Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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2021 29 Okt.

Norman Blakes Favorit 2021

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Ich kenne den Teenage Fanclub etwas länger als Norman Blake (seit unserem Interview zu dem wunderbaren Album „Bandwagonesque“ (1991)), und bin ihm später ein weiteres Mal im Umfeld eines Projekt seines Glasgower Musikfreundes Bill Wells begegnet. Ein kluger Gentleman in reiferen Jahren, mit einer unerschöpflichen Liebe zum „old-fashioned pop song“. Mein Gespräch mit ihm war mal  in einer alten Sendung von WDR 2 zu hören, „Pop Session“ – lang ist es her.  Und noch immer haut Norman feine Songs raus, die so gewitzt wie vielschichtig sind, und stets fallen mir ein paar ein, welche in die Liste „heimlicher Jukebox-Hits“ aufgenommen werden sollten. Nur, es waren eben fast nie richtige Singles. Sollte jemand nun  neugierig geworden sein auf den Teenage Fanclub – das obige Album ist wirklich ein guter Einstieg. Hier sein Favorit des Jahres, eine wirklich zauberhafte Arbeit, die in meinem Jahresrückblick am 6. Dezember auf Platz 5 landet (in meinen Rückblicken gibt es nur „wertende Reihenfolgen“ – a very addictive listening experience from start to end, that‘s what I would call it. And in  case it is a kind of „rock opera“ Norman is speaking of, i very much prefer „Coral Island“ to The Who’s „Tommy“, seriously.)

„My pick of this year’s releases is Coral Island by The Coral. I’ve liked their music since I went to see Gorky’s Zygotic Mynci supporting them in Glasgow, 20 years ago. It’s one of those rare albums where every song is good, and the narration gives the album a kind of rock opera feel and I’m a sucker for that kind of thing. I really like their sonic palette – close harmonies, in your face organ, and jangly, surfy guitars. James Skelly’s voice has a lovely timbre too.

This year I started collecting the Top Of The Pops albums – you can pick them up pretty cheaply from charity shops. My favourites are the ones that were made during the punk era. That someone thought it was a good idea to cover Death Disco or Gary Gilmore’s Eyes is both mind-boggling and very funny. They made about 150 of these compilations and I have around 25, so I have quite a ways to go before I complete my collection!“

 

Ich erinnere mich, wie Eberhard Weber Ende der Neunziger Jahre in den Cuevas de los Verdes solo auftrat, auf einer kleinen Bühne (in einer dieser Höhlenanlagen von Lanzarote), zu der man eine Weile durch einen unterirdischen Gang gehen muss. Auf dem Flugreise war  der Koffer des Bassisten abhanden gekommen, und da er sich wohl nicht ratzfatz mit schnell zusammengekauften Kleidungsstücken behelfen wollte, trat er in knallbuntem Reise-Outfit auf, wie ein archetypisch-kanarischer Tourist. Und dann zauberte er so hemdsärmelig wie konzentriert seine Elektrobass-Exkursionen in den Raum – unvergesslich. Sein Auftritt in Avignon im Sommer 1994 ist eine rundum beeindruckende Ausgrabung aus dem Gräfelfinger ECM-Archiv. Und es passt sehr wohl, dass ich dieses Album vorstelle, in einer Sendung voller Quertreiber*innen und Abenteurer*innen der jüngeren und jüngsten Jazzgeschichte (Linda, Ayumi, Vera und Charlotte sind auch dabei), am Ende meiner kommenden Ausgabe der JazzFacts, mit Neuem von der improvisierten Musik, am Donnerstag  um 21.05 Uhr.

 

2021 28 Okt.

