Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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2023 26 Dez.

Songs of Silence

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Zuerst ist da Raum, weit und leer. Als ob es da etwas zu antizipieren gäbe, was diese Stille nicht stören will, sich ihr nur leise zur Seite stellen, sie sichtbar machen und und den Raum subtil erweitern möchte. Den Blick nach innen gerichtet und sich doch jeder Nuance der Außenwirkung bewusst öffnet sich aus dem Nichts Cathedral in die Weite, ganz einfach, schwebend und dennoch vielschichtig. Ambientmusik vom Feinsten von einem Meister, von dem man dies als Debütalbum am allerwenigsten erwartet hätte. Vince Clarke gründete Depeche Mode mit, stieg dort aus, als die Band Fahrt aufnahm, spielte kurzzeitig mit Alison Moyet als Yazoo und dann aber 1985 mit Andy Bell in dem erfolgreichen Langzeitprojekt Erasure. Synthie-Pop also, charttauglich und kommerziell. Und jetzt ein stilles, subtiles und diskretes Album nach 53 Jahren Bühnenpräsenz in dem die Erfahrung auch mit leisen Tönen große Bilder zu erzeugen ohne dass er irgendjemanden noch etwas beweisen müsste, zum Tragen kommen. White Rabbit ist ein von einem leisen analogen Sequenzermotiv getragene Tranceinduktion, die in dem dazugehörigen Videoclip eine psychedelisch-dystope Gesellschaftskritik am Leben der immer mehr zunehmenden smombiehaften Mutanten langsam eskaliert. Auch jedes folgende Stück eröffnet eine sehr eigenständige Perspektive, schwebt durch das feinste Gewebe des weiten Raumes fast wie ein Nebel, Imminent, oder entführt in ferne Welten des Red Planet, atmosphärisch inspiriert von den Soundtracks zu den Blade Runner-Filmen. Zweifelsohne der Höhepunkt des Albums ist aber The Lamentations of Jeremiah mit Reed Hays am Cello, das zeit- und schwerelos wie ein urzeitliches Klagelied erklingt. Auch der Rest des Albums, bis man von Last Transmission sanft abgesetzt wird, birgt eine Ambient-Miniatur nach der anderen, die in fast cineastischer Intensität in stets neue akustische Landschaften entführen, deren Pastelltöne wie Vielschichtigkeiten das Bewusstsein in einen Raum einsaugen, den Ambient noch nie zuvor betreten hat. Dagegen wirkt das aktuelle Album seiner früheren Mitstreiter von Depeche Mode Memento Mori kommerziell und flach, muss man hier doch erst einmal die Hälfte durchhören, bis langsam auch einmal spannendere und gewagtere Stücke kommen.

 
 
 

 

Weiß ist die Farbe der Neutralität und vielleicht auch der Hoffnung. Weiß gestrichene LKWs stehen am Grenzübergang von Rafah und warten auf die Einfahrt nach Gaza, um überlebensnotwendige Hilfsgüter zu bringen. 2015 lieferte aber auch Rußland das entscheidende militärische Material in weißen LKWs in die Grenzregion des Donbass vorgebend humanitäre Hilfsgüter zu liefern. Doch diese Geschichte spielt viele Jahre früher, in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges und hat bisher nur wenig Beachtung gefunden. Die Einsicht, dass der Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war, machte sich zunehmend auch in den Köpfen führender deutscher Politiker breit und so gab es auch Bestrebungen die Konzentrationslager aufzulösen, damit sie nicht in die Hände der Siegermächte fielen und so die Verbrechen und das Grauen nach Möglichkeit nicht nachweisbar werden sollte. In dieser brisanten Phase machte der Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes Graf Folke Bernadotte den Versuch Kontakt zu Walter Schellenberg und Heinrich Himmler aufzunehmen, um mit ihnen über eine Rückführung von überwiegend dänischen und norwegischen KZ-Häftlingen nach Skandinavien zu verhandeln. Er war mit seiner Mission sehr erfolgreich und so konnten in mehreren konzertierten Aktionen etwa 20000 inhaftierte Menschen, darunter auch viele Juden, mit eilends weiß gestrichenen Bussen des schwedischen Roten Kreuzes durch das ausgebombte und weitgehend zerstörte Deutschland gerettet und aus der Einflusszone des zerfallenden Nationalsozialismus gebracht werden. Später wurden die Berichte über das in den Konzentrationslagern Erlebte und über die Evakuierung in den teilweise sehr schnell organisierten Aktionen sorgfältig dokumentiert.

