Es ist zu leicht, auf diese neue Ausgabe von Mono.Kultur aufmerksam zu machen. Man bräuchte nur ein, zwei Episoden des Gesprächs zum Besten zu geben. Oder drei, vier kurze Stellen zitieren. Man könnte auch, noch einfacher, die Künstlerin kurz vorstellen, mit Witz, oder im Stil von Wikipedia. Aber ist es nicht langweilig, einfach eine Schublade aufzuziehen, oder den kundigen Animateur zu geben? Wer mit ihren Arbeiten vertraut ist, braucht das alles sowieso nicht, und wird dennoch grosse Freude beim Lesen haben. Jede Ausgabe von Mono.Kultur enthält ein einziges, langes Gespräch, begleitet von Illustrationen, graphisch exzellent aufbereitet. Wer Sophie Calle nicht kennt, wird auf jeder Seite, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, verblüfft sein, verwundert. Auf Ideen kommen. Im Grunde ist die Kunst der Sophie Calle eine einzige weit verzweigte Gebrauchsanweisung, das Staunen über die eigene Existenz als ständige Option beizubehalten, das Leben als aufregende Versuchsanordnung zu gestalten, abseits selbstgefälliger Avantgardisterei. Kein Wunder, dass sie mit Laurie Anderson bestens befreundet ist. Bevor ich jetzt doch in die Falle tappe, und einzelne Stories anreisse, hier kurz eine unvollständige, entspannte Liste der Angesprochenen, um das Wort Zielgruppe zu vermeiden. Freunde generativer Musik, Zenlehrer, Psychotherapeuten, Alltagsabenteurer, Erforscher von Zufallsprozessen, Verwandlungskünstler, Pataphysiker, die Lesergemeinde von Detektivgeschichten, Julio Cortazar, Ror Wolf, Heinrich Steinfest oder den besseren Büchern von Paul Auster, Anhänger von Schelmenromanen a la Bouvard und Pécuchet, Freunde der Videowerke und Schriften von Bill Viola, alle Menschen, die Songalben von Brian Eno besitzen oder gerne seine Oblique Strategies zur Hand nehmen, jedes Individuum, das sich für Bon Ivers neues Album Twentytwo, A Million begeistern kann. Auf keinen Fall sollten sich folgende Personengruppen dieses fantastische Heft zukommen lassen. Journalisten, die sich darüber aufregen, dass Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, Leute, die Coldplay für eine grossartige Band halten, Menschen mit moralischer Verachtung für Stripteasetänzerinnen, Menschen, die das Album Mensch von Herbert G. lieben, verklemmte Calvinisten, und andere Sapiens, die auf jede Spur von Exzentrik mit Abwehr und dummen Sprüchen reagieren. (Angaben zur Bestellung in comment one.)
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2016 24 Nov.
Ein herrlich illustriertes, inspiriertes Interview mit Sophie Calle
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Mono.Kultur, Sophie Calle | 18 Comments
an einer Niemandsküste der Bretagne entlang zu wandern, ohne das geologische Wissen von Lajla, bedeutet, sich auf Intuition, altes Pfadfinderwissen und die eine und andere Internetrecherche zu verlassen. Es ist allerdings auch eine, lapidar gesagt, zutiefst romantische Angelegenheit. Ich habe manchemal grosse Lust, Musik an ganz anderen Orten zu hören, früher war es der Walkman, der Discman, heute sind es, bevorzugt, wasserdichte Boom-Boxen in Küstenregionen.
Und auch wenn Nils Petter Molvaers neues Album es nicht ganz in die Parade meiner zwanzig Meisterwerke des Jahres geschafft hat (der unglückliche Platz 21, viereinhalb Sterne, nach Downbeat-Rating, keine Diskussion!), so ist es doch ein grosses Faszinosum, und geradezu atemraubend, BUOYANCY in hereinbrechender Dunkelheit im Meer zu hören. Wenn etwas an meiner Story nicht ganz korrekt war, dann die Anzahl der Boom-Boxen: ich hatte fünf grosse Exemplare auf Felsgestein platziert, um der Musik den erforderlichen Schalldruck zu verleihen. Sah aber keinen Grund, mit technischen Details zu langweilen.
