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Archives: Peter Handke

2021 11 Apr

Mein Tag in einem anderen Land

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Z. lebte in einem Zelt im tiefsten Wald, nicht weit vom Flughafen entfernt, der an guten Tagen seine Lebensader war, wenn er nicht von einem Obrigkeitsvertreter verscheucht wurde. Meist trug er eine große verspiegelte Sonnenbrille, die er nur äußerst selten absetzte, meist wenn er einen der seltenen Momente hatte in denen er den Kontakt zu seinen Mitmenschen suchte. Er lebte abgeschieden in seiner eigenen Welt und leise vor sich hin murmelnd, seltener einmal klagend oder gar schimpfend. So kreuzten sich unsere Wege an einem seltsamen Ort, einem Gebäude dessen endlos lange Gänge fast labyrinthartig ins Leere liefen. Er war nicht sehr gesprächig, hatte dicke Kopfhörer auf und eine tief ins Gesicht gezogene Schirmmütze, die er Schirmmütze hieß, weil sie ihn vom Rest der Welt abschirmen konnte. Manchmal mochte er sprechen, meist langsam und etwas unsicher, wenn er von seinen Gesprächen mit den kleinen Vögeln im Wald, die er liebevoll fütterte sprach und ganz leise und geheimnisvoll, als er bekannte fast einmal eine Maus, die in sein Zelt eingedrungen war mit einer gußeisernen Pfanne erschlagen zu haben. Die Maus aber schaute ihn tief an, erkannte ihn und so entspann sich ein eigenwilliger Dialog zwischen ihnen, fremd den Menschen, die in bedeutungslastigen Begriffen die Welt erleben und voll absurder Schönheit für die, die die Freiheit des Augenblicks hörend erfahren können. Meist verbrachte er seine Zeit aber in einer Schlafwandlerexistenz und sein Zelt stand auf einem Ort, der das Gegenstück zu der hintersten Ecke eines vorzeitigen Friedhofes, an dem die Aufschriften auf den verbliebenen Grabsteinen schon lange nicht mehr lesbar waren, darstellte. Dort lebt der Protagonist der kleinen Geschichte von Peter Handke, die er „noch keinem Menschen erzählt hat“, einer Dämonengeschichte, aber weniger einer, die von Besessenheit als von Welt- und Selbstverlorenheit berichtet.

 
 

Wie das: Wir endgültig Durchgedrehten von einem öffentlichen Interesse? Ja: in dem Sinn daß wir, ohne uns dessen bewußt zu sein (wie denn auch?), der übrigen Bevölkerung als Spiegel dienten. Spiegel wovon? Spiegel des eigenen gefährdeten Inneren: „So bin ich insgeheim auch, und ebenso könnte es, morgen früh oder schon heute nacht, von einem Moment zum anderen aus mir herausschreien, und dann so weiterschreien, -kreischen, -toben ohne Ende.“ Aber derart gefährdet ist, nicht wahr, höchstens eine kleine Minderheit und keinesfalls die gesamte Bevölkerung? – Doch: die Bevölkerung, die ganze! – Und was war deren Interesse, sich von uns Besessenen gespiegelt zu sehen? – Sich so gespiegelt zu sehen, konnte, wenn nicht heilen, so doch, für den Augenblick, zurechtrücken, wie auch die Dinge einen selber, die Form und die Formen wahren, insbesondere hier draußen vor all den anderen, und zwar im, wie gesagt, Interesse der Öffentlichkeit!
 
 

Das Schreckliche ist ja nicht die Finsternis, vielmehr das viele Licht drinnen in mir, und um mich herum. Wie böse ist es, dieses Licht. Eingekerkert bin ich in es … Lichtumzingelt allerwärts, bis hinein in die letzten Seelenwinkel … Hilfloser, ich Hilfloser!

 

Von dem Anblick eines bislang Fremden, diskret, selbstlos teilnehmend und freundschaftlich wird er aus seiner Zeit des luziden Wahns herausgerissen, der Dämon weicht und er kann seine Reise weg von den alten Räumen für einen Tag in eine Welt des Namenlosen, des Unbenannten mit dem Gefühl von Erleichterung und Befreiung begehen. In fast skizzenhaften Fragmenten durchstreift der namenlose Protagonist seinen neuen Tag, begegnet Trug und Täuschung und weiß sie aber mit skurrilem Regelwerk als vorgeschobener Handlungsanleitung zu bannen, findet Freude an den Hindernissen und erschließt sich das Zentrum einer fiktiven – und doch so realen – fremden Stadt. In diesen Momenten setzte auch Z. seine verspiegelte Sonnenbrille und die Schirmmütze ab, sah mir lachend in die Augen und pointierte den Augenblick mit einem kleinen Vers (wie auch der Protagonist die Sprüche und Reime der Anderen wiedergibt), mitunter auch von Ringelnatz oder Karl Valentin. Da war er ganz anwesend, einfach hier. Eine kleine Initiation, deren reduktionistische und wunderbar beobachtend-teilnehmende Betrachtungsweise dem wertenden Geist einen der Plätze jenseits des wahren Erlebens zuweisen. Mein Tag in einem anderen Land.