Schöner Zufall

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Ich war heute zu einer Lasagne eingeladen, zubereitet mit Rotwein, karamellisiertem Gemüse (letzteres, um der Säure der Tomaten entgegenzuwirken), als ich eine kleine Synchronizität erlebte. Ich bestieg den Toyata (der nicht meiner ist und auf WDR 4 programmiert war) – ein Sender, bei dem freudig erregte Menschen ständig von Retrorausch zu Retrorausch eilen. Der ganz und gar falsche Umgang mit dem Segen einer Jukebox. Ich drehte den Schlüssel um, und exakt in der Sekunde fingen mich die ersten Töne eines Liedes ein – „das kenne ich doch“. Sobald die Stimme einsetzt, das wusste ich, wäre ich in dem Song drin. Nun war dieser Anfang mit seinen ruhig gesetzten Akkorden auf der Akustikgitarre viel zu verhalten, um sofort das Deja-Vu zu produzieren. Und dann erzählte Donovan von Atlantis. Es war wie früher, als ich das Lied so viel öfter gehört habe – der gesprochene Teil ist der fesselndere, die Melodie in ihrer leicht trunkenen Benommenheit ein bisschen zu schwelgerisch im Abgang, im fade-out. Ein Gassenhauer halt (Was für ein schöner Zufall, wo ich doch gerade seine Autobiographie lese!) – im Sommer 66 oder 67 hatte ich noch einen Blutsbruder, und wir sangen den Refrain von Atlantis lauthals um die Wette und legten noch etwas mehr Greenhornteenagerpathos hinein. Wieso man solche Momente erinnert, mit diesem berühmten „als-wäre-es-gestern-gewesen-mindset“. Sunshine Superman hatten wir auch im Programm (in halb konfabuliertem Englisch). Als ich Matthes vor ungefähr zehn Jahren mal ausfindig machen wollte, endete die Suche im Telefonbuch, und an der alten Klingel des einstigen Nachbarhauses. Unbekannt verzogen, heisst es ja, im Leben oder anderswo. Aber ein sehr altes Paar hörte ich an jenem Tag in unserem alten Siedlungshaus rumoren, die Eltern der schönen Gabriele, die sieben war, als ich sieben war (und immer von der „Farbenfrau“ träumte, die mich allnächtlich in Serienträumen umarmte, am Rande eines Swimmingpools). In meiner verschwommenen Einbildung hätte ich zu gern das Kopfkissen mit ihnen geteilt, mit Gabi und der Indianerin. Und zu dritt auf dem Transistorradio Donovansongs gelauscht. Ganz real war hingegen die riesengrosse Märklin-Spielzeugeisenbahn von Matthias, am Fuss der blauen Berge.

 

    1. Underworld: Drift Series 1 (Box Set)
    2. Sunno)): Life Metal
    3. Joe Lovano: Trio Tapestry
    4. Bill Callahan: Shepherd in a Sheepskin Vest
    5. Lankum: The Lifelong Day 
    6. Lambchop: This (is what I said)
    7. Thom Yorke: Anima
    8. Rabbia / Petrella / Aarset: Lost River
    9. Oren Ambarchi: Simian Angel
    10. Nick Cave: Ghosteen
    11. Rustin Man: Drift Code
    12. Arve Henriksen: The Timeless Nowhere 
    13. Leonard Cohen: Thanks For The Dance
    14. Lee Perry: Rainford

 

 

Diese Alben sind geblieben, einige haben andere Plätze eingenommen, in sie kann ich heute wie damals kopfüber eintauchen, der Rest meiner Top 40 von 2019 bleibt nur noch speziellen Momenten vorbehalten, historischem Interesse, guter Erinnerung, und qualitativer Wertschätzung. Auf die alte Jahresliste  stiess ich auf Umwegen, weil ich im Archiv vergebens suchte nach „Second Toughest of the Infants“ von Underworld. Ich hatte ein geradezu körperliches Verlangen, einen ganz bestimmten Song der LP zu hören. Und dann hielt ich auf einmal diese „Drift Series Box“ in Händen, und es gab kein Entkommen, ich setzte die Kopfhörer auf und wünschte mir eine gute Reise (s. Foto). Mit einem Schmunzeln erinnerte ich mich, dass ich Karl Hydes Musikwelten erst betrat, nachdem ich ihn in London kennengelernt hatte, in Enos Studio, in dem die zwei aussergewöhnlichen Platten der Zwei entstanden, die eine voller Songs, die andere voller Experimente. 

2021 18 Okt.

The book begins.

