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2019 6 Okt

Gregor öffnet seinen Plattenschrank (200)

von: Gregor Mundt Filed under: Blog | TB | 3 Comments

Die Beiträge zu dem fünfzigsten, hundertsten und dem einhundertfünfzigsten Plattenschrank waren für mich stets Anlass, über eine ganz besondere Musik oder ein außergewöhnliches Buch zu schreiben. Im fünfzigsten Plattenschrank war das Buch Abendland von Michael Köhlmeier  und die liebevoll gestalteten 10CD-Box Lady Day: The Complete Billy Holiday on Columbia 1933-1944 das Thema; der hundertste Plattenschrank beschäftigte sich mit der Orgelmusik von Olivier Messiaen und am Rande auch mit dem Orchesterwerk Quatuor pour la Fin du Temps. Diese Komposition stand dann im Mittelpunkt der einhundertfünfzigsten Ausgabe des Plattenschrankes.

Olivier Messiaen ist nun auch das Thema, wenn zum zweihundertsten Mal der Plattenschrank geöffnet wird. Und es geht um Vögel. Messiaen zeichnete auf seinen Weltreisen Vogelgesänge auf, ungefähr 700 Vogelrufe konnte er unterscheiden. Sein Zyklus Catalogue d’Oiseaux, 13 Stücke für Klavier, soll heute der Plattensammlung entnommen werden. Dieser Zyklus ist häufig aufgenommen worden: Pianistin Yvonne Loriod, die Messiaen am 1. Juli 1961 geheiratet hat, spielte ihn am 15. April 1954 in der Pariser Salle Gaveau zum ersten Mal (auf Schallplatte 1959 erschienen), sie ist auch Widmungsträgerin dieser Werke . In den vergangenen Jahren erschienen Einspielungen von Pierre-Laurent Aimard, Anato Ugorski, Martin Zehn und anderen. In diesem Jahr nun (15.3.2019) veröffentlichte der italienische Pianist Ciro Longobardi seine Einspielung des Catalogue d’Oiseaux. Großartig!

 
 


 
 
 
Anlässlich der Uraufführung des Stückes führte Messiaen ausführlich in sein Werk ein:
 
 
„Vor inzwischen rund 30 Jahren begann ich damit, Vogelgesang zu notieren. Meine ersten Trans-kriptionen finden sich verstreut in meinen frühesten Werken. Leider hatte ich damals keine Erfahrung und wusste nicht immer, welchem Vogel ich dies oder jenes Lied zuordnen sollte. Später holte ich mir Rat bei Spezialisten auf diesem Gebiet und lerne sehr viel auf geführten Wanderungen … Nachdem ich das getan hatte, war ich in der Lage, mit meinen eigenen Flügeln zu fliegen (nicht in übertragener Bedeutung oder als Wortspiel gemeint). Und so ziehe ich jedes Jahr im Frühling mit Bleistiften, Radiergummis, Notenpapier, Zeichenblock und einem riesigen Feldstecher bewaffnet los und reise in verschiedene Regionen Frankreichs auf der Suche nach meinen Lehrern. So entstand mein Catalogue d’oiseaux für Soloklavier … Alles stimmt genau: Die Melodien und Rhythmen des Solisten und die seiner Nachbarn, der Kontrapunkt zwischen den beiden, die Antworten, Ensembles und Augenblicke der Stille sowie die Übereinstimmung des Lieds mit der jeweiligen Tageszeit.

Besonders schwierig war es, die Klangfarben zu übertragen, vor allem auf dem Klavier: Wir alle wissen, dass die Klangfarbe sich aus der größeren oder geringeren Anzahl an Obertönen ergibt. Deshalb musste ich ungewöhnliche Tonverbindungen ausprobieren. Andererseits war das Klavier aufgrund seines Tonumfangs und der Unmittelbarkeit der Ansprache das einzige Instrument, das mit so großer Geschwindigkeit und in diesen sehr hohen Lagen sprechen kann, die für einige der virtuoseren Vögel erforderlich sind – wie zum Beispiel die Nachtigall, die Singdrossel, den Schilfrohrsänger und den Teichrohrsänger. Das Klavier ist auch das einzige Instrument, das die rauen, krächzenden und durchdringenden Rufe des Raben und des Drosselrohrsängers imitieren kann, das Scheppern des Wachtelkönigs, das Kreischen des Wasserralle, das Bellen der Silbermöwe, den trockenen und gebieterischen Klang – wie Klopfen auf Stein – des Mittelmeerschmätzers und den sonnigen Liebreiz der Blaumerle oder des Trauersteinschmätzers.

All dies grub sich mit solch poetischer Macht in mein Gehirn ein, dass ich nicht in der Lage war, es ohne Emotion in Musik umzusetzen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen! Die Vögel alleine sind große Künstler. Sie sind die eigentlichen Komponisten dieser Stücke! Wenn manchmal die musikalische Qualität nachlässt, liegt das daran, dass der Komponist sich draußen in der Natur ungeschickt verhalten oder ein störendes Geräusch gemacht hat, also mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen ist, eine Seite umgeblättert oder einen trockenen Ast abgeknickt hat.“

 

„Hören Sie den Vögeln zu, das sind große Meister“, soll der Kompositionslehrer Messiaens, Paul Dukas, zu seinem Schüler gesagt haben. Und dieser sollte später äußern: „Natur, Vogelgesang! Das sind meine Leidenschaften. Sie sind auch meine Zuflucht.“