Auf den Spuren der Obstdiebin – Eine herbstliche Reise in die Picardie
 
 

 

Und noch eins: für Zwischenzeiten sorgen, möglichst viele. Wie habe ich jedesmal aufgeatmet, und ruhiger geatmet, sooft eine dramatische Geschichte unterbrochen wurde mit einem „in der Zwischenzeit“. Die Zwischenzeiten, sie stehen in deiner Macht. Daß du sie dir nicht nehmen läßt! In den Zwischenzeiten, auf den Zwischenstrecken, da geschieht´s, da ereignet es sich, da wird’s, da ist´s. Suchen, innehalten, rufen, rennen, die Wälder, die kleinsten, vor allem die, durchstöbern, die Hauptstraßen, die Städte, die Weiler, vor allem die, peinlich in Augenschein nehmen, ja. Aber in der Zwischenzeit den Weg hinter den Gärten zu nehmen, das kann nicht schaden.

 

 

Das war an der Regionalbahnstation Saint-Christophe von Cergy, gedacht wohl als Zentrum der Zentren der Neuen Stadt, als Name jener der längst verschwundenen Kirche da, gewidmet dem einstigen Ortsheiligen, dem Christophorus, dem Fährmann, der einst auf seinem Rücken das Kind Christus, das dabei schwer und schwerer wurde, nachts über einen Fluß getragen hatte, über alle Flüsse, und so auch hier über den Fluß Oise. An der Stelle der Kirche Saint-Christophe steht nun, was das Wahrzeichen der Neuen Stadt sein soll, ein Stahlgerüst in Gestalt einer mindestens kirchturmhohen Arkade, unter die eine monumentale (Durchmesser zwölf? Sechszehn Meter – nachzuschauen im Internet) stählerne, im Raum zwischen den Speichen allerdings den Blick hinauf in den freien Himmel durchlassende Uhr angebracht ist, mit römischen Ziffern, von I bis XII.

 

 

Die Abteile hatten sich zwar nicht geleert, aber viele Plätze waren frei, und man konnte, weg von der engen Treppe, für sich sitzen, im Abstand zu den spärlich gewordenen anderen. Wir saßen? Wir lasen? Wir schauten aus den Zugfenstern? Wir seufzten? Nichts von gleichwelchem „wir“. Kein „wir“ mehr heute. “No Milk today, my love has gone away“? …

Hell war es zusehens geworden in den Abteilen, die offen ineinander übergingen, bis zum ersten Wagen vorn an der Lokomotive, wo ich saß mit dem Rücken zur Fahrt, bis zum letzten hinten, wo sich hinter der Glastür die Gleise wegspulten; hell von der nach Pontoise, und spürbarer noch, nach Osny und Bossy I´Aillerie, von Mal zu Mal weniger besiedelten, da und dort, wie auf Restflächen, kultivierten, mehr und mehr aber wie verwilderten Landschaft – die Strecke führte flußauf durch das Auental der Viosne _; hell von den, Halt für Halt, sich vergrößernden Leerräumen im Zug, die mich an weiße Stellen auf – nur den alten? – Landkarten denken ließen; …

 

 

Und gleich wieder ausgestiegen, an der in jeder Hinsicht unvergleichlichen Haltestelle von Lavilletertre, fern vom weder sicht- noch hörbaren Dorf. … Als einziger ausgestiegen, glaubte ich mich an der Station allein. Ein tiefes Ein- und Ausatmen, mehrmals. Da stand es wieder, das ehemalige Bahnhäuschen, längst geschlossen, und verrammelt. Immerhin war es frisch gestrichen, und würde vielleicht eines Tages neu geöffnet, nur: für wen? Keinen Schalter gab es mehr. Hatte es vielleicht nie einen gegeben? Aber auch kein Fahrkartenautomat irgendwo – eine der Unvergleichlichkeiten des Zughalts von Lavilletertre.