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It is a memoir, a story, a mirror – living hauntology. A revelation. It only throws glimpses to that special period. Everyone gets a decent quantum of experience mirrored and propelled by a big city‘s inner life. Everything is never the deal. That‘s why I love this rather fragmented, yet illuminating little book, inspiring own memories (entering automatically in between) about an old London that never leaves my heart. Full of life, and full of ghosts, that‘s what it  has always been – even when strolling through Sansha‘s Dance Shop. Or sitting with Brian Eno (years later) in a room where they once rehearsed the first Roxy Music album. My endless walk through Hampstead Heath in December 1982 (old ladies with white dogs passing by), and Jah Wobble‘s Invaders of the Heart at the Marquee Club on that very same day. And another thing, unforgettable, from early on: the smells of the underground and the music of the trains rolling in. Those street musicians and their „heart of gold“ fighting the rust, the laughter, and the forgetting. Please do yourself a favour, and start reading Michael Bracewell‘s „Souvenir“. 121 slowly flying pages.

 

Dedicated to the music lovers of the Punktfestival 2021, all of them who came by boat, by feet, by car, by airplane, by train, to dig and dive deep into the music played on the highest floor of Hotel Norge and elsewhere in town.

 

 

 

(ONE) Mathias Eick: Arvo (from: When We Leave) / Big Red Machine: Birch (from: How Long Do You Think It’s Gonna Last) / Catherine  Graindorge: Butterfly In A Frame (from: Eldorado) // Haiku Salut: Entering (from: The Hill, The Light, The Ghost)* / Gaspar Claus: Une faule (from: Tancade) / Dark Star Safari: Murmuration (from Walk Through Lightly) / Ayumi Tanaka Trio: Ruins (from: Subaqueous Silence) / Trond Kallevag: Amerikabaten (from: Fengelsfugl) // Villagers: Full Faith in Providence (from: Fever Dreams) / The Grid & Fripp: Fire Tower (from: Leviathan)

 

* Engagingly wistful fifth album from Derbyshire Dales instrumental trio. Starting life as a series of field recordings captured in charged locations – an abandoned house in Germany, the birdsong-framed Peak District countryside – The Hill, The Light, The Ghost is pitched as “a miniature exploration of sound in relation to memory”. From this near-Proustian premise, multi-instrumentalists Louise Croft, Sophie Barkerwood and Gemma Barkerwood conjure nine wordless, shape-shifting essays using keyboards, electronics, guitars and orchestral instruments.

(David Sheppard)

 

 

(TWO) – STERNZEIT – // ToiToiToi: Never A Dull Moment, Whimsical Waltz, Kuckuckswalzer (from: Vaganten) / Villagers: Fever Dreams (from: Fever Dreams) / Haiku Salut: Trespass (from: The Hill, The Light, The Ghost) // Michael Mantler: Folly Suite (from: Coda (Orchestra Suites)* // Low: More, The Price You Pay (It Must Be Wearing Of) (from: Hey What) / Jo Berger Myhre: Everything Effacing, Smallest Things, Part 1, Aviary (from: Unheimlich Manoeuvre) 

 

* Austrian trumpeter-composer Mantler makes music that can move from shadow to light in a moment. The mercurial moods of this accomplished and articulate set are its strongest suit, and the stylistic breadth of the writing and arranging serves notice of an artist who has duly fulfilled the potential he showed way back in the late ‘60s as a member of the Jazz Composer’s Orchestra. […] While the shape-shifting nature of much of the material is impressive the emotional charge of the strings, which are icily seductive and seductively icy, is strong, and greatly enhanced by the interplay of Mantler and guitarist Bjarne Roupé, a skulking presence for much of the performance. ‘Coda’ makes a very convincing case for Mantler’s gifts as a composer, and stands as work that has considerable appeal for the role of improvisers, including himself, who are woven into the scored materials in a highly disciplined way that does not make their individual flourish any less engaging.

(Kevin Le Gendre, Echoes)

 

 

(THREE) – „Open the Gates – a Rhapsody in Dub (and  Jazz)“  – a discreetly hypnotizing mix of Various Artists – Studio One Dub Fire Special, The Congos: Heart of The Congos (40th anniversary edition), Lee Perry and The Upsetters: Black Ark In Dub & in the middle, surrounded by waves and waves of Rastaman chants, John Coltrane’s A Love Supreme Live In Seattle* – KALENDERBLATT (Vor 175 Jahren – die erste Vollnarkose)

 

* „You have to get a bit used to the „stage presentation“ of the instruments here: the saxes „leftfield“, and the biggest space reserved for Elvin and McCoy (left to center, and right) – somehow funny, because the two did leave soon, being not too happy with Coltrane‘s quite radical departure! After a while it all works – the saxophones never buried in the mix!