Eigene Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen dienten dem dänischen Saxophonisten und Komponisten Benjamin Koppel als Ausgangspunkt für ein fast cineastisches Werk, das sich um einzelne Zitate rankt, die schmerzhaft unter die Haut gehen und dem Vergessen entgegenwirken. Beklemmend in ihrer Einfachheit und durch den einfachen Trick das muttersprachliche Originalzitat von einer Wiederholung in Englisch folgen zu lassen geben die Worte der Überlebenden den Rahmen für die Kompositionen, die mit ihren Spannungsbögen und ihrer akustischen Bildgewalt einen wirkmächtigen inneren Film entfalten zwischen unfassbarer Grausamkeit, einem initiatischen Weg in die Freiheit und den finalen Willkommensgesten, die für die Befreiten ein kaum fassbares Wunder gewesen sein müssen. Ein beklemmendes Album, das in seiner Intensität und Direktheit den Hörer in seinen Bann zieht. Dazu beigetragen haben in überragender Weise die Jazzsängerin Thana Alexa, der Schlagzeuger Antonio Sanchez, der Bassist Scott Colley, der Pianist Uri Caine, Søren Møller an den Keyboards und der Solocellist des Dänischen Nationalen Symphonieorchesters Henrik Dam Thomsen.

 

 

 

 

Das Deutsche Jazzfestival Frankfurt wird 70 und feiert dies mit dem John Scofield Trio, Jakob Bro & Joe Lovano, Terri Lyne Carrington mit der hr-Bigband, Torsten de Winkel, Anke Helfrich, Structucture und vielen anderen. Auf ARTE findet sich am 28.10. ab 14:30 Uhr aus diesem Anlass ein neunstündiger Livestream. Danke, Lajla, für den Hinweis.

 

2023 11 Okt.

Do you know me now?

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And if you think you knew me then
You don’t know me now …

 

 

Als Blemish 2003 erschien war ich völlig unzureichend darauf vorbereitet, was mich erwarten würde. Verzerrte Sounds, eine weitgehende Dekonstruktion denkbarer Songstrukturen, ein Auseinanderfallen vertrauter musikalischer Muster nur noch durch die Stimme David Sylvians zusammengehalten. Ein Befreiungsschlag und Signatur des Schmerzes einer Trennung in einem, eine zaghafte Suche einen nicht mehr durch die Vorgaben der Musikindustrie geprägten Klangraum zu finden, ein sperriges und verstörendes Werk, zu dem ich erst langsam Zugang fand und es inzwischen wirklich immer wieder gerne höre. Jetzt sind alle 10 Alben, die David Sylvian zwischen 2003 und 2014 auf seinem eigenen Label Samadhisounds veröffentlicht hat in einer Box mit neuer Gestaltung und einem umfangreichen Begleittext wiederveröffentlicht worden: Do You Know Me Now?

 

 

 

 

    1. Blemish (****)
    2. The Good Son vs. the Only Daughter (Blemish Remixes) (***)
    3. Snow Bone Sorrow (Nine Horses) (*****)
    4. Do you know me now? (Sakamoto/Nine Horses/Solo) (****)
    5. When loud Weather Buffeted Naoshima (*)
    6. Manafon (*****)
    7. Died in the Wool (*****)
    8. When We Return You Won’t Recognize Us (***)
    9. Uncommon Deities (w. Jan Bang/Erik Honoré) (**)
    10. There’s A Light That Enters Houses With No Other House In Sight (Sylvian/Fennesz/Wright) (**)

 

 

Die Veröffentlichung von Manafon war ja nun konstituierend für unseren Blog und nicht zuletzt der Namensgeber. Über die Zusammenführung von verschiedensten Sessionfragmenten, die jede bisherige Hörgewohnheit (selbst wenn man sie an Scott Walker geschult hat) in einen permanenten Orientierungsmodus kippte und etwas konsequent Neues schuf, das dennoch auf befremdliche Weise, wenn man sich mal darauf eingelassen hat, sich als ausgesprochen hörbar erwies, schuf Sylvian einen Meilenstein im Songwriting. Wahrscheinlich ist kein Album hier häufiger aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet und gewürdigt worden, ist oft wieder- und umbewertet worden, übermäßig gehört, überhört oder nach Probehören abgelehnt worden oder durch die Perspektive der weiteren musikalischen Entwicklung Sylvians neu eingeordnet worden. Dem kann ich kaum einen neuen Blickwinkel hinzufügen. Leider brach das kreative Schaffen David Sylvians nach Died In The Wool – Manafon Variations deutlich ein, man hörte immer weniger Eigenes, noch ein paar kleinere Kooperationen von ihm und dann, seit 2014: Schweigen. Zugegeben wüsste ich auch nicht, wohin es nach einem Album wie Manafon musikalisch weitergehen könnte, aber es bleibt mir ein leises Warten.