Nach meiner Highlandreise zu Beginn des Jahres war es das eindrücklichste Naturerlebnis der letzten Zeit. Und es war ein Alleinsein betörender Art. Dass ich dann doch am Folgetag ins Krankenhaus musste, lag an einer massiv geprellten Kniescheibe, und einer, wenn ich die Ärzte und ihre Schaubilder richtig verstanden habe, Patellasehnenreizung. Die Schmerzen waren über Nacht brutal geworden, und es war gar nicht so leicht, mit meinem untrainierten Französisch den Ärzten meine multiple Schmerzmittelallergie nahezubringen.
Schliesslich erkannten sie, dass Paracetamol wenig helfen würde, und ich bekam ein starkes Opiat. Musste deshalb auch eine Nacht im Krankenhaus verbringen. Als das High einsetzte, die Schmerzen zur Illusion wurden, wünschte ich mir wie aus dem Nichts, SKYLARKING von XTC im Sensurround-Sound zu hören. Steven Wilson hat da wieder ganze Arbeit geleistet. Dann glitten die Gedanken zurück zu den Bildern des abendlichen Molvaer-Rausches, und einzelne Gitarrenmotive von Geir Sundstol produzierten den einen oder anderen Flashback.
Aber geradezu surreal wurde es, als ich dann in die alte Heimat fuhr, und am Abend desselbigen Tages Zeuge eines der absurdesten und hinreissendsten Fussballspiele der jüngeren BVB-Historie wurde. Mittlerweile bin ich zu Paracetamol gewechselt, sonst hätte ich mich zwischendurch gefragt: „Träum ich, oder wach ich?“. 8:4 gegen Legia Warschau, mit einem Nuri Sahin, der alte Klasse bewies, und leider bei Thomas Tuchel fast schon aussortiert ist. Ein High reihte sich ans andere. Ach so, das von dir erwünschte „official video“ aus der Bretagne gibt es leider nicht, unser Filmemacher Ingo J. Biermann war nicht verfügbar. Und, ähem, da sich einige Manafonisten derzeit im Weather Report-Rausch befinden, eine Alternative zu BUOYANCY wäre für mich HEAVY WEATHER gewesen!
Mit besten Grüssen,
Michel de Roscoff
P.S.: Heimgekehrt, fand ich in der Post zwei neu aufgelegte Elektronikalben aus der alten Bundesrepublik, ATMOSPHERE und NORDBORG von Adelbert von Deyen, aus den Jahren 1979 und 1980. Meine Erinnerung an diese Ausgrabung von „Bureau B“ ist zu vage, um auch nur ein Wort dazu zu verlieren.
2016 20 Nov.
One Man Groove
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Nordische Musik, Plouescat, Roscoff | 1 Comment
Zwischen Roscoff und Plouescat ist es unwirsch in diesen Tagen. Stundenlange Regenfälle wechseln sich ab mit kurzen Aufrissen der Wolkendecke, wie eine Erinnerung an einen fernen Sommer, als Ulrike und ich an der Juliküste riesige Gambas (sie hatten einen etwas anderen Namen) verzehrten, südlich von Brest wild zelteten, und einem Konzert von Alain Stivell entgegenfieberten. Jetzt bin ich allein in ganz guter Gesellschaft, meine spröden Selbstgespräche haben den Charme eines Pfadfinderkurses. Ich habe an diesem windzerzausten Tag lediglich ein paar Scheiben Brot und Sardinen aus der Dose gefuttert, das kleine Haus eines Freundes liegt zwanzig Kilometer landeinwärts, ohne Navigator fände ich nie dorthin. Meine kleine Installation ist für die Dämmerung geplant, eine erstklassige Einsamkeitsübung, zur Vorbereitung erprobe ich an diesem solitären, grauen Küstenstrich den einen und anderen Tanzschritt. Ich ziehe den geliehenen Neoprenanzug an, platziere das Ipad wasserdicht im Rucksack, stelle per Blutooth die Verbindung zur wasserdichten Boom-Box her, und platziere selbige auf einem kleinen, aus dem Wasser ragenden Fels. Volle Dröhnung, aber verzerrungsfrei, und bald bin ich bin bis zu den Hüften im Wasser, sehe genau, wann ich hochspringen muss, um von der Gischt nicht umgerissen zu werden. Trotz der Synthetik ist mir noch eine Weile schweinekalt, durchgefroren vom Marsch durchs Niemandsland. Die Pause zwischen einzelnen Wellenkämmen beträgt bis zu zwanzig Sekunden. Es ist eine unfassbare Freude, in meinem nur leicht dekadenten High Tech-Outfit für lebenshungrige Eremiten, abseits von Konzerthallen und Wohnzimmern, Nils Petter Molvaers neues Album „Buoyancy“ zu hören, in den flacheren Zonen dieser gottverlassenen Bucht. Geir Sundstols Gitarren ziehen alle Register von transatlantischer Psychedelik bis hin zu zu nordländischer Frostmusik, Erland Dahlens Schlagwerk hat im Norden der Bretagne seinen Traumort gefunden, und Nils Petter hat endlich wieder ein Album gemacht, das mich fast so fesselt wie einst „Khmer“. Er ist dem eigenen Museum gerade noch mal entkommen, ich entferne mich nie zu weit von der Schallquelle, mein Ortungssystem bei geschlossenen Augen. Eine Welle reisst mich dann doch um, ich kann sie nicht austanzen, und schlage mit einem Knie voll auf Kies. Nur ein Sekundenschmerz, und eine geradezu wehmütige Trompetenspur von Herrn Molvaer lotst mich sicher ans Ufer. Wärme umfängt mich von allen Seiten, und wer mich nicht besser kennt, würde meinen, dass der nun einsetzende Lachanfall ein bedenkliches Zeichen mentaler Instabilität sein könnte. It’s a wonderful life.