In the world of John Coltrane, even „A Love Supreme“ was not carved in stone. To experience, how the whole band is opening all gates, leaving no stone unturned, is such a delight. Young Pharoah didn‘t need long to find the right chemistry.

Here I have to smile a  bit: it is Mr. Sanders‘s second appearance in 2021: in Seattle, being part of a crew that set „A Love Supreme“ on fire (without doubt one of the most adventurous archival discoveries of the year), and, as a master of less-is more, on Floating Points‘ fantastic album „Promises“ (not so much loved by the readers of TheBlueMoment:))

P.S. I always found „Live At The Village Vanguard Again“ being the best entrance to Coltrane‘s late years. „Coltrane in Japan“ is gorgeous, too, though only in ancient mono!

(Michael Engelbrecht, comment on Rirchard Williams‘ review in his music blog The Blue Moment)

 

 

(FOUR) Rhythm & Sound: (from: Rhythm & Sound) / Rip Hayman: Waves for Flutes (from: Waves Real And Imagined)* / Leonard Cohen (from Thanks for the Dance) / Thomas Köner: Takla-Kahan (from: Aubrite, reissue 2021, Mille Plateaux) / Leonard Cohen (from Thanks for the Dance) / Rip Hayman: Seascapes (from: Waves Real And Imagined)* (excerpt) / Gas (aka Wolfgang Voigt): Königsforst 2 (from: Königsforst) 

 

* „Archival and new work from student of John Cage, Ravi Shankar and Philip Corner Rip Hayman. Pastoral multitracked flute music on one side and chilly nautical field recordings on the other: quite lovely. ‚Waves: Real and Imagined‘ is another solid release from Sean McCann’s Recital imprint. A founding editor of Ear Magazine and boss of NYC’s oldest bar, Hayman is a fascinating character. This release collects a piece he recorded back in 1977, a decade before his debut „Dreamsound“, and pairs it with a piece he recorded last year. The two compositions work astonishingly well together. ‚Waves for Flutes‘ is calming and delicate, with multi-tracked flutes reminding fondly of Mary Jane Leach or Hayman’s Recital labelmate Sarah Davachi. The track sits completely out of time, sounding as transcendent and otherworldly as ambient music and as spiritually rousing as sacred music. Seascapes‘ achieves a similar goal, but uses only environmental recordings. Hayman recorded it in two sessions last year on the Pacific ocean, and the fizz of the waves effortlessly lull us into a meditative state. It’s not far from Irv Teibel’s iconic „Environments“ recordings, and that’s about the highest praise we can give.“ 

 

 

(FIVE/1)  Robert Wyatt: Old Europe (from: Cuckooland) / Barney Wilen: Harlem Nocturne / Besame Mucho / Goodbye  (from: La Note Bleue)* / Barney Wilen: All Blues, live with young Jackie Terrasson)

 

* Dear Micha! Very good to hear from you. Thanks for letting me read your piece (on Barney). There should be a Barney Wilen Appreciation Society for people like you and me… he had such an interesting life and seems never to have played an unworthy phrase. All best. Richard (Williams)

 

(FIVE/2) Bob Marley and The Wailers: Rastaman Chant (from: The Capitol Sessions 73)* / War: The World Is A Ghetto (from: The World Is A Ghetto)**

 

* „Sometimes we look back on things we did when younger and cringe. Sometimes we laugh at ourselves. Sometimes, as with War, and particularly this important album, we can knowingly nod and say, „I knew it all along.“ Even as a zit-faced white kid growing up in Arkansas, it was abundantly clear to me that this music was far more interesting than most of what I could hear on the radio; its racially homogenous, heavily percussive sound with „boys night out“ group vocals still, to this day, hits the spot like none other. Along with the sounds of similarly themed and likewise wonderful bands like Santana and El Chicano, with the music one could practically taste, smell, and get a tactile feel of what they were all about.“

(Brian Hulett) 

 