 

 

Weg von der Tierwelt. Heim in die Zivilisation, brav den regulierten Fluß entlang in die Stadt. Wie hieß doch das Lied aus dem anderen Jahrhundert, gesungen von Petula Clark für Amerika und darüber hinaus in die Welt “Downtown“. Ob freillich Chaumont-en-Vexin etwas wie eine Downtown hatte? Außerdem war sie, als Obstdiebin, in einer “Downtown“ nicht am Platz, war da nie am Platz gewesen, hatte sich, vor allem, da nie erwünscht gefühlt. Und wie tat es ihr not, wie bedürftig war sie, wie sehnte sie sich danach, sich endlich wo erwünscht zu finden. Wie im übrigen “downtown“ übersetzen? Mit “Innenstadt“? Nein. Downtown war unübersetzbar. (Noch so eine Unübersetzbarkeit.)

 

 

Es ist noch früh, lang vor dem Abend. Trotzdem sollten die Obstdiebin und ihr Begleiter allmählich aufbrechen. Sie sind aber immer noch in Chars, und zwar wieder in einem Lokal, dem Kebab-vis-à-vis dem “Cafe de l´Univers“. Wie das? Aus Entdeckerlust. Aus Forschungsgeist. Erforschen und entdecken in einer Bude an der Durchfahrtsstraße?

 

 

Zwar war das die Straße, die nach Dieppe an den Atlantik führte und auch so hieß, „Route de Dieppe“. Aber erst einmal war es zum Meer noch weit, gut hundert Kilometer nordwestwärts. Und außerdem: jetzt nur kein Meer, nur von hier nicht weg ans Meer. Hier ist es. Da spielt es sich ab, hier und jetzt im Landesinnern. Wahr: die „Route de Dieppe“, die Departementalstraße 915, nachdem sie die Ile-de-France verlassen hat, auf ihrem Teilstück quer durch den westlichen Zipfel der Picardie bis zum Übergang in die Normandie, Dieppe als Endpunkt, hat dazu den Beinamen „Route du Blues“, und beginnt gleich oben auf dem Vexinplateau, kurz nach der Ortsausfahrt von Chars, eine amerikanische Meile und soundso viele russische Werst vor dem Dorf Bouconvillers, wo vor dem Wirtshaus “Cheval Blanc“, am Rand der „Route du Blues“, zur Mittagszeit, ungefähr auf halben Weg zwischen Paris und dem Meer, ein Laster hinter dem anderen parkt.

Und zuletzt blieben wir stehen und äugten in dem einzelnen, anscheinend leeren Quittenbaum an einem der Vexindorfränder nach der einen Frucht, und da war sie, da wölbte sich aus der Laubfläche ein Körper, ein Fruchtkörper, ein einzelner, der einzige.
 
 
 
 

 
 
Ich gratuliere Peter Handke zum Literaturnobelpreis.

Alle Zitate aus: Peter Handke – Die Obstdiebin, Berlin 2017.

In meinem Reisetagebuch findet sich der Eintrag vom 8.9.1970: wir reisen nach Jugoslawien ein. Wir nehmen den Bus von Triest nach Kozina, weiter nach Rijeka, mit einem anderen Bus bis Kraljevica. Wir schlafen in einer Pension „Frano“ am Strand.

Die Schönheit von Jugoslawien ist in dem Buch „Brücke über die Drina“ beschrieben. Ivo Andriç (1892-1975) hat dafür den Literaturnobelpreis bekommen. Lange vor Peter Handke. Die Brücke ist die beste Metapher für ein Land, das einmal als Vermittler in der Weltpolitik eine unvergleichlich wichtige Rolle spielte, als es ihm der Größe nach gebührte. Für uns war Jugoslawien ein fremdes Übergangsland zwischen zwei Welten, Ost und West, Christ und Moslem. Wir waren über die Sprachenvielfalt überrascht und fasziniert von der spektakulären Naturlandschaft.

 
 


 
 

Es war Ivo Andrić’s Verdienst, Serben, Kroaten und Slowenen zumindest sprachlich unter einen Verbund zu bringen. Wir Leser erfuhren aus seinen Büchern die ersten Details noch vor dem Balkankrieg. Peter Handke bangte zurecht um den Fortgang der Geschichte von Europa. „Indem man Jugoslawien zerstört  hat, hat man das wirkliche Europa zerstört.“ Peter Handke wollte Vorort sein, er wollte dabei sein, schauen, empfinden und fragen. Und vor allem begreifen. Und dann in Sprache umsetzen.“Nichts näher dem Göttlichen als die Sprache – die Möglichkeiten der Sprache.“

 

„Und Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen.“

(Peter Handke: Don Juan – erzählt von ihm selbst)

 

 
 