2016 15 Nov.
The Labyrinth Of A Straight Line
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Cindytalk, Pere Ubu, Underground, Zeitreisen | Comments off
In einer unendlich verzweigten Szene, voller Stilbrüche, Seitenwege und Sundowner, bleibt vieles verborgen. Es ist interessant, wie eine Generation, die einst für Aufbruch stand, ein ums andere Mal die Nostalgiekarte zieht, auch wenn einstige Meilensteinsetzer lange schon in der Beschaulichkeit angekommen sind. Meister ihres Fachs, die bis zum Schluss kleine Beiträge zur Abteilung ars longa abliefern, sind uns zum Glück lang erhalten geblieben, dieses Jahr machte es, mitunter, schmerzhaft deutlich.
Aber abseits der einsamen Klasse jüngster / letzter Werke von David Bowie, Leonard Cohen, Brian Eno, Paul Simon oder Nick Cave gibt es eine andere Unterwelt, reich an entlegenen Klängen, die, wenn sie überhaupt eine Historie anzapft, dann eine verwitterte, die aus Drogenkulturen und politisch-spirituellen Kraftfeldern der Sechziger Jahre, aus Feldaufnahmen und Zeitreisen hervorgegangen ist, von der Klanggewalt alter britischer Lokomotiven bis zu elektronischen Jenseitsbildnissen (David Behrman), von alten Trickfilmmusiken bis zu javanischer Geistermusik, von wilder Roots-Musik aus den Appalachen bis zu diversen unortbaren „X-Files“, klassifiziert als „Exsurrealist“, „Dubhousing“, „Doom“ und „Strange“.
Der dreizehnte Manafonista schreibt derzeit in Cleveland, Ohio, an dem Buch dieser Geschichte. Es darf durchaus der Punkt erreicht werden, in der Schreiberei über Musik, wo die Fakten Traumland betreten, Grammophone wie von Geisterhand anspringen, und ein lang unentdeckt gebliebenes Stück von „Neu!“ in einer Krefelder Diskothek den Boden unter den Füssen wegzieht.
Solange nichts von alledem allerweltstauglich verbogen wird, in falschem Schönklang erstarrt, zu guter alter Psychedelik erklärt wird, taucht aus dem Nichts, gleichsam unermüdlich, ein Underground nach dem andern auf, wie etwa The Labyrinth Of A Straight Line von Cindytalk, ein Werk, das am 9. Dezember bei „Editions Mego“ erscheinen wird.
„The Labyrinth of the Straight Line“ is a compilation of chimerical poetry. Ambiguous haikus of agony, melancholy, obscurity and dissensus are unfolding over time. Walking on the shapeshifting paths of transgression, on the search for new realities since the early 1980’s, Cindytalk’s latest release pays homage to their industrial roots, comprising brutalist outbursts in abstract sceneries of beauty and abysmality.
As surreal and introspective as a film by Jean Cocteau, as labyrinthic and enigmatic as a story of Borges, Cindytalk succeeds in spatializing subjectivity. These introverted detournements follow the logic of dreams and form the unsettling soundtrack of an unresting mind. The outcome can be abrasive and balearic at times, but also delicate and melancholic. ‚The Labyrinth Of The Straight Line‘ forms an alphabet of dark and obscure detachment. Acid shivers of a body without organs and convulsive pumps of arteries alternate with poignant murmurs of the past that dissolve in tender shades of hushed despair and graceful debris.