Seit meiner Pubertät waren zuerst Japan und dann die vielen Soloalben, auch seiner Japan-Bandkollegen, wichtiger emotionaler Bestandteil meiner Musiksozialisation. Sylvian war bei mir immer synchron, seine musikalischen Aussagen, auch wenn sie fremder und eigenwilliger wurden, fühlten sich relevant an, bedeuteten mir etwas. Ausser den ganz alten Alben von Japan, sagen wir ab Quiet Life höre ich sie auch immer wieder, teils durchaus mit nicht zu verleugnender Melancholie, die dieser Musik ja auch immanent ist, irgendwo präsent ist, selbst bei den Kooperationen mit Robert Fripp und auf Dead Bees On A Cake. Auch die Ambientalben mit Holger Czukay und die frühen Soloinstallationen sind wundervolle Einladungen eine Stille zwischen den Tönen neu zu erkunden. Nun ist der Teil, in dem David Sylvian die größte Schaffensfreiheit hatte, wieder als Ganzes verfügbar, auch wenn das Label Samadhisound inzwischen Geschichte ist.

 

 

“Although I personally maintain samadhisound is the home of my best work it was produced during a very turbulent period that precipitated some devastating changes in my life. I can’t gloss over this fact as it’s incorporated into, and informs the material in many ways. Maybe that’s why, after all this time, outside of any possible musical innovation, it remains so important to me.”

 

… And if you think you knew me then
You don’t know me now

I was happy, satiated
I was satisfied

 

But I still don’t know you …

2023 25 Sep.

Xylouris Xystery

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Die Disco im Nebengebäude war fast leer. Ganz anders als die Location zu der uns eine langjährige Freundin, die zufällig auch in Heraklion weilte, kurz vor Mitternacht gelotst hatte mit der Bemerkung, dass ihr Bauchgefühl ihr sagte, es werde sich lohnen. Hier sollte ein Konzert der Enkel des berühmtesten kretischen Musikers Nikos Xylouris stattfinden und es sollte eine Überraschung in mehrfacher Hinsicht werden.

 
 
 

 
 
 

Der Saal war reichlich gefüllt, Eintritt frei. Die Zuschauer zu meiner Überraschung allesamt höchstens halb so alt wie ich. Auf dem Programm traditionelle kretische Musik, zwei kretische Lauten, eine Lyra, Gesang. Wer um Mitternacht anfängt zu spielen ist mir gleich sympathisch, da sind ganz andere Stimmungen in den Stunden nach Mitternacht und ich habe die besten Konzerte meines Lebens fast alle in den dunkelsten Stunden der Nacht gehört. Drei gutgelaunte junge Männer betraten die Bühne und wurden mit tosendem Applaus begrüßt und los geht die Reise in die Tiefen der traditionellen Musik Kretas, die sich nicht als europäische Musik, sondern viel mehr als ganz eigenständige, eher orientalische Kunstform versteht, die von dem Großvater zweier der Musiker, Nikos und Adonis Xylouris, zu neuen Höhen und internationaler Bekanntheit gehoben wurde. Der Dokumentarfilm A Family Affair (Trailer) berichtet sehr einfühlsam davon. Akustische Musik mit orientalischem Gesang, die fernab einer Tonalität nicht mit Kadenzen spielt, sondern hypnotisch-repetitive Muster fast minimalistisch entwickelt, zu denen auf der Lyra melismierende Melodieschleifen die einzelnen Stücke vorantreiben. Teilweise scharfe Beats, schnelle, groovende Rhythmen, fast rockig. Hier ein schönes Beispiel dafür: Meraklina. Doch die Atmosphäre hatte etwas ganz besonderes: da bestellten die Gäste literweise Whisky an ihre Tische, versanken in Konversationen, Scherzen und teilten ein freudiges Zusammensein, ohne der Musik gegenüber unachtsam zu werden. Also Musique d’Ameublement im tiefsten Satie’schen Sinne. Schon begann ich mich zu wundern, dass diese wirklich wunderbar tiefgründige traditionelle Musik so viele junge Menschen anzog, als das Ganze noch eine kräftige Steigerung erfuhr: einige Zuhörer standen auf, eilten nach vorne und begannen in geordneten Kreistänzen die komplexen alten kretischen Tänze zu der Musik. Schneller und schneller, die komplizierten Schrittfolgen tief verinnerlicht, eskalierte der Tanz langsam bis zum Höhepunkt einige junge Männer in eine sehr artistische Form eines orientalischen Schuhplattlers ekstatisch tanzend verfielen, immer einer nach dem anderen, wild, dionysisch und fast akrobatisch. Welle um Welle der Musik und des Tanzes, des fröhlichen Beisammenseins und Redens, Stunde um Stunde bis tief in die Nacht hinein. Die Stimmung der Musiker wurde besser und besser, die Musik intensiver und dichter und es pendelte sich diese äußerst eigentümliche Stimmung zwischen vitalstem Feiern alter Traditionen (die jungen Zuhörer kannten alle Texte auswendig und sangen mit, wenn es sich gerade mal anbot), sozialem Event a la Musique d’Ameublement und einem Rockkonzert in völlig harmonischer Synthese ein. Eine außergewöhnliche Erfahrung, die mir schmerzhaft bewusst machte, was es bedeutet in einem Land zu leben, das seine Tradition (und hier rede ich nicht von reaktionärer Deutschtümelei) nicht nur verraten, sondern auch unwiederbringlich verloren hat.