In dem wunderbaren Buch erzählt er von 7 Begegnungen mit Frauen, die verlassen werden und zwar auf so meisterliche, sanfte Art und Weise, wie das Leonhard Cohen tat. Handke lässt die Frauen in geografische Räume treten und hält sie dort in der Zeit fest – ganz der Nietzsche-Kenner – er bittet sie, den erfüllten Augenblick festzuhalten. Vermögen die Liebenden, die Liebedienerinnen ihren Don Juan zu erkennen? Seine Verführung? Was sind das für Frauen? Verführen nicht eher sie? Handke beschreibt die erste Frau unglaublich sinnlich. Es ist eine Rockerbraut in Lederklamotten mit nichts „drunter“. Auf dem Rücksitz einer schweren Maschine. So oder so, das kann Handke also auch. Ein weiterer Versuch. Die Versuche sind symptomatisch für sein Oevre. Er schaut, er empfindet, er fragt, er begreift … Auf einer Hochzeit im Kaukasus erzählt er, wie die Braut mit ihm flirtet.“ Jetzt gab es nichts mehr als die fremde Frau … Da saß keine Braut mehr, sondern nur noch die Frau … unbeschreiblich schön … Er erzählte weiter, dass er, in der Tür stehen geblieben,  sie so nah und so gross sah wie durch ein Telescop insbesondere so ausschließlich. Don Juan war kein Verführer. Er hatte noch nie eine Frau verführt. Zwar waren ihm welche begegnet, die ihm das nachgesagt hatten. Aber diese Frauen hatten entweder gelogen, oder sie wussten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, und hatten eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen.  Und umgekehrt war Don Juan auch noch kein mal von einer Frau verführt worden. Es war vielleicht vor gekommen, dass er solch einer Möchtegern-Verführerin ihren Willen, oder was es eben war, liess, doch im Handumdrehen wurde ihr dann klargemacht, dass es jetzt um keine Verführung mehr ging und dass er, der Mann, weder den Verführer verkörperte noch auch das Gegenteil. Er hatte eine Macht …“ (DON JUAN S.73) Eine geniale Vorlage für Pavarotti und die me too ladies …

Ich gratuliere Peter Handke zum Literaturnobelpreis, er hat ihn verdient. Ich wünsche ihm noch viele Leser. Und für seine genauen Skizzen noch viele kontemplative Betrachter.

2019 11 Okt

… und 2019

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In einem meiner ersten Kommentare hier auf dem Blog (ich war noch kein „offizieller“ Manafonista) ging es auch um Herbert Vesely‘s Film „Der kurze Brief zum langen Abschied“ nach dem gleichnamigen Text und Drehbuch von Peter Handke. Damals deshalb, weil in diesem durchaus typisch deutschen Roadmovie die Musik Brian Enos zu der wunderbar surrealen Atmosphäre wesentlich beitrug und die Unbestimmtheit vieler Szenen auf ein neues Niveau hob. Leider ist dieser Film aus dem öffentlichen Repertoire völlig verschwunden.

Vor etwas über 40 Jahren wurden die Texte Peter Handkes durch den großen Bruder einer Grundschulklassenkameradin in unsere Familie gebracht. Genauer besuchte er öfters meine Mutter und führte lange Gespräche mit ihr, was insofern ungewöhnlich war, dass sie sonst eine eher zurückhaltende und kontaktvermeidende Person war. Eines Tages brachte er, der übriges heute eine exzellente Bassgitarrenmanufaktur führt, „Die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt“ zu uns mit. Ein Büchlein mit Texten, die ich als damals Spätpubertierender verschlang und nach mehr verlangte.

So saß ich etwa ein Jahr später in der Oberstufe im Unterricht und las von den ewigen Redundanzen gelangweilt, Handke‘s „Kaspar“. Stille und unauffällig. Was meine Lehrerin nicht davon abhielt mich zur Ordnung zu rufen und mich scharf fragte, was ich denn da unter dem Tisch täte. „Lesen“ antwortete ich lakonisch und verkniff mir den Kommentar zum Stimulationsniveau ihres Unterrichts. „So, was denn? Dann lesen sie doch mal vor!“ legte sie nach. Doch der Moment ihrer vermeintlichen Überlegenheit weilte nur kurz, als ich ruhig begann einfach genau die Textstelle, an der ich mich gerade befand, vorzulesen. Wer mit dem Text vertraut ist, weiß, dass es sich fast nur um Ausführungen zum pädagogischen Frontalversagen handelt, klar im Inhalt und klar in den theaterreifen Aussagen. Desto weiter ich las, desto amüsierte zeigte sich der Kurs und desto stiller und verlegener wurde meine Lehrerin. Es war genau das letzte mal, dass ich beim Lesen in ihrem Unterricht gestört wurde.