We find ourselves in spaces with walls crumbling down or concaved by glazed mirrors terrorizing the claustrophobic body. From time to time we can hear a disembodied voice, speaking soft and clear like a narrator from a different reality.
Sonic psychogeography between somnambul dark ambient, claustrophobic post-industrial and nightmarish techno. Delightful sketches of escatology.
Sweet Dreams!
2016 15 Nov.
Detectorists, season one & two
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Bei aller Liebe zu England musste ich mich einst doch fragen, ob mir eine Ader für „typisch britischen Humor“ fehlt. Schliesslich hat weder in jungen noch in späteren Jahren irgendein Film von Monty Python auch nur das kleinste Schmunzeln bei mir ausgelöst, von einem Lachanfall ganz zu schweigen. Nun aber muss ich mir keine Gedanken machen, denn „britischer Humor“ scheint ein weites Feld zu sein, und die zwei Staffeln der Serie „Detectorists“ (DVD Box Set seit Ende Dezember erhältlich) sind geradezu eine Schule der Heiterkeitsausbrüche, nicht zuletzt weil die skurrile Komik stets ausbalanciert wurde von den kleinen Obsessionen und Verlorenheiten der hier auftauchenden Tagträumer.
„With its wistful tone, subtle, folky score and confidence in letting dialogue and sentiments breathe, it’s a show that does not feel the need to shout about its strengths. In fact, the series is not even really about metal-detecting. The hobby could be replaced by trainspotting, bird-watching or just spending too much time in the shed. It’s what these characters are running from, as much as what they are looking for, that lies at its heart.“ (David Renshaw, The Guardian).
Wer hätte schon gedacht, dass das amerikanische Folk-Duo Simon & Garfunkel zum coolsten „running gag“ der jüngeren BBC4-Historie mutieren, und im Norden Suffolks auf Schatzsuche gehen würde!? Und dass in der zweiten Staffel die botswanische Black Metal-Combo „Black Crust“ den heimischen Gefilden einen bizarren afrikanischen Horizont öffnen würde, ohne dass von ihnen nur ein einziger Brachialsound erklingt. In einer Zeit, als Ray Davies mitten im „love & peace“-Rummel zwischen Carnaby Street und Marquee Club die Spuren eines alten, immer mehr verschwindenden Britanniens nachzeichnete, hätte er auch hier in der Provinz fündig werden können, bei diesen im Scheitern erprobten „Metalldetektoristen“. In einer Szene findet Lance tatsächlich ein altes Teil unter der Erde, mit römischer Inschrift: „Status Quo“. Leider nur die Devotionale eines anonymen Rockers.
P.S.: Es wurde auch Zeit. Nach den 90er Jahren, die mit TWIN PEAKS und THE X-FILES den Boden bereiteten für eine noch ungeahnte TV-Serien-Zukunft, kam es in den letzten zehn, fünfzehn Jahrn zu einer enormen Verdichtung von Qualität. Und ohne dem letzten Schrei hinterherzuhecheln, werden wir allmonatlich herausragende Serien des 21. Jahrhunderts vorstellen, manche werden schon Klassikerstatus haben, andere gerade erst die Bildschirme oder heimischen Kinoleinwände erreicht haben. Stets wird ein komplettes Serienpaket vorgestellt. Gerne von Manafonisten, eine Mail (manafonistas@gmx.de) ans MHQ, Hannover, genügt, um den jeweils nächsten oder übernächsten Monat abzustimmen.
2016 15 Nov.
Kurze Animation, Thomas Beckstedts Thriller „Triptychon“ zu lesen, incl. einer leichteren Alternative
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Am besten lässt man sich auf diesen Roman ein, in dem man im Vorfeld nichts darüber liest, Augen weglässt vom Klappen- umd Rückseitentext – und in diesem Sinne erfahren Sie in diesen Zeilen auch nichts über Plot und Protagonisten, ausser, dass der Thriller, mehr, als es solch konventionelle, abgenutzte Formulierungen noch glaubhaft machen, nahezu „unerträglich spannend“ und „kaum aushaltbar noir“ ist. Vergessen Sie für ein paar Tage und Nächte Terminkalender und Zipperlein, Manafonistas und Fahrradfahren, Glühweintrinken und Marmeladebrötchen, vergessen Sie die Welt ringsum, und begeben Sie sich mit grosser innerer Stärke in diesen Vorhof der (irdischen) Hölle, freundlich ausgedrückt. Wenn Ihnen aber mehr nach Thrillern ist, die neben einer spannenden Story auch Humor bereithalten, dann lesen Sie lieber einen alten, neu aufgelegten Roman von Don Winslow, „London Undercover“ – Neil Careys erster Fall.
