Nach einer Nacht, einmal mehr mit wenig Schlaf (Reisefieber?), wache ich auf, packe für den Leihwagen auf der Insel eine Sammlung alter Les Baxter-Exotica ein. Etwas schlaftrunken und überdreht bei Kamps am Hauptbahnhof, 6.30 Uhr. Die junge Frau zwischen meinem Tisch und der Kasse trägt ein Shirt mit zwei aufgeflockten Wörtern: „Heartbreaker“. Das andere fällt in den Halbschatten des Kunstlichts. Ich frage sie: – Sorry, wie heisst das Wort unter dem „Herzensbrecher“? – „Dreamcatcher“! Während der Zugfahrten nach Westerland gebe ich den galanten Kofferträger. Ungefähr vier- oder fünfmal. Ich versuche zu schlafen, ziehe den diskretesten BVB-Schal aller Zeiten übers Gesicht. Die Frau neben mir, eine alte Lady, besucht ihren Sohn, südlich von Oslo, sie liest einen Krimi, dessen Cover mich an trashige Jerry Cotton-Heftchen meiner Kindheit erinnert (ohne das grelle Rot). Im nächsten Zug nimmt die junge Frau, die in Schwarzweiss auch als Stummfilmgrazie der Zwanziger Jahre durchgehen könnte, „Die Herren von Winterfell“ in Angriff. Aber sie kommt nicht über lauter erste Seiten hinaus, wirkt abgelenkt. Irgendetwas liegt mit ihrer Liebe im Argen, rate ich. Das Buch von George R. R. Martin ist „dark fantasy“, ruht schwer in ihren Händen.
Hinter ihr sitzt eine Vollschlanke mit wachem Yoga-Blick. Die Füsse nackt. Textet hier und da was an ihren Lover. Es ist nicht das Lächeln, das übers Gesicht huscht, wenn man der Oma gute Weihnachen wünscht. Tatsächlich sehe ich, wie sie masturbiert. Manche Frauen können das, mit geschickten Reibungen der Oberschenkel aneinander. In vollen Zügen. Sie kommt lautlos. Sie braucht nur eine Minute. Charming. Lesen nur Frauen die dicken Wälzer von JoJo Meyes? Gilt als keineswegs flache „romantische“ Literatur. Die Einbände allerdings sehen aus wie die Packungen von Frauenzigaretten. „Eve“. Die schöne Blonde (kein Foto) ist am meisten von allen versunken in ihren Roman, „Ein ganzes, halbes Jahr“. Wer etwas wie liest: Die Leserinnen werden selbst offene Bücher. Ich schule den Blick und die Irrtümer. Übermüdet. Später stockt mir kurz der Atem, ich sehe ihre verkrüppelte rechte Hand. Ohne dass sie es merkt, schlüpfe ich in ihre Augen, entdecke einen Seerosenteich, einen Wasserfall. Sekundentraum.
Auch die Vollschlanke mit den nackten Füssen erkennt die Behinderung, bietet an, ihren Koffer vom Gepäckständer zu nehmen. – Nein, danke, sehr freundlich! Später sehe ich ihr fliegendes Haar, als ihr Freund auf dem Bahnsteig von Westerland auftaucht. Ich beziehe mein Zimmer, und fahre mit dem Leihwagen ins „Samoa“. So kurz vor dem Weihnachtstrubel ist das charmanteste Restaurant von Sylt angenehm leer, ich schwätze mit Anne über ihre erste Australienreise im Februar, erzähle ihr von Bill Brysons „Frühstück mit Känguruhs“, von gefährlichen Tieren und den Serienkillern „down under“. Anne hat guten Humor. Als ich den Espresso trinke, und den leckersten Apfelpfannkuchen des Jahres verspeise, traue ich meinen Ohren nicht. Ganz leise läuft „Carrie and Lowell“ von Sufjan Stevens. Wohltuend der kalte Wind. Kurzer Abstecher an den Strand. Im Auto lege ich Les Baxter auf, fürchterlich auf falsche Südseefolklore getrimmte Säuselchöre, begleitet von Barjazz und auf Afro getrimmten Trommeln. So stellte sich Tante Sam in den Fünfziger Jahren die ferne Welt vor, mir zu viel Martini Rosso und Hawaigitarre. Schmeisse Les Baxter raus, der Wind heult auf. Morgen früh, lese ich im Hotel, werde ich von einem Sturm geweckt. Ein Alptraum wäre aber auch nett. Ich bin der Traumfänger, zu sehr ins Leben verliebt.