 
 
 

 

Auf der letzten Tagung des Mysteriösen Komitees für den ästhetischen Index gelang es in einer konzertierten Aktion den Symbolisten, Kubisten, Neoklassizisten, Dadaisten, Surrealisten, Konzeptkünstler und Postmodernisten, den großartigen Erfinder der Musique d’Ameublement fast 100 Jahre nach seinem letzten Wechsel der kosmischen Adresse in besonderer Weise eine außerordentliche Würdigung zukommen zu lassen. In Ermangelung geeigneterer Worte griff man bei der Laudatio auf seine eigenen Formulierungen zurück, die hier der Originalität wegen in Auszügen wiedergegeben werden sollen:

 
 

Die Musique d’Ameublement ist durch und durch industriell. Es ist Sitte – Gewohnheit – bei Gelegenheiten zu musizieren, wo Musik nichts zu suchen hat. Da spielt man Walzer, Opern-Fantasien und andere vergleichbare Sachen, die für einen anderen Zweck geschrieben sind.

Wir wollen nun eine Musik einführen, die die „nützlichen“ Bedürfnisse befriedigt. Die Kunst gehört nicht zu diesen Bedürfnissen. Die Musique d’Ameublement erzeugt Schwingungen; sie hat kein weiteres Ziel. Sie erfüllt die gleiche Rolle wie das Licht, die Wärme und der Komfort in jeder Form.

Nicht verwechseln! Das ist etwas anderes! Keine „falsche Musik“ mehr: musikalische Möbel! Die Musique d’Ameublement vervollständigt die Einrichtung; Sie erlaubt alles; Sie ist neu; Sie beeinträchtigt nicht die Gewohnheiten; Sie ermüdet nicht; Sie ist unglaublich; Sie langweilt nicht. Sie zu verwenden heißt es besser zu machen. Hören Sie ganz ungeniert.

 
 

Während bei uns in Europa dieser durch und durch skurrile Herr immer noch Gegenstand erheblicher Kontroversen ist, seine Werke dennoch auch von fast jedem mäßiggradigen Pianisten eingespielt werden und sie bis auf wenige Ausnahmen ausgeleiert und totinterpretiert worden sind, gehören seine Werke in Japan zu den meistgehörten Stücken der ernsten europäischen Musik und bilden zudem einen zentralen Ausgangspunkt des japanischen Kankyō Ongaku, der „Umgebungsmusik“.

