Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Mai 2017

2017 8 Mai

„Just letting go …“

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2017 7 Mai

Ein Pinguin in der Wüste

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Ein Pinguin in der Wüste. Und einen Sonnenbrand vom Feinsten hat er sich auch noch zugezogen. Quasi ein bißchen gegrillt. Ob das den Ohren schmeckt?

Vor einigen Jahren wählte Eckart von Hirschhausen den Pinguin in der Wüste als Bild dafür, wenn jemand seine Ressourcen nicht ausreichend wahrhabend, versucht in artfremder Umgebung zurecht zu kommen, nicht ohne die anhaltende Tendenz ständig zu scheitern. Warum also wählt Arthur Jeffes dieses Bild für das Cover seines neuen Albums? Und dem Pinguin geht es wie dem kleinen Gespenst als es Sonnenlicht abkriegt: Kein feiner Frack mehr, sondern mehr ein passendes Outfit für eine Beerdigung. Aber ist es tatsächlich schon Zeit zu gehen?

 
 
 

 
 
 

Fangen wir vorne an: Mitternacht in einer lauen Sommernacht im Grüneburgpark in Frankfurt. Normalerweise nicht die beste Zeit dorthin zu gehen, es sei denn man wollte seinen Dealer etwas ungestörter treffen. Es war schon recht ruhig geworden, kaum noch jemand unterwegs und man hörte schon das Rauschen der Autos vom Alleenring lauter als das Flüstern der Bäume. Nicht mehr lange, denn schon sehe ich zwischen ihnen ein matt erleuchtetes Zelt. Nicht wirklich groß, eher eine intime Atmosphäre zu später Stunde. Eine konspirative Veranstaltung? Endlich sind wir angekommen und haben unsere Plätze im Zelt eingenommen. Dann wird es dunkel.

Das Licht auf der kleinen Bühne geht an und herein kommen ein paar Musiker, die ein teilweise eigenartiges Instrumentarium mit sich bringen. Der Vater des oben erwähnten Protagonisten begrüßt mit ausgesprochen britischer Höflichkeit das Publikum und dann beginnen sie zu spielen. Mit dem gleichen anarchischen Spaß, mit dem sie völlig selbstverständlich um Mitternacht ein Konzert im Park anbieten. Telefonklingeltöne, Ukulelen, Gummibänder, found objects (ein Harmonium?) und nicht zuletzt das legendäre complete outfit for a double suicide. Es pulsierte mit morbidem Charme und die lichtscheuen Geister, die sich nachts in den Park zurückzogen, tanzten leise, fast wie Schatten hinter der Bühne mit. Aber trotzdem war es sicher, denn der unbändige Spaß, mit dem die Musiker zu Werke gingen, Zeit völlig ignorierten und kaum ein Ende finden konnten, schützte die Zuschauer vor ihnen und ließ sie schließlich nach Hause schweben und von oben sehen, wie die Lichter Frankfurts verblassten …

Und nun, viele Jahre später, der Vater ist an einem Hirntumor verstorben und sein Sohn erwachsen, nahm er sich des Projektes wieder an, reanimierte es quasi. Und steht jetzt als Pinguin zwischen den kleinen kräuseligen Sanddünen. Und da ist die altbekannte Eleganz gleich beim ersten Stück gleich wieder da, geht bald über in langsame akustische Drones, strecken die Zeit ein bißchen und es entsteht eine wohlige Atmosphäre. Sogar Kraftwerk und Simian Mobile Disco werden gecovert. Aber halt: wo sind die tausend kleinen Ecken und Kanten geblieben, wer hat die nicht identifizierbaren Sounds durch ein manchmal konventionell perlendes Piano ersetzt, wo sind die kleinen Schattengeister, die einst mit ihrem Tanz das Penguin Cafe Orchestra zum Leben erweckten? Sind sie in den kleinen, etwas verloren wirkenden Pinguin geschlüpft und haben seinen Frack geschwärzt? So sieht es aus: schön ist die Musik geworden, wunderbar, wenn man einmal durch einen grauen Sonntagnachmittag getragen werden möchte, immer noch filigran und voller guter Ideen.