Den Rückblick kann ich wagen, weil ich bis Weihnachten, was das Lesen angeht, ausgebucht bin, mit drei Büchern, die fernab des Thriller-Genres zuhause sind. Bis auf ein Buch liegen alle Krimis in deutscher Übersetzung vor, die englischsprachigen habe ich in der Regel schon vor längerem gelesen. Platz 1 gebührt, mit denkbar knappem Vorsprung, Attica Locke: Black Water Rising.  Platz 2 ist eine wahre Entdeckung und erinnert mich an die Zeit, als ich als Teenager in Eugene Sues „Die Geheimnisse von Paris“ versunken war: Juan Gómez-Jurado: Die rote Jägerin (ein Klasse-Schmöker aus Spanien, sehr ungewöhnlich, sehr schwarz, noch schwärzer, und doch mit Momenten feinen Humors durchsetzt). Platz 3, wahrlich keine Überraschung über die Jahre, ein alter Favorit: James Lee Burke: Dunkle Tage im Iberia Parish (wunderbar, die Edition des Pendragon Verlages, höchste Qualität von Band zu Band). Platz 4 geht an den unermüdlich wagemutigen Heinrich Steinfest: Die Möbel des Teufels (so kann das Surreale den Zauber des Magischen Realismus entfalten). Platz 5 ist nicht minder überbordende Fantasie, und ein Genre-Mix für Freunde von R. L. Stevenson und Sir Arthur Conan Doyle, ein Rausch der Verwegenheit, der dennoch keinen einzigen Spannungsbogen überdreht: Stuart Turton und sein etwas anderer „Historienroman“ Der Tod und das dunkle Meer. Platz 6 verdanke ich der Empfehlung von Laura Wilson, ein Lob an dieser Stelle der „Thriller-Kolumne“ des „Guardian“: David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts („this book is both,  a solid take on a trope familiar to readers of crime and western genres – the lone man’s quest for justice – and an authentic and humane view of a largely unreported world, ravaged by years of systemic oppression.“, Laura Wilson) / Platz 7 geht an S. A.  Cosby und seinen temporeichen wie tiefgehenden Roman Blacktop Wasteland (wer den Film „Driver“ liebte, kann hier einen weiteren „Driver“ erleben, und einen amerikanischen Alptraum vor dem inneren Auge abrollen lassen. Fucking genius, Mr. Cosby).  Platz 8 verbreitete sich in meinem Bekanntenkreis wie warme Semmeln am Samstagmorgen – bei aller Hochspannung  aber keine so leichte Verkostung – das Buch der Dänin erhält von mir den Stieg Larsson-Gedächtnispreis: Anne Mette Hancock:  Leichenblume. Der nächste skandinavische „Burner“: auf  Platz 9 der mir bis hierhin völlig unbekannte Christoffer Carlsson und sein Roman Unter dem Sturm (raffiniert gebaute Familiengeschichte, umheimlich subtil, und unheimlich spannend!) Könnte bis Weihnachten noch ein paar Plätze klettern – wirkt immer noch nach (Lektüre gestern beendet). Platz 10 ist jahrgangsunabhängig einem Klassiker (all time favourite) meiner Thriller mit Tiefgang vorbehalten, ich las das Buch im Laufe der Jahre zweimal, und selbst beim Wiederlesen war es episch-ungebremste Wucht: Val McDermids Echo einer Winternacht. 

2021 14 Okt.

Wenn ein Cronopium Techno hört

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Während eines Konzerts in Paris kam Julio Cortazar die Idee zu den «Cronopien», jenen «nassgrünen Dingerchen»: Borstig sind sie, unordentlich und lässig, verträumt und intuitiv, poetische Nonkonformisten, vertrauensvolle Optimisten, humorvolle Lebenskünstler, beste Freunde, die philosophische Nonsens-Dialoge führen können. Viele sehen in ihnen das vitale Alter Ego des Autors. Cronopien benutzen nie liniertes Papier, um zu schreiben, drücken die Zahnpastatube auch nicht von unten nach oben. Für alle Fans wurden die Cronopien zum Inbegriff Cortázars, seiner Sicht der Welt.

 