2016 13 Nov.
Mixtape for a quiet evening
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment
Prepare a C-60 cassette. Chose the length of silences between the three tracks. It’s a gift. Your friend is just sitting alone in a room with a 30-minute a-side of an ancient cassette, waiting for the tracks to happen. You don’t even tell your friend what’s on it. Except that there’s a lot of tape hiss, silence, nothing – in between. There is no nothing when the mind works. Deliver it decoratively wrapped up, incl. Laura Barton’s mini essay!
Silence
1) Caetano Veloso: Noite De Hotel
Silence
2) Brubeck / Desmond: Koto Song (from the record THE DUETS)
Silence
3) Leonard Cohen: Chelsea Hotel #2
2016 13 Nov.
Allergrösste Sorgfalt II
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 4 Comments
In einem Jahr, in dem politisch, sportpolitisch etc., alles, fast alles, den Bach runtergeht, die rechten Horden, die Rassisten sich versammeln, Aufwind erfahren von einem megalomanischen Präsidenten, eine kleinkarierte weisse Mittelschicht zu grossen Teilen einem Rattenfänger folgt, Menschen verachtende Konzerne Menschen verachtende Firmen aufkaufen, die alternative Kunst nur noch den Bekehrten predigt, der runde Tisch abgeschafft ist, unsere Besten, einer nach dem andern, die Bühne verlassen, darf man ja immer noch seine 3, 5, 7, 10, 12 oder 20 Lieblingsplatten benennen und dem Hauptquartier der Manafonisten (manafonistas@gmx.de) zukommen lassen, also bitte nicht mir, die Post geht nach Hannover!
Als ich also meine Top 20 (die „alternative BFBS-Charts“ aus alten Teenagerjahren, transportiert in eine angefinsterte Gegenwart (um nicht vollends schwarz zu malen)) auf den Weg schickte, fiel mir auf, wieviel Tod, Niedergang, Abschied, Zerstörung und Verzweiflung uns aus etlichen grossartigen Alben entgegenströmte, als würde da eine Ahnung privater und globaler „Doom“-Sphären abgehandelt, aufgegriffen, nicht von den üblichen schwachköpfigen Untergangspropheten.
Zudem fiel mir auf, welche eine Fülle von Klassealben 2016 veröffentlicht wurde. Im folgenden habe ich meine nichtgenannten Alben (die Plätze 21-50, roundabout) zusammengestellt, allerdings in reiner Zufallsanordnung, wissend, dass jedes dieser Alben noch vor Nikolaus in meiner „Top 20“ landen könnte. Selbst Nils Petter Molvaer hat nach seinem berühmten zwei Alben auf ECM Records, wieder ein grosses Werk veröffentlicht, das mehr ist als die Verwaltung einer geschätzen Neon-Jazz-Groove-Welt. ECM produziert weiterhin einsame Klasse, das norwegische Label Hubro rückte mehr und mehr ins Blickfeld.
Zu jedem der folgenden Alben wäre einiges zu sagen. Eure Aufgabe, liebe Manafonisten und Stargäste (einige werden noch angeschrieben), ist eine gewaltige, sage ich mit einem Schmunzeln. Natürlich gibt es Vergessenes und Überhörtes. Sowieso eine Menge Schrott und „Unterhaltungsmusik“, ein Wort, das von „unten halten“ kommt. Und, um den Kreis zu schliessen, mit welchem Song soll denn meine Zeitreise am 31. Dezember in der Radionacht Klanghorizonte zuendegehen ausser mit dem Cohen-Song „The Future“?! „Noir“ ist eine breite Palette anno 2016.