Später trug ich lange Zeit meist eines seiner Journale, beginnend mit dem „Gewicht der Welt“ mit mir herum, weil sich diese kurzen, oft sehr präzisen Beobachtungen, die gerade die kleinen, leicht zu übersehenden Dinge fokussierten, hervorragend eigneten in den kleinen Momenten zwischendurch gelesen zu werden. Manchmal weckten sie mich auch einfach auf und zogen mich in eine Beobachterposition hinein, in der ich zum stillen Betrachter der Dinge werden konnte, die sonst nur zu schnell übersehen werden. Und genau diese feine Spur ist es, die ich an Peter Handke‘s Texten mag, so strittig sie vielleicht in anderer Hinsicht auch sein mögen und die nicht zuletzt auch zu etwas Doppelbödigem, wie dem „Versuch über den stillen Ort“ geführt haben.

 
 

 

 
 

 
 

Badenweiler ist eins der Paradiese, das die Götter jedes Jahr im Oktober öffnen. Ich trat ein. Über dem großen Tor stand LITERATUR UND MYTHOS.

 
 

Raoul Schrott sah ich schon im Bühnenlicht als Safranski noch mit seiner Definition brillierte: Mythen sind Erkenntnismaschinen. 

 

Und dann begann der atemberaubende Parforce-Ritt des MythenSpezialisten Raoul Schrott. Wir sind nicht das, was wir haben, sondern das, was wir wissen. Hemdsärmelig sagte er das, die Bedeutung wird mir erst nach dem Vortrag bewusst. Er erzählte uns eine alte persische Geschichte von einem König, der drei unerfahrene Söhne hat und sie deswegen in die Welt schickt. Anhand von erstaunlichen, lustigen Schilderungen dieser Prinzen, die einem Hirten helfen, dessen Kamel entlaufen war, das Kamel zu orten, ohne es gesehen zu haben. Raoul erklärt uns, dass das Kamel das Virus ist, das durch die Jahrtausende immer wieder in Texten je nach Wirt, Zeit, Kultur und Kolorit verändert wird. Faszinierend wie er den Bogen spannt von dem persischen Dichter über Buddha, den christlichen Legenden, Turandot bis Edgar Allen Poe. Safranski strahlt am Ende des Vortrags siegesbewusst Das historische Wissen hat eine unglaubliche Aufklärungsmacht. Es ist der absolute Gegner des Fundalismus.

 
 

Film von Peter Hamm: Der schwermütige Spieler – Peter Handke – Ein Porträt. (90 Min. 2002)

 

Der sympathische, enge Freund von Handke war anwesend und zeigte den Film, den er vorwiegend in Chaville in Handke’s Haus aufgenommen hatte. Es gibt keine DVD. Handke Verehrer mussten also nach Badenweiler pilgern und viele Fans waren angereist, um diesen Film zu sehen. Freilich waren einige von ihnen bereits aus Griffen gekommen, wo es inzwischen auch ein Peter Handke Museum gibt.

Während des Films lief Beatles Musik, Paperback writer, Help … Es ist ein sinnlicher Genuß, Peter Handke beim Mäandrieren zuzusehen: er behauptet etwas, nimmt es zurück, lacht und kehrt zu seiner Erstmeinung zurück. Es geht in dem Film hauptsächlich über das epische Schreiben. Aber auch um die Illusionen, wie sie uns enttäuschen.

Es gibt ein Buch zu dem Film mit dem Titel  Es leben die Illusionen.

Für mich war interessant zu erfahren, dass es Peter Hamm war, der Handke und Hermann Lenz zusammengebracht hat – „nebendraussen“ – „au net schlecht“.

 
 

Simon Strauss – Sieben Nächte

 

Die Welt, die ich in mir trage, lebt vom gesprochenen Wort, von Austausch und Augenaufschlag. Ich brauche das Gespräch, Gesichter, die leuchten. Freiheit und Freundschaft – die Worte haben doch denselben Stamm, gehören zusammen. Noch ist es nicht zu spät, das Virtuelle mit dem Handschlag, der Umarmung zu überlisten. Noch ist Zeit, gemeinsam zu streiten, eine Gruppe zu gründen mit dem Namen ‚Neue Sinnlichkeit‘.

Da steht also der Sohn von Botho Strauß auf der Bühne vor 400 Gästen und lächelt entschuldigend herab. (Er greift in seinem Text die Rentner an, Publikumsalter ist 65+) Nein Publikumsbeschimpfung geht anders, das was er liest, ist eher eine Bekenntnisschrift eines jungen Mannes mit der Frage: Was tun? Auf dem Verwirklichungstrip ist er nicht, er will Wirklichkeit: Die Welt braucht mich jetzt.