Aber wie schrieb schon Eckart von Hirschhausen: … wenn du merkst, du bist ein Pinguin, schau dich um, wo du bist. Wenn du feststellst, dass du dich schon länger in der Wüste aufhältst … braucht es kleine Schritte in die Richtung deines Elements. Und dann heißt es: Spring ins Kalte! Und schwimm! Jump into The Imperfect Sea, making a programme out of the title again, please!

 
 
 

 

2017 7 Mai

En Marche

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Electric riders

We need no guiders

We vote in the North

We vote in the West

We are bound to Europe

We adore our best:

 

Cycliste

 

Le mouvement, le vent

complices du regard

nous, surprises violences alterndes

déjouées

par crête main trop prècise

à jambes voyageuses

la main instantanée de la belle lutteuse

 

Paul Nougé  (1895-1967)

 

2017 6 Mai

Elysium FC

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The first thing to say about Elysium FC is that it doesn’t exist, and never did. The club’s ghost stadium – kinda like a Spectral San Siro, a Stade des Fantômes – is an amazing place at 3 o’clock on a Saturday afternoon. Elysium FC will never die is the ghost chant from the ghostcrowded terraces. Elysium FC will never die.
 
 
 

 
 
 

 
 
 

 
 
 

 
 
 

 
 
 
There is something in the air here. Something deep, human, full of belief. Transcendental. I walk around. I move like a phantom. I’m at a loss to explain it though, this vibe. Then my phone rings. It’s André Breton. He has this to say:

Everything flows to make us believe that there exists a certain part the mind where life and death, the real and the imagined, the past and the future, the communicable and the incommunicable, the high and the low, cease to be perceived as contradictions.

And I think ‚Oui, André, c’est vrai‘ but the phone goes dead. So I WhatsApp my reply:


Tout est vert, tout d’un coup.

The playlist for the above photos is as follows:

Photo 2: Everything You Do Is A Balloon
Photo 3: Giftwrap Yourself, Slowly! (avoid any unintended Anglo-Deutsch puns on the word ‚Gift‘, though. lol)
Photo 1: Mutability (A New Beginning Is in the Offing)
Photo 5: Our Lives (Lost, Bolivia, New York)
Photo 4: Max
 

The cup is broken.
Everything is broken.
Everything is repairable.
Je me promène.
Principalement, je me promène.

Zur japanischen Woche soll heute eine besondere Spezialität serviert werden. Wir treten durch das Spiegelkabinett in das kleine japanische Restaurant, wo verstörend leise zum Studium der Speisekarte die seltsam perkussive Musik des Mkwaju Ensembles gespielt wird. Ein feiner Senchatee wird serviert und es gibt einen Seetangsalat mit Sesam zur Vorspeise und schon beginnen wir mit Henri Rousseau zu träumen. In früheren Kommentaren hatte ich schon angedeutet, dass wir vielleicht über Fairlights, Mallets and Bamboo sprechen sollten. Leise aber, damit das Träumen nicht gestört wird und vielleicht noch klarer werden kann. Denn da ist etwas versteckt, dass erst kürzlich wieder hinter den Spiegeln aufgewacht ist und langsam mit einem hypnotischen Rhythmus in unser Bewusstsein kreuzt (Crossing). Quasi wie die optische Rhythmik auf einem Sushiteller, der mit Wasabi und Gari eine gewisse Schärfe erreicht, loopend wie die Bänder beim Sushi-Circle und mit Overdubbing, bei dem die genussvoll entstandenen Lücken immer wieder aufgefüllt werden und das Band nie leer zu werden scheint. Aber ist das nicht reine Augenwischerei (Trompe-l’oeil) zu den reduzierten Klängen einer kleinen Holzorgel, Glöckchen und einer leeren Colaflasche? Zeit für eine Udon-Nudelsuppe und zum Nachdenken:

 

When I thought about it in retrospect, all the tracks actually have the same concept. The only subtle difference from track to track were the techniques I experimented with, and yet the main theme of the music on this album was the notion of time and body, of physicality. While approaching this idea in a multitude of variations, I wanted to understand how my physical body would react.