Der 1983 tragischerweise viel zu früh tödlich verunglückte Satoshi Ashikawa veröffentlichte in den Jahren davor drei Alben in seiner Wave Notation Serie: sein eigenes Werk Still Way, Hiroshi Yoshimura’s Music for nine Postcards und als letztes das ursprünglich als Kooperationsarbeit intendierte, aber durch seinen Unfalltod als Soloalbum erschienenen und jetzt endlich wiederveröffentlichten Albums der Pianistin Satsuki Shibano Erik Satie 1984. Shibano gilt als eine der Satie-Interpretinnen Japans, studierte u.a. in Paris und hat eine sehr japanische Interpretation seiner Musik entwickelt, die durch einen radikalen Purismus, eine Reduziertheit auf das Wesentlichste und eine große Klarheit in ihrer Spielweise gekennzeichnet ist. Damit hebt sie durch konsequentes Weglassen die Mobiliarhaftigkeit der ausgewählten Stücke hervor, die es dann in letzter Konsequenz vertragen einfach in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Titel gespielt zu werden, weil etwaige musikalische Ordnungskriterien angesichts ihrer Interpretation schlichtweg bedeutungslos werden. So habe ich Satie noch nie gehört, verhalten, in meditativer Klarheit, mit sparsamstem Einsatz der Pedale mit wenig Hall und weit zurückgenommener Expressivität. Die Stille zwischen den Tönen – nichts zu behalten für den Gedächtnislosen. So musste sich Satie seine Musique d’Ameublement im Ideal vorgestellt haben als er schrieb: Wer die Musique d’Ameublement nicht gehört hat, weiß nicht, was Glück bedeutet.

 
 
 

 

2023 4 Juli

Stephan Thelen 2023

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Hier folgt das noch fehlende Album, das ebenfalls 2021 seinen Anfang nahm: Dem vielbeachteten Album World Dialogue mit Streichquartetten von 2020 folgt nun eine bemerkenswerte Fortführung als Zusammenarbeit mit Fabio Anile Music For Piano And Strings. Hier finden sich drei Stücke von Fabio Anile und vier aus der Feder von Stephan Thelen, die teilweise um ein Piano zum Quintett erweitert werden. Als Streichquartett spielt wieder das Al Pari Quartet, die schon auf World Dialogue gezeigt haben, dass sie interpretatorisch gut mit dem Kronos Quartet mithalten können. Von diesem ersten Album mit Quartetten ausgehend war Fabio Anile so begeistert, dass er Stephan Thelen einen Entwurf von dem etwas verspielteren Eleven Tails sendete und dieser gerade eine Auftragsarbeit für den Pianisten Ulrich Koella, das minimalistische Metric Modulation fertiggestellt hatte. In diesem inspirierenden Austausch entstand die Idee darauf aufbauend ein gemeinsames Album zu komponieren. Beide teilen die Liebe zu minimalistischen Strukturen, die sie auf der Basis der Präzision klassischer Musik und der nicht zu überhörenden Vitalität der Rockmusik mit polyrhythmischen Grooves erweitern. Schöne Beispiele hierfür sind Polymetric Counterpointvon Fabio Anile und Tunnel Drive von Stephan Thelen.

Während Stephan Thelen im Idealfall aus einer minimalen, singulären Idee ganz organisch etwas Hochkomplexes entwickelt, versucht Fabio Anile die Grenzen des „klassischen“ Minimalismus durch den Einsatz von Tonartwechseln und Melodien aufzubrechen, ohne dass die treibenden Rhythmusstrukturen dadurch ihre zentrale Funktion verlieren würden. So liefern diese beiden Protagonisten dieser Minimalisten der zweiten Generation ein elegantes, musikalisch weites Album, das fordernd und von cineastischer Qualität ist, gleich einer Nachtfahrt eines Film Noir-Werkes mit offenem Ausgang. Der Spannungsbogen zwischen den unterschiedlichen Wurzeln wird aber in keinem Stück deutlicher als in Thelens Ascension, das sich bei gleichen Basismuster bereits unter gleichem Namen in kongenial anderer Version auf Fractal Guitar 3 findet. Eine brennende Intensität, die durch feine polymetrische Patterns jagt und den Hörer erst atemlos mit dem letzten Ton entlässt.

 

 

 

 

Three Movements, das neue Album von Sonar mit David Torn und jetzt auch J. Peter Schwalm besteht aus drei langen Stücken, die in ihrer Komplexität und unvorhergesehenem Abwechslungsreichtum fortlaufend neue Horizonte erschließen. Bereits zu Beginn stolpert die Musik ganz beiläufig in einen treibenden Rhythmus und ergießt sich in gepflegter Atemlosigkeit von feinstens ausgewogenen Momenten über schräge Ostinati zu eruptiven Eskalationen, die wiederum in minimalistische oder bassgetragene Patterns übergehen, die sich über vermeintliche Entspannungsmomente mit sphärischen Elementen zu neuen Ausbrüchen steigern gleich einer hypnotisch-auswegslosen Verfolgungsjagd in einem bizarren Spiegelkabinett.