Am Abend beim Wein beklagt er mir gegenüber die harmoniesüchtige Elterngeneration, die keine Wutbürger will, sondern, dass ihre Kinder die Elternträume verwirklichen sollten. Ich kenne diese Vorwürfe von meinen Kindern und sage: halt nein, wir lebten und leben unsere Träume. Ich frage ihn noch nach dem Befinden seines Vaters. Es gehe ihm gut.

 
 

PATRICK ROTH – JOSEPH VON NAZARETH SUNRISE

 

Patrick Roth war für mich die Entdeckung auf den Literaturtagen in Badenweiler.

Er stand in seiner Jeansjacke und Turnschuhen am Lesepult und las mit einer sonorischen Stimme in einer rhythmischen Intonation, die zumindest mich sofort in eine andere Welt mitnahm. Die Syntax so merkwürdig altertümlich, das Thema biblisch, der Titel des Buches abgedreht SUNRISE. Patrick Roth hatte erzählt, dass er lange in Los Angeles gelebt hat, dort auch Film studiert hat. Das hört man in seinen Texten heraus. Seine Bildersprache ist stark, seine Symbolik nahe an C.G. Jung, sein Drama in Hollywood gelernt. Er hatte sich immer – besonders in Träumen – gefragt, welche Rolle Joseph neben Maria und Jesu gespielt hat. Er fühle sich in ein göttliches Drama hineingezogen. Traum und Wirklichkeit gehen ineinander über. Er liest über den Corpus Christi – how weird, diese Beschreibung vom und im Felsengrab. Dann höre ich schon von weit her „… dann erwachte ich. Der Auferstandene stand vor mir.“

Rüdiger Safranski nannte ihn einen ‚Fackelträger der Erinnerungen‘, er verglich ihn mit den großen Schriftstellern, z.B. Dostojewski.

 
 

Es lasen noch Cees Noteboom („Briefe an Poseidon“), Christian Ransmayr („Die letzte Welt“) und Barbara Vinken … alles vom Blatt ab. Ermüdend. Erfrischend dagegen Nino Haratischwili: Die Katze und der General. Rüdiger Safranski lobte ihr Erzähltalent und nannte ihr dickes Werk eine Liebeserklärung an Georgien.

 

Resumé: Badenweiler und Literatur ist eine lukullische Epikurmischung, die ein Literatenherz höher schlagen lässt. Britzinger Spätburgunder und Badischer Sauerbraten mit Steinpilzsauce verwöhnten ebenso wie die Gespräche am Rande der Lesungen bereicherten. Die Auftritte der Betriebssternchen hatten was Ansehnliches, das Fest kann also als empfohlen weitergesagt werden.

Vor ein paar Monaten schrieb ich an dieser Stelle ein paar Zeilen über die Wenders-Filme Alice in den Städten und Im Laufe der Zeit. Einige Jahre bevor diese Filme entstanden, wollte Wenders, Chefarztsohn, nach abgebrochenem Medizinstudium noch Maler werden. 1966 hatte er das Theaterstück Publikumsbeschimpfung von Peter Handke in der Städtische Bühne in Oberhausen gesehen. Damals traf er zum ersten Mal Peter Handke. Man soll sich über das gerade gesehene Stück ziemlich gestritten haben, hieß es. Während Handkes Zeit in Düsseldorf begegneten sich die beiden zufällig erneut. Hier in Düsseldorf legten Handke und Wenders dann den Grundstein für eine lebenslange Freundschaft. Für Wenders ist Handke der erste und beste Freund. Der Wunsch Maler zu werden, führte Wenders zunächst nach Paris, wo er allerdings weniger die Malerei als vielmehr für sich das Kino entdeckte. Er besuchte nun die Filmschule in München. Schon bald folgte die erste Zusammenarbeit der Freunde: Wenders drehte nach einem Buch von Peter Handke mit seinem Freund zusammen Drei amerikanische LPs, einen Fernsehkurzfilm für den Hessischen Rundfunk.

 
 
 

 
 
 

Zwei Jahre später folgte Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter. In beiden Filmen spielte die Musik eine zentrale Rolle, Im Wenders/Handkefilm Die Angst des Torwarts vorm Elfmeter muss der Held des Films, Josef Bloch, wegen eines Fouls vom Platz, rote Karte, das wirft ihn vollkommen aus der Bahn. Gezeigt wird Bloch, wie er in Kneipen abhängt, die Musikboxen bedient, zuhause, im Hotel, überall Musik hört. Atmosphäre wird über lange Einstellungen erzeugt – gezeigt werden Tankstellen, Busse, ein Bahnhofskino, Musiktruhen, Kofferradios, Spielautomaten, Warteräume, Flipperautomaten und immer wieder Jukeboxen – und jede Menge Musik gibt es zu hören, von Van Morrison, den Kinks, den Troggs und anderen, gesprochen wird wenig.