 

Während dessen hat im Hintergrund die Musik angezogen, Fahrt aufgenommen und sich in den Vordergrund gearbeitet, nein sich zur Summe der Katastrophe emporgeschwungen und beginnt heftiger zu oszillieren, dichter zu werden. Multirhythmisch – Steve Reich würde das Herz aufgehen. Das Gespräch ist verstummt und jeder im Raum versteht spätestens an diesem Punkt, warum andere über 600 Euros für dieses kleine Wunderwerk bezahlten bevor es wieder neu aufgelegt wurde. Ein Album, dass 1983 fast keine Beachtung fand bei seiner Veröffentlichung. Das in bloßen zwei Tagen eingespielt wurde und sich aus Mangel an finanziellen Mitteln durch konsequentes Overdubbing auf wenigen Tapes auf seine künstlerische Höhe auffaltete.

Der Ober trat an den Tisch, verneigte sich in vollendeter japanischer Diskretion und Höflichkeit und fragte, nachdem er einen kurzen Vortrag zur mathematischen Präzision und dem damit verbundenen Versuch jeglichen persönlichen Ausdruck hinter dem Klang zum Verschwinden zu bringen gehalten hatte, ob ein Nachtisch gewünscht werde. In die Stille hinein bot er einen japanischen Eisbecher zur Abrundung des Gesamterlebnisses an – bestellt!

In der Porzellanschale kamen drei Kugeln wunderbaren Speiseeises: eine apricotfarbene, eine grüne und zu meinem leichten Befremden eine graue Kugel. Nein, er wolle nichts dazu sagen, um die Geschmackserfahrung nicht durch Vorwegnahmen zu schmälern. Nie hätte ich gedacht, dass apricotfarbenes Misoeis so köstlich, grünes Algeneis so unfassbar esoterisch und graues geröstetes Sesameis so erdend seien könnten. Die Sinne waren nun endgültig überwältigt und wer schließlich wieder mühsam durch die Spiegel zurück in die Welt, aus der er kam gefunden hatte, weiß: es wird nie wieder dieselbe sein wie zuvor. Nie wieder.

 
 
 

 

2017 4 Mai

The Ecstatic Music of Alice Coltrane

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„In the decades following the death of her husband, John, the jazz musician Alice Coltrane deeply immersed herself in eastern philosophy. She changed her name to Turiyasangitananda, became a spiritual leader in the Vedic religion, and founded an ashram on 48 acres of land in southern California, attracting dozens of followers. These tracks are drawn from four rare, cassette-only releases that were distributed to devotees between 1983 and 1995. There is none of Coltrane’s trademark cosmic jazz: instead she uses clattering percussion, choral voices and the textures of the Oberheim OB8 synthesiser to build up the necessary sense of rapture. Om Shanti sounds like a Baptist gospel service sung in Sanskrit; Er Ra sees Coltrane praying in a soft, soulful, androgynous contralto over a cascading harp orchestration; the version of Journey to Satchidananda suggests something akin to a funereal dirge orchestrated by Gary Numan. Even those untouched by spiritual connotations of this music should be able to embrace its truly numinous energy.“

(John Lewis, The Guardian)

2017 3 Mai

Maskentänzer

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Sollte jemand meine Sendung über das kurze Leben des Künstlerpaares Lavinia Schulz und Walter Holdt nicht gehört haben oder sie vielleicht noch einmal hören wollen: Ein paar Tage lang steht sie noch in der Deutschlandfunk-Mediathek.

 

2017 2 Mai

Before The Fall

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“ (…) Noah Hawley really knows how to keep a reader turning the pages, but there’s more to the novel than suspense. On one hand, “Before the Fall” is a complex, compulsively readable thrill ride of a novel. On the other, it is an exploration of the human condition, a meditation on the vagaries of human nature, the dark side of celebrity, the nature of art, the power of hope and the danger of an unchecked media. The combination is a potent, gritty thriller that exposes the high cost of news as entertainment and the randomness of fate.“

(Kristin Hannah, The New York Times)

2017 2 Mai

The Edgar Awards 2017

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April 27, 2017 New York, NY – Mystery Writers of America is proud to announce the Winners of the 2017 Edgar Allan Poe Awards, honoring the best in mystery fiction, non-fiction and television published or produced in 2016. The Edgar® Awards were presented to the winners at our 71st Gala Banquet, April 27, 2017 at the Grand Hyatt Hotel, New York City.