Alex Petridis hatte meine volle Zustimmung, als er sich für diese Box begeisterte. Julio hat sie leider nie gehört. Irgendjemand musste mich ja mal auf die Spur der spannenden Spielarten dieser Musik bringen. Die, die einst „Acid House“ erfanden, hatten etwas Universelles und Zeitloses freigelegt. Und wollten urprünglich nicht mehr als flüchtige Gegenwart einfangen. Rausch in strenger Taktung. „Blaue Stunden“, so nannte Julio diese Zwischenreiche. Keine Musik zuvor oder danach hat die schweisstreibende Intensität, mit der man sich in den frühen Morgenstunden auf einer Tanzfläche verliert, besser eingefangen (ausser vielleicht „Saturday Night Fever“) – man musste nicht umgeben sein von Menschen, die von Drogen und der schieren Lautstärke so wahnsinnig wurden, dass sie weinten oder in Ohnmacht fielen oder anfingen, es miteinander zu treiben, um dieses seltsame, gleichzeitig beschwingte und leicht beunruhigende jenseitige, besser, Ich-Grenzen überschreitende, Gefühl zu kennen. Ich war nie im Leben auf einer Techno-Party, habe nie Ecstasy, MDMA, oder andere Partydrogen jener Ära konsumiert. Ich besitze diese Box namens „Acid Rain“, ich habe ein paar Platten von Robert Hood, mittlerweile auch vier grossartige Alben von Underworld. Besser spät als nie. Dazu gesellen sich noch ein paar Klassiker von Kraftwerk. Diese kleine Sammlung reicht aus für meine mittlerweile berüchtigten „Techno-Parties“. Bei diesen Parties ist immer nur eine Person anwesend. Männlich oder weiblich, auf jeden Fall ein Cronopium. Der Sound ist hervorragend, und auch wenn der jeweilige Gast ab und zu wie wild durch den Raum wirbelt, sitzt er meist schweissnass im „sweet spot“ vor den Boxen. Er hat eine kleine Einführung bekommen, und nur die Alben von Underworld, Kraftwerk, Mr. Hood, und „Acid Rain“ zur Hand. Sweet dreams are made of this. Wenn ich diese „Parties for One“ veranstalte, sorge ich dafür, dass das Haus leer ist, das Nachbarhaus sowieso. Manchmal kommt dennoch die Polizei vorbei, weil Leute denken hier würden gefährliche Dinge abgehen, nur weil ab und zu das Dach zittert. Alles harmlos. Wir sind liebe Menschen, die die Stille lieben. Und genau wissen, wann „PLAY IT LOUD“ die richtige Losung ist. (Natürlich sind stets ein paar Gegenwelten zur Hand, um „runterzukommen“, sich zu erden. „Music for Airports“, „Lifestyles of the Laptop Café“, und „The Best of Al Green“.)

 

2021 14 Okt.

„Wind Catcher“

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Bei manchen Büchern, von denen ich mich direkt angesprochen und mitgenommen fühle (und jede Seite ohne Übertreibung ihre Trance bereithält), ist es so, dass sie zwei gegensätzliche Tempi des Lesens vertragen, das Verschlingen (Durchrauschen), und die Zeitlupe. So ergeht es mir bei „The Hurdy Gurdy Man“ von Donovan: ich habe die langsame Variante gewählt, das Lesen von Kapitel zu Kapitel (und manches Kapitel über Tage nachwirken lassen, bis zur nächsten gut dosierten Reise).

Der alte Schotte kommt mir vor wie ein deutlich älterer Bruder, der mir von einem parallel verlaufenden Leben erzählt. Ohne jede blödsinnige Verehrungsgeste meinerseits, einfach so. Für Gänsehaut pur sorgten die letzten zwei Absätze des Kapitels vom „Windfänger“, und ich dachte hinterher an mein kurzes grosses Verliebtsein in Inge Urban, nein, Bertram (so hiess sie damals, ggf. auch Ingrid, Ingrid Bertram): ein Lagerfeuer im Süden von Dortmund, akustische Gitarrenklänge (vielleicht Moustaki),  und wie ich mich, mehr als einen Hauch unerfüllt in meiner Sehnsucht, noch stumm, ohne Geständnis meines Gefühls, zudem ein wenig trunken vom billigen Lambrusco, in die warme Asche neben die Glut gleiten liess, hinein in einen süssen Schmerz auf warmem Waldboden.

Immer mehr geriet Don in den Bann von Alice, die zwei Jahre älter war als der Rest der „beats“ (Hippies nannten sie sich scheinbar noch nicht, Inge war auch zwei Jahre älter als ich, mit siebzehn ein himmelweiter Unterschied), die einen Sommer lang (1963) an der Küste von Devon vagabundierten. Es war wohl gegenseitig, an diesem Abend ging es mit dem kleinen Boot hinaus aufs Meer, blind für die Strömung, die ihnen die Rückkehr verwehrte. Seltsam furchtlos planten sie, ans Land zurück zu schwimmen, Alice erzählte von ihrer dünnen Haut, die es unmöglich mache zu ertrinken. Schliesslich wurden sie von einem Kutter an Bord genommen.