Ausgangspunkt waren dieses mal keine komponierten Stücke sondern Samples, Loops und Songfragmente, die David Torn zur Verfügung stellte und Stephan Thelen diese dann zu Ansätzen dieser fast symphonischen Suite zusammenstellte, mit den Musikern von Sonar einspielte und dann J. Peter Schwalm schickte, der elektronische Elemente und Schnipsel hinzufügte und so dazu beitrug, das der Hörer sich wie in einem Vexierbild niemals sicher sein kann, welches Element der enorm vielschichtigen Musik als nächstes für einen flüchtigen Moment die Führung übernehmen und den spannungsgeladenen Gitarrensound von David Torn konterkarieren wird. Dabei haben die langen fraktalen Schleifen eine gewisse Ähnlichkeit mit den komplexen Strukturen indischer Ragas, die bei komplizierter und ungerader Rhythmusstruktur improvisatorische Elemente in langen Bögen gegeneinander laufen lassen, um sich beim Schließen des Zyklus nach einem erlösenden Takt einem neuen abrupten Richtungswechsel zu unterziehen, der mit unglaublicher Präzision vertraute Horizonte zerlegt, um gleich selber einen weiteren anzudeuten. Schließlich entlässt das Third Movement den Hörer in die Weiten ambienthafter Sphären, leise und die außerordentliche Fülle hinterlässt ein tiefes Gefühl angenehmsten Erfülltseins, dass auch bei mehrfachem Hören garantiert abnutzungssicher ist. Ein Meilenstein, der ein Vorbote einer Musik der Zukunft sein könnte, womit sich der Kreis zu Transneptunian Planets auf einer höheren Ebene schließt.

„Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2022. Das sind die Abenteuer von J. Peter Schwalm und Stephan Thelen, die mit einer 4 Mann starken Besatzung unterwegs sind um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Weit von der Erde entfernt dringen sie jenseits des Neptun in fremde Räume vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat“.

 

Die Sonne ist nur noch ein kleiner heller Punkt im Firmament, die Temperatur nähert sich langsam dem absoluten Nullpunkt an und aus der kosmischen Finsternis nähern sich lichtlose Objekte, Planetoide, langsam den Protagonisten. Zwischen ihnen werden kleine Dateien mit Lichtgeschwindigkeit durch den Äther geschickt, Skizzen, Ideen, Entwürfe, die von dem jeweiligen Empfänger sorgsam gehört und derart bearbeitet wurden, dass daraus etwas entstand, was keiner von beiden je vorher gemacht hatte, was alle gewohnten Muster zerlegte. Dort in der Tiefe des transneptunischen Raumes entstand fern von allen irdischen Einflüssen etwas, das so noch nie zu hören war. Neue Botschaften von fernen Welten.

Mit an Bord waren Eivind Aarset, der Bassist Tim Harries und der Schlagzeuger Manuel Pasquinelli, die sowohl exorbitant ätherische wie rhythmisch treibende Elemente einbrachten. Den Einstieg macht ein Besuch bei Pluto, der erst vor einigen Jahren seinen Planetenstatus verlor und zum Planetoiden herabgestuft wurde. Hier stoßen treibende rhythmische Strukturen auf subtile atmosphärische Elemente, unberechenbar und horizonterweiternd. Mit MakeMake entfalten sich dystopische Eruptionen mit streckenweise fragwürdiger Rhythmusstruktur, die von völlig unvorhersehbaren Wendungen leben. Die nächsten drei Stücke schweben sich langsam entwickelnd zwischen untergründigen archaischen Fragmenten und ätherischem Cyberspace-Dub, teilweise von Eivind Aarsets einzigartiger Weise Gitarre zu spielen über alle Grenzen getragen. GongGong – ja die so fernen Planetoide habe oft obskure Namen  – oszilliert zwischen den Polen psychedelischer Klänge und Techno-Trance mit der unterschwelligen Aggressivität eines uralten Reptils, wohingegen die letzten beiden Stücke dann auf ihren exzentrischen Bahnen lichtferne Räume durchmessen, mal lautlos gleitend, filigran sich um die eigene Achse drehend, mal verhalten treibend und gewohnte Patterns sicher umschiffend, um sich letztendlich wie in der Schlussszene eines Science Fiction in unendlichen Weiten zu verlieren.