 

BEST NOVEL – Before the Fall by Noah Hawley (Hachette Book Group – Grand Central Publishing) – in deutscher Übersetzung

BEST FIRST NOVEL BY AN AMERICAN AUTHOR – Under the Harrow by Flynn Berry (Penguin Random House – Penguin Books)

BEST PAPERBACK ORIGINAL – Rain Dogs by Adrian McKinty (Prometheus Books – Seventh Street Books) – in deutscher Übersetzung

BEST FACT CRIME – The Wicked Boy: The Mystery of a Victorian Child Murderer by Kate Summerscale (Penguin Random House – Penguin Press)

BEST CRITICAL/BIOGRAPHICAL – Shirley Jackson: A Rather Haunted Life by Ruth Franklin (W.W. Norton – Liveright)

BEST SHORT STORY – „Autumn at the Automat” – In Sunlight or in Shadow by Lawrence Block (Pegasus Books)

BEST TELEVISION EPISODE TELEPLAY – “A Blade of Grass” – Penny Dreadful, Teleplay by John Logan (Showtime)

 

GRAND MASTER
Max Allan Collins
Ellen Hart

 

tryptichon
 
läufer navigieren im netzplan: schneller als paranoia,
langsamer als der nachmittag. hackysack, gitarre, tiger,
springer durch glühende reifen, gelungene reproduktion

wir

hinterlassen geblümte tüten, der grill hat es hinter sich.
im diagramm aus stahlrohr und holz: kinder. im andern
aus patchwork und schattenriss: eltern. eine tangente

abdel

spricht arabisch, französisch und facebook. unter der stadt
autobahn herrscht stille. oder die taubheit am fluchtpunkt.
andere inseln betreten, schnittmenge, foul im strafraum:

ich
 
 
aus: Judith Hennemann: Bauplan für etwas anderes. Gedichte. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt 2017
 
 
 

 
 
 

Martina Weber: Dein Gedicht „tryptichon“ steht aufgrund seines Titels in der Tradition des Gemäldegedichtes. Das klassische Gemäldegedicht nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem Gemälde, es kann sich aber nie in dessen Beschreibung erschöpfen, sondern entwickelt etwas eigenes und kann für sich stehen, auch wenn der Leser, die Leserin das Gemälde, auf das das Gedicht sich bezieht, nicht kennt. „tryptichon“ funktioniert wie ein Wimmelbild, ich kann bei jedem Lesen auf den drei Gemäldetafeln andere Bilder sehen, auch wenn „wir“, „Abdel“ und das lyrische Ich durch die Hervorhebungen im Text vielleicht von dir als zentralen Elemente der drei Gemäldeteile angedacht wurden.

In deinem Gedicht schaffst du es, in wenigen Zeilen verschiedene Stimmungen anzuschlagen. Den Begriff „gelungene reproduktion“ könnte man in Anbetracht der Patchworkfamilie auch ironisch lesen und ich denke auch daran, dass es Frauen gibt, die den Vater ihrer Kinder nach Genpoolkriterien auswählen. Auch das Bild der geblümten Tüten als Hinterlassenschaft nach einer Grillsession mit einem Einmalgrill finde ich witzig. Ich mag auch solche kühlen Begriffe wie „tangente“. Der Name Abdel bringt eine politische Ebene ein. Es wird zwar klar, dass Abdel ein Araber ist, aber ob es einen Bezug zur „taubheit am fluchtpunkt“ gibt, bleibt offen. Diese Passage kann sich auch auf das lyrische Ich oder das lyrische Wir beziehen. Dein Gedicht ist also nicht nur ein Wimmelbild, sondern funktioniert auch noch wie ein Kaleidoskop. Kann sein, dass manche Lesende, die klare Bilder und eindeutige Bezüge brauchen, damit überfordert sind. Mich stört es nicht, ganz im Gegenteil. Eindeutigkeiten langweilen mich, sie lösen in meinem Gehirn nichts aus. Abdel kann auch Teil der Patchworkfamilie sein, Jugendlicher oder Erwachsener, möglich ist es aber auch, dass sein „fluchtpunkt“, also das Ende seiner Flucht, unter der Stadtautobahn liegt, Taubheit in den Füßen. Manchmal sehe ich auf einem der Triptychonbilder auch den Grill unter der Stadtautobahn und spüre das Ende der Patchworkfamilie (die „taubheit am fluchtpunkt“). Der Hackysack, die Tiger und die glühenden Reifen lassen mich an einen zurückliegenden Zirkusbesuch denken oder an die Vorstellung eines Zirkusbesuchs, als eingeblendetes Blitzlicht.