Donovan lässt an bestimmten Stellen seiner Lebensgeschichte Songzeilen (meist eigene) aufscheinen, die den jeweiligen Moment illuminieren (und tanzen lassen) – hier rutscht ihm, als er und Alice in der Nacht zum ersten Mal miteinander schlafen, ein Satz raus, der nicht eingerückt wird, vielmehr Teil des natürlichen Erzählflusses bleibt (also anscheinend, trotz eines Reimes, aus keinem Song stammt – ich las den Satz sofort wieder, und noch einmal, und sang ihn leise vor mich hin).

Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand, weshalb dieser letztlich schlichte (mich so berührende) Satz nicht herbeigezaubert werden kann. Auf jeden Fall unterdrückte ich den Wunsch, zu den zwei Fotoblöcken des Buches vorzublättern, denn ich war mir sicher, dass diese Liebe Jahre dauern, und ein, zwei Bilder mindestens hinterliesse.

Alice und Don zogen dann wirklich los, ins Unbekannte (jetzt wohl trampend), und wurden Tage später von der Polizei ausfindig gemacht. Die Granny von Alice hatte eine Vermisstenanzeige auf den Weg gebracht, es ging alles sehr schnell. Ein weiteres Auto hielt am Strassenrand, in dem ein sogenannter „Onkel“  von Alice war, der sich nun aber (kein Scheiss, offensichtlich ein junger Onkel, und faktisch überhaupt kein Onkel) als ihr Verlobter entpuppte. Fast wäre es noch zu einem Handgemenge gekommen, und Donovan verprügelt worden. Er sollte sie nie wiedersehen. (Tage nach dem Lagerfeuer, und nach dem Zusammenraffen von genug Mut, erklärte Inge mir, in ihrem kleinen Zimmer, nahe dem „Bunker“, dass sie meine Gefühle nicht erwidere. Fair enough.)

Es wird die Stelle kommen, in dieser  allerfeinsten Autobiographie, in der erstmals ein Lied aus „Wear Your Love Like Heaven“ auftauchen wird, die vor ein paar Jahren zu meiner Donovan-Lieblingsplatte wurde: ich werde sie auflegen – ein Fest, eine erstklassige Tiefentrance. Mit 33 Umdrehungen pro Minute in eine andere, eigene Welt. Brimming with life. (Nachtrag: der angesprochene Satz findet sich auf Seite 69 der Taschenbuchausgabe: „That night love came easy and love came slow, as only lovers know.“) 

 

„Long As You Know, You’re Living Yours“. Das wäre mal ein Anfang. Ob es so kommt, ist etwas anderes, aber der Plan für meine letzten Klanghorizonte ever, am 18. 12., ist: jede Stunde nur zwei Moderationen. So der Versuchung widerstehen, noch mal ganz viel „Bedeutendes“ von sich zu geben. Also einfach basteln an perfekten Mixtapes für jede einzelne Stunde. Die Struktur „Neuland“, „Nahaufnahme“, „Zeitreise“ gilt nicht mehr, alles wird  Zeitreise sein. Ich ertappe mich bei kleinen Notizen, Namen, die, ich spielen will, unbedingt: Donovan, The Incredible String Band, Lewis, Arthur Russell. Und dann: die üblichen Verdächtigen (ECM, Brian Eno, leerer Raum und volle Dröhnung), ein paar Überraschungen natürlich auch. Was spiele ich von Talk Talk, King Crimson, und XTC? Was von der „Punkt-Bande“? Und was von John Darnielle? Wie bringe ich den Free Jazz rein, und wie die Hörnumer Jukebox ans Laufen („Waterloo Sunset“ oder „Sunny Afternoon“, das ist hier die Frage)? Wer schickt mir für die Sendung eine Single (oder eine Cd) mit „Things In Life“ von Dennis Brown? Die letzten vier Stücke der letzten 25 Minuten stehen fest (da erfordern die letzten Worte ein Quantum Understatement). Und auch, dass kein Weg an dem umwerfendsten ReggaeRoots-Album aller Zeiten vorbeigeht. Norbert „Rastafari“ Ennen wird sich nicht beklagen. Love and Peace, M! 

 


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