 
 
 

 
 
 

Musik spielte in diesem Film eine so überragende Rolle, dass der Streifen Die Angst des Torwarts vorm Elfmeter wegen ungeklärter Musikrechte über 40 Jahre lang nicht gezeigt werden durfte. Man kann ihn jetzt wieder sehen, aber was für eine Enttäuschung, nicht mit der Originalmusik.

Zuerst aber drehten die Freunde Drei amerikanische LPs, einen Fernsehkurzfilm, den ich bisher noch nicht anschauen konnte. Über viele Jahre war ich auf der Suche nach diesem frühen Roadmovie. Nun, jetzt bin ich von Freunden auf diese Adresse aufmerksam gemacht worden und gebe den Tipp hier natürlich gleich weiter. Dreizehn Minuten aus einer anderen Zeit, 1969 war das.

 
 
 

 
 
 

Und jetzt weiß ich auch, um welche drei amerikanischen LP es geht: Van Morrisons Astral Weeks; Green River von Creedence Clearwater Revival und Harvey Mandels Cristo Redentor.

Anderes Thema jetzt: die Firma Hubro Records ist für mich ja schon seit einigen Jahren eine Andresse für Überraschungen. Kürzlich bin ich auf Hilde Marie Holsen und ihr Album Lazuli gestoßen und war total begeistert. Miles spielt da aus dem Himmel. Man glaubt es nicht, was die junge norwegische Trompeterin da für eine Musik hervorzaubert. Das fast 17minütige Titelstück hat mich jedenfalls so umgehauen, dass die Platte mal auf jeden Fall unter die ersten zehn auf meiner Hitliste 2018 erscheinen wird. Übrigens ist es Hilde Marie Holsens zweite Arbeit, die bei Hubro veröffentlicht wird, Ask war ihr Erstlingswerk.

 
 
 

 

2018 3 Mai

Eine Peter Handke Biografie

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Was war er für ein Typ, zu Lebzeiten? Ein finster blickender Unglücksprophet, der schon als Kind um sich herum den „Tempel des Nichtendenwollenden Deutens und Bedeutens“ errichtet hatte und fortan darin wie in einem Gefängnis saß. Ein Meister der Dämmerung. (Malte Herwig)

 
Die Neugierde ist ein ausgezeichneter Kompass: sich genau dem widmen, was gerade von Interesse ist. „Was ist der Peter Handke wert: was hat es mit ihm auf sich, wer ist dieser Autor?“, genau das war jetzt die Frage und die Zeit schien reif, endlich einmal Wissen zu erlangen, das über Wikipedia hinausgeht und – das Krakelen eines Literaturpapstes noch im Ohr – vorurteilsfrei diesem Schriftsteller zu begegnen sowie Bildungslücken aufzufüllen.

Eine aktuelle Biografie kommt da gerade recht. Unvergesslich jene Abendstunden, in denen man sich einst nach langem Arbeitstag im Winter auf der Baustelle den Feierabend schön machte: mit einem bis zum Rand gefüllten Glas Fernet Branca, einigen Zigaretten und der Lektüre von Rüdiger Safranskis Heidegger-Buch mit dem Titel Ein Meister aus Deutschland.

„Ein Meister der Dämmerung“ – so heißt die Biografie über einen Meister aus Österreich, geschrieben von Malte Herwig und im letzten Jahr erschienen. Sie liest sich spannend wie ein Roman, sehr lebendig und frisch, und sie zeigt, um wen und was es sich handelt: um das paradigmatische Exempel eines Schriftstellers der Innenwelt-Erkundungen.

Peter Handke ist keiner für die großen Erzählungen, die sensationellen Plots und für das humoristische Fach. Was er schreibt, handelt vom Tiefgang seiner Empfindungen, von der Genauigkeit seiner Wahrnehmungen, dem angestrengten Bemühen um klischeefreie Wortfindungen. Wäre er Schweizer, es würde nicht wundern: ein Uhrmacher der Sprache, langsam, bedächtig, fast pedantisch. Hier kann man von Handke lernen: Sprache – schriftlich oder mündlich – präzise zu benutzen. Die Stunde der wahren Empfindung.

Etwas Wesentliches verbindet unsereins mit diesem bedeutenden Schriftsteller – und hier mag der Kernpunkt des Interesses liegen: es ist das Bedürfnis nach Stille. Wanderungen, Vereinzelung und Ausweitung, die Selbsterleichterung durch das Erleben von Landschaft und Natur werden als ein Ausweich-Pol benutzt, über den man dann wieder den Zugang zu den Mitmenschen findet. Wie beim Billard: über die Bande, das Dreieck, spielen. Auch bei Handke zeigt sich diese Ambiguität im Bedürfnis nach Rückzug und nach Gemeinschaft.