(21-50+, Stoffsammlung, ohne Gewähr, zufallssortiert, jederzeit auf dem Sprung in die Bestenliste, grossartige Musik durchweg): P.J. Harvey: The Hope Six Demolition Project / Anohni: Hopelessness / Jack DeJohnette w/ Matthew Garrison & Ravi Coltrane: In Movement / Sinnika Langeland: The Magic Forest / Nik Bärtsch’s Mobile: Continuum / Andrew Cyrille Quartet: The Decalaration of Musical Independance / Geir Sundstol: Langen Ro / Rolf Lislevand: La Masquerade / Darren Haymen: Pleasant Villages Vol. 1 / Wolfgang Muthspiel: Rising Grace / Carla Bley: Andando El Tiempo / Mats Eilertsen: Rubicon / Frank Ocean: Blond / Zsofia Boros: Local Objects / Monkey Plot: Here I Sit, Knowing All Of This / Nils Petter Molvaer: Buoyancy / Michael Kiwanuka: Love and Hate / Meredith Monk: On Behalf Of Nature / Wardruna: Runaljod – Ragnarok / Pierre Favre Drumsights: Now / Tord Gustavsen Quartett: What Was Said / Daniel Lanois: Goodbye To Language / Cindytalk: The Labyrinth of the Straight Line / Yann Tiersen: Eusa / Jakob Bro: Streams / Building Instrument: Kem Som Kam A Leve / Christian Wallumrod Ensemble: Kursam and Folger / Swans: The Glowing Man / Wilco: Schmilco / William Tyler: Modern Country / Markus Stockhausen – Florian Weber: Alba / Sturgill Simpson: A Sailor’s Guide To Earth / Kevin Morby: Singing Saw / Thomas Köner: Tiento de la Luz / Avishai Cohen: Into The Silence / The Legendary Pink Dots: Pages of Aquarius
Ich kannte das Restaurant aus der Erinnerung. St. Pauli, Hafengegend. Will man die „Segelspitzen“ sehen, muss man den Hals wie in der ersten Reihe des Kinos weit nach oben recken. Jeder Bug ragte mächtig aus dem Wasser – die nautische Sprache war mir stets fremd, auch in „Moby Dick“. Ich sagte Brian, hier gebe es keinerlei Hintergrundbeschallung, „only people’s noises“. Es war sehr laut („a wall of sound!“), der Fisch einfach, aber frisch gefangen. Wir gingen später an den grossen Schiffen entlang. Wir kennen uns nun ein gutes Vierteljahrhundert, das Gespräch war persönlich wie selten. Die Begegnungen waren stets von beidseitiger Sympathie getragen, aber hier war der Ton privat, unerzählbar. Diskret. Und manchmal weiss man, „after a last hug“: ein schönes Kapitel ist vor bester Kulisse zuende gegangen.
2016 7 Nov.
From our series „The best movies of the 21st century“ (third edition): WHIPLASH
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
„Dieser Film ist international in Musikerkreisen heftig angegriffen worden. Ich kenne keine einzige Stimme aus diesem Bereich, die den Film verteidigt oder gar gelobt hätte.“
(Henning Bolte, März 2015)
1
Andrew is an ambitious young jazz drummer, single-minded in his pursuit to rise to the top of his elite east coast music conservatory. A nightmare starts. When the jazz police had seen the movie, the right-wing academics of all colors saw their hour coming with furious responses that revealed a quite low degree of emotional intelligence. Lobbyists are lobbyists and thus a bit limited in their perception. The film was just telling a story, and a really good and complex one. And it would equally have succeeded in every other scenery, in an opera house, a sports agency, in a barber shop or a psychiatric clinic. Now comes the good news. Not all jazz guys felt insulted. Exclusive to the Blu-ray is a 42-minute documentary featuring famous drummers who share stories and discuss their passion for the craft including Chad Smith and Peter Erskine.
2
Völlig ungeachtet, was hier kulturell korrekt ist oder nicht: ein ganz fesselnder faszinierender Streifen, ohne ein Gramm Fett. „The most immersive film experience since Gravity“, bemerkte die schlaue Filmkritikerin Catherine Shroud im Guardian. WHIPLASH verwandelte Zeit in einen Flug, und die Kritik, die es hier und da hagelte, war klein und kariert. Sehr klein, sehr kariert. Lobbyisten und die Jazzpolizei. „Wütende Debatte“: da nehmen sich ein paar Geschulte wichtig. Zornig durfte man werden, als Ken Burns mit Wynton Marsalis in ihrer perfekt inszenierten Dokumentation nur elaborierten Triefsinn von sich gaben, was Free Jazz, Sun Ra und den elektrischen Miles betraf. So holte man den Jazz ins rechte Lager. Gegenüber diesen Geschichtsfälschungen ist WHIPLASH Fiktion, Film pur, grosses Spannungskino, perfekt performt. Great drumming, by the way!