 

Im Jahr 2021 arbeitete Stephan Thelen parallel an vier Albumprojekten, die sich in intensiver Weise gegenseitig beeinflussten und bei sehr unterschiedlichen Konzepten und teilweise anderen Musikern aber sehr eigenständige und spannende Klangräume entstehen ließen. In Fractal Guitar 3 finden sich auf den Stücken alle Musiker, die auch auf Transneptunian Planets spielen wieder, zudem u.a. noch Markus Reuter, Jon Durant, Andi Pupato und Stefan Huth. Auf den verschiedenen Alben gibt es Stücke die den gleichen Ansatz haben, wie die polyrhythmische Struktur „5 gegen 7“ die nicht nur bei Morning Star, sondern auch bei Pluto und bei Fractal 5.7 auf dem dritten Album Fractal Sextet jeweils völlig andere Atmosphären entstehen lassen. Es finden sich recyclte Elemente des ersten Sonar-Albums Black Light wieder in Orbit 5.7 und Glitch, dann werden teilweise die komplexen Polyrhythmen in verschiedenen Tonhöhen und Geschwindigkeiten in atemberaubender Eskalation gegeneinander laufen lassen wie in Black On Electric Blue und als Pendant Slow Over Fast auf Fractal Sextet. Umklammert wird Fractal Guitar 3 von dem extremfaszinierenden Stück Through The Stargate, das von Eivind Aarset mitkomponiert wurde und am Anfang einen sehr treibenden Einstieg schafft und zum Schluß in einem sehr atmosphärischen Mix von J. Peter Schwalm, der die schwebenden Gitarrenklänge Aarsets in den Vordergrund hebt und so die tiefe musikalische Verbundenheit der beiden so unterschiedlichen Gitarristen in eine wunderbare Synthese bringt.

 
 


 
 

Fractal Sextet bringt mit dem Pianisten und Keyboarder Fabio Anile, dem Bassisten Colin Edwards und dem Schlagzeuger und Spezialisten für Polyrhythmen Yogev Gabay ein anderes Spektrum an Musikern auf den Plan, die zwischen minimalistischen Mustern, Prog und Kammerjazz eine atmosphärisch dichte Synthese finden und dabei fast Bandcharakter entwickeln, wenn nicht auch dieses wunderbare Album durch die pandemiebedingten Restriktionen vor allem durch den Austausch von Fragmenten und Dateien entstand. Hier kann man nur hoffen, dass die Musiker für eine Performance eines Tages live zusammenfinden. Doch das ist nicht das Ende dieser Geschichte, da noch ein weiteres Album fehlt …

 
 


 

 
 

 
 

 
 

Neulich fand ich in unserem lokalen Bücherschrank, der sonst meine Affinität zum Geschriebenen fast zu sehr befördert, zur Abwechslung mal eine Klangkonserve. Dann, später, eröffnete Applaus das Hörerlebnis und die ersten Töne versetzten mich in einer Zeitreise zurück in einen kalten Abend Ende November 1980. Wiesbaden, Wartburg, eine besondere Konzerthalle. Zu dem oberen Konzertsaal führte eine lange Treppe von deren oberem Ende uns bereits dicke Schwaden süßen Rauchs entgegenschlugen. Nein, ich rede nicht von Sweet Smoke’s Album Just a Poke, dessen legendär verhalltes Schlagzeugsolo auf Silly Sally sich in der Szene damals einer großen Beliebtheit erfreute, sondern von einem anderen Perkussionisten der Extraklasse: Pierre Moerlen, der mit seiner Inkarnation von Gong an diesem Abend konzertierte. Tiefes Durchatmen beförderte einen akzelerierten Bewusstseinswandel in die rauschhaften Dimensionen, in denen der feine Jazzrock uns subtilstens abholte und über die Stücke von Downwind und dem gerade erschienenen Time is the Key (Ard na Greine) über fast zwei Stunden in einer Art entführten, wie es die alten Gong-Alben bereits schon viele Abende zuvor in freudig realitätsflüchtiger Weise getan hatten. Auf welche Weise wir später nach Hause schwebten entzieht sich leider meiner Erinnerung …

 
 
 

     

 


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