Jedes der dreizehn Klavierstücke des Catalogue d’Oiseaux wird von Messiaen genau beschrieben. So zum Beispiel  „Die Blaumerle“ (Le Merle bleu) – das Stück Nummer drei:

 

Im Monat Juni. Roussillon, Côte Vermeille. in der Nähe von Banyuls: Kap I’Abeille, Kap Rederis. Ein Felsüberhang, Kliff über dem Meer, das daliegt in Preußischblau und Saphirblau. Schreie von Mauerseglern, Plätschern von Wasser. Die kleinen Landzungen erstrecken sich ins Meer wie Krokodile. ln einer Felsspalte die Blaumerle, deren Gesang darin nachhallt. Ihr Blau ist ein anderes als das des Meers: Veilchenblau, Schiefergrau, Seidenblau, Schwarzblau. Ihr fast schon exotischer Gesang, der an balinesische Musik erinnert, mischt sich in das Rauschen der Wellen. Auch die Theklalerche ist zu hören, die im Himmel hoch über dem Wein und dem Rosmarin flattert. Die Silbermöwen johlen von weither über dem Meer. Die Felswände sind furchterregend. Ihnen zu Füßen ersterben die Wellen in Gedanken an die Blaumerle.“

 

Messiaen wurde am 10. Dezember 1908 in Avignon geboren, er starb am 27. April 1992 in Clichy, Hauts-de-Seine). Er war Professor für Komposition am Pariser Conservatoire (1941–1978) und übte das Amt des Titularorganisten an der Kirche Sainte Trinité (Paris) mit einer Orgel von Cavaillé-Coll (1868), mehr 60 Jahre lang aus.

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3 Comments

  1. Hans-Dieter Klinger:

     

    Es passiert oft, dass Blogbeiträge oder Engelbrechts DLF-Sendungen dazu führen, dass ich mir etwas anschaffe. Michas Jazzfacts des Septembers 2019 waren ein schönes anregendes Kaleidoskop. Jetzt habe ich Micha Wollnys Alphabet im Bücherschrank – brillante verbale Improvisationen, wie jede Improvisation riskant.

    In Wollnys Alphabet kommt natürlich der Buchstabe M vor – I beg your pardon für this nothingness – ebenso in Mundts 200. Plattenschrank. Er ist Messiaen gewidmet. Aber schlagen wir, oder wer auch immer, erst einmal bei Wollny nach. Es erschließt sich mehr, wenn man diese Grafik beclickt:



    Nach der Lektüre von Gregors Jubiläums-Plattenschrank, hatte ich Lust den Catalogue d’Oiseaux anzuhören. Er steht in meinem Plattenschrank. Zur Zeit habe ich allerdings keinen Zugriff auf die CDs wegen unseres Wohnungswechsels.

    Ich mag Messiaens Musik, allerdings kenne ich nur wenige seiner Kompositionen. Von den Orgelwerken habe ich nur kleine Kostproben genommen. Oft gehört habe ich die Turangalîla-Sinfonie. Besonders ans Herz gewachsen ist mir der Klavierzyklus Vingt regards sur l’enfant-Jésus, von dem ich mehrere Aufnahmen in der Sammlung habe. Zwei davon faszinieren mich unentwegt: Peter Serkins Aufnahme von 1973, wohl die eindrucksvollste überhaupt. Durch Peter Serkin ist mir dieses bedeutende Klavierwerk bekannt geworden anlässlich eines Live-Mitschnitts von den Berliner Festwochen. Ich habe mir sogar das Notenmaterial besorgt, irrsinnig schwer, absolut unspielbar für mich. Da schaff ich es eher, den Mt. Everest in Badehose zu besteigen.

    Serkins Aufnahme ebenbürtig ist jene von Pierre-Laurent Aimard. Aimard ist einer der bedeutendsten Pianisten der Gegenwart, einer derer, die sich oft weit beyond mainstream aufhalten. Lieber Gregor, steht sein Album African Rhythms in deinem Plattenschrank?

    Ich weiß, dass Messiaen hierzublogge nicht Jedermanns Sache ist. Aber so sind die Zustände jenseits des Mainstreams, da gibt es einfach unzählige Streams – vergleichbar der Skaftá in Island.
     
     

  2. Michael E.:

    Das Schöne an diesem Blog ist die Vielfalt und die Verschränkung von Wahrnehmungen, die extrem weit auseinander liegenden „moments of fulfillment“, und dann wieder, fast kollektive Begeisterung.

    Ich bin so froh und so glücklich, dass mir manche Musik wie diese auf ewig verschlossen bleiben wird. Das ist natürlich, angesichts des Stellenwerts und der Kanonisierung des Komponisten, eine pure „minority opinion“, wie die von Timothy zu „Ghosteen“. Ich hatte mir einst dieses Doppelalbum zugelegt, diesen „catalogue d‘oiseaux“, und bei aller Wertschätzung von Vogelstimmen in der Musik, das war für mich der Graus. Völlig unberührt liess mich dieser Katalog. Und sogar die Flucht ergreifen.

  3. Hans-Dieter Klinger:

    Das Schöne an diesem Blog ist die Vielfalt und die Verschränkung von Wahrnehmungen, die extrem weit auseinander liegenden „moments of fulfillment“, und dann wieder, fast kollektive Begeisterung.

    schöner kann man es nicht sagen

    GRÜ?E von HDK


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