Malte Herwigs Biografie ist auch eine Anleitung zum Schriftstellerwerden, ohne dabei unglücklich zu sein. Ein facetten- und beziehungsreiches Leben, das da jemand führt und führte, mit der nötigen Portion Egozentrik und Rigorosität, die unabdingbar scheint für einen erfolgreichen künstlerischen Werdegang. Peter Handke ist Musikliebhaber, seine Tochter Amina ist DJ. Über Musikgeschmack kann man streiten, aber hier schreibt einer auch im Horizont von Selbstfindung – eine wichtige Stimme im Sound der Pop-Kultur.
 

 
Malte Herwig: „Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biografie“, DVA
 

Wenn der Tempo mit dem Jukebox-Man kommt …
 

Es wird Frühjahr. Die Jukebox-Kneipen, die über die Wintermonate geschlossen hatten, erwachen zum Leben, die Wirte öffnen die Läden, lassen frische Luft herein, schalten schon einmal die Jukebox ein, bemerken, dass die Schallplatten nicht gleichmäßig laufen, wenn sie sich überhaupt bewegen. Das altbekannte Problem: die Schmierung der beweglichen Teile wird während der langen Ruhezeiten zäh und es dauert seine Zeit bis alles wieder rund läuft.

Ein Wirt schickte mir neben seinen Plattenwünschen auch noch einen kurzen literarischen Text, der ihm während des Lesens an langen Winterabenden besonders gefallen hat, es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Buch von Peter Handke „Versuch über die Jukebox“:
 

An einem Spätwinterabend saß er, in den Skripten das um so stärker anstreichend, was er um so weniger aufnahm, in einem seiner bewährten Jukebox-Cafès. Dieses lag an einem für dergleichen eher untypischen Ort, am Rand des Stadtparks, und auch die Kuchenvitrine und die Mamortischchen paßten nicht zu seinem Ding. Die Box spielte, aber er wartete wie immer auf die von ihm selbst gedrückten Nummern; dann erst war es richtig. Auf einmal, nach der Plattenwechselpause, die, mitsamt ihren Geräuschen – dem Klicken, dem Suchsurren, hinwärts und herwärts durch den Gerätebauch, dem Schnappen, dem Einrasten, dem Knistern vor dem ersten Takt-, gleichsam zum Wesen der Jukebox gehörte, scholl von dort aus der Tiefe eine Musik, bei der er zum ersten Mal im Leben, und später nur noch in den Augenblicken der Liebe, das erfuhr, was in der Fachsprache „Levitation“ heißt, und das er selber mehr als ein Vierteljahrundert später wie nennen sollte: „Auffahrt“? „Entgrenzung“? „Weltwerdung“? Oder so: „Das – dieses Lied, dieser Klang – bin jetzt ich; mit diesen Stimmen, diesen Harmonien bin ich, wie noch nie im Leben, der geworden, der ich bin; wie dieser Gesang ist, so bin ich, ganz!“? (Wie üblich gab es dazu eine Redensart, aber, wie üblich, entsprach sie nicht ganz: „Er ging in der Musik auf“.)

 
Ein wunderbarer Text!
 
Jetzt aber zu den Platten: natürlich bleiben die Klassiker in den Boxen. Zu ihnen gehören auch zwei Singles der Sparks: `This Town Ain´t Be Big Enough For Both Of Us´ und `Amateur Hour´, beide erschienen 1974. Ich erwähne hier besonders die Sparks, weil sie unlängst auf ARTE zu sehen waren und – ehrlich, man glaubt es kaum – sie spielten die beiden Lieder am Schluss des Konzerts in alter Frische.
 
 
 

 
 
 
Nun aber endlich zu einigen – ich nenne mal elf – eingegangen Jukebox-Plattenwünschen für dieses Frühjahr:
 
Twain: Solar Pilgram (The Sorcerer / Nov.2017)

Tristen: Glass Jar (Sneaker Waves / Febr.2018)

Van Morrison & Joey DeFrancesco: You´re Driving Me Crasy (You´re Driving me Crasy / April`18)

Aisha Bradu: Bridges (Bridges – Acoustic 2018)

Special Explosion: Fire (To Infinity Dez.2017)

Eels: Premonition (The Deconstruction / April 2018)

Eels: Today Is The Day  (The Deconstruction / April 2018)

Anna Burch: Tea-Soaked Letter (Quit The Curse / Febr.2018)

Collapsing Stars: The Storm (2012 / Aug.2017)

Dead Horses: Turntable (My Mother The Moon / April 2018)

Sparks: I Wish You Were Fun (Hippopotamus / Sept.2017)
 
 
 

 


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