitstellung verloren gegangener resp. unauffindbarer Musik von M. Ahrends, I.J. Biermann, und G. Mundt.
2015 18 Dez.
Mittelwelle abschalten, nein bitte
Lajla Nizinski | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
In unserer landläufigen Gesellschaft ist das Breitband nicht überall vorhanden. Wenn ich von Düsseldorf nach Bremen fahre, habe ich weitstreckenweise keine Internetverbindung. Nun wird Ende des Jahres die Mittel – und Langwelle abgeschaltet. Das finde ich sehr schade. Mir wird die Mittelwelle auf meinen Reisen fehlen. Vorgeschlagen wird das Digitalradio. Das ist kostenintensiv und ist nicht stets einsetzbar. Schon garnicht bei Stürmen aus Nordoooost. Ich höre den Seewetterdienst sehr gerne. Und jetzt?
2015 17 Dez.
Seven Excellent TV Series of 2015
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Bloodline, TV Serien | 2 Comments
1. The Affair (Season 1, Netflix)
Well, that really looks like a not so new skin for an old ceremony. Long love tested, a great family on the verge of falling apart? Who should take a look? At all these middle- and upper-class-dramas? Well, the psychological element is damned subtle, mysteries are slowly revealed, and you haven’t seen it – that way – ever before. The surprise of it all: no cliches involved!
2. Fargo (Season 2)
The second season tells a new story with familiar elements: the coldness of Minnesota, the black heart of evil, the desaster of one, two wrong steps of the ordinary humans. And a cold-blooded Indian discovers his own vulnerability. Forget happy endings. The Coen Brothers must have been delighted.
3. True Detective (Season 2)
The second season comes along with a new cast and changes from dark to Caravaggio blackness. All is lost. The high suspense factor of the first season is in parts sacrificed for atmosphere, Twin Peaks-fuelled dreamscapes, and hard hitting shock moments. Entropy rules. The critics showed thumbs-down, but you should never believe critics. Masterclass.
4. Bloodline (Season 1, Netflix)
If Eugene O’Neill would live today and teamed up with young Sam Peckinpah, this could have been their masterpiece for contemporary television. Old school family drama, but executed with slow-burning perfection. The past is coming back to haunt a whole family. The past has a name: Sara. And another name: Danny. And its own truth: a bag full of lies.
5. Humans (Season 1)
Once there were butlers, now there are robots. An eerily crafted drama. With its cautionary tale of robots taking on increasingly human aspects, this unnerving newcomer hardly is pioneering new fantasy territory. But what it does, it does very well. AI is an ongoing hot topic. Humans brings the debate to the suburban family level and pulls off a well-paced look at what draws the line between human and machine.
6. No Offence (Season 1)
A weird mix of film noir territory (shot in Manchester) and sharp wit, „No Offence“ succeeds with tricky suspense, and a trio of fantastic female protagonists. Although some of the action in the police station occurs in the lavatories, what saves No Offence from being exhaustingly grotesque are its underlying warmth and humanity.
7. Mad Men (The Final Season)
It still gets under our skin, with the archetypal version of an anti-hero, who approaches the big fall, all done with painstaking reconstruction of a long gone era. You see it all coming, and then … the final episode is mind-blowing.