Sehr gefällt mir die letzte Zeile, die mit der schönen Passage „andere Inseln betreten“ beginnt. Die Passage passt zum Araber, der einen anderen Kontinent aufgesucht hat, aber auch zu einem Teil einer Patchworkfamilie oder auch zum lyrischen Ich, falls es nicht Teil der Patchworkfamilie ist (was offen bleibt). Der italienische Lyriker Filippo Tommaso Marinetti schrieb in seinem Technischen Manifest der Futuristischen Literatur: „Man muss das Verb im Infinitiv gebrauchen, damit es sich elastisch dem Substantiv anpasst und es nicht dem >Typ< des Schriftstellers unterwirft, der beobachtet oder erfindet. Das Verb im Infinitiv kann einzig den Sinn der Fortdauer des Lebens und die Elastizität der wahrnehmenden Intuition geben.“ Für die letzte Zeile deines tryptichons passt der Infinitiv perfekt. – Was meinst du zu meinen Eindrücken?

 

Judith Hennemann: Ich kann deinen mehrperspektivischen Blick auf das Gedicht sehr gut mitgehen: Du näherst dich literaturtheoretisch, assoziativ, über Bilder vor deinem inneren Auge und aus der Erinnerung, gesellschaftspolitisch und sogar mit einem technischen Modell (nämlich dem Kaleidoskop) dem Text an und nutzt damit das ganze Spektrum der Lesarten, die Lyrik bietet. Mehrdeutigkeit ist ein wichtiges Prinzip meiner Gedichte, denn nur so entsteht Raum für den Leser, für seine eigene Auslegung und emotionale Resonanz.

Ein Park in der Großstadt, in dem tryptichon verortet ist, bietet hierfür eine prima Grundlage. Nimm etwa den Begriff „Patchwork“: Er bezeichnet die Herausforderungen moderner Familien, kann aber auch für eine Picknickdecke stehen. Oder das „Foul“ im Strafraum. Wenn du es nur hörst, kann es bedeuten, dass ich zu faul bin mitzuspielen. Es kann eine verpasste Gelegenheit sein: Kein Tor. Könnte aber auch sein, dass ich enttäuscht worden bin, eben gefoult wurde. Es geht um Beziehungen, um Identität. Abdel könnte eine Person sein, die ich im Park getroffen habe, aber er ist auch ein Bild für mein eigenes Fremdsein in dieser Stadt. Ich verwende Begriffe aus der Geometrie wie die Tangente und den Fluchtpunkt, um diese Interpretationsräume aufzuspannen und mich darin zu bewegen.

Nun zu deinem Marinetti-Zitat: Der Infinitiv ist für mich nicht wertvoller oder poetischer als jede andere grammatische Form. Mir gefällt aber der von Marinetti verwendete Begriff der Elastizität von Verben im Infinitiv sehr gut, weil er mehr Bewegungsfreiheit für den Leser ermöglicht. tryptichon profitiert von dieser Option.

 

Martina Weber: Wie gehst du vor, wenn du ein Gedicht schreibst? Entsteht es eher schnell oder wächst es allmählich? Wie entstand dein „tryptichon“?

 

Judith Hennemann: Das ist sehr unterschiedlich und hängt vom Ausgangspunkt des Gedichts ab, der wie ein Funke wirkt. Ich betrachte den Funken und schaue, wie ich ihn anfachen kann. Manche Gedichte – wie etwa tryptichon – entstehen aus Situationen oder Erlebnissen. Ich nenne sie ein wenig despektierlich „Ein-Euro-Gedichte“. Das bedeutet, dass sie mir zufliegen, sagt aber nichts über die Qualität der Gedichte aus: Mal gelingt der Wurf, und manchmal eben nicht. Dann gibt es Gedichte, die mit emotionalen Erfahrungen zu tun haben: Unglückliche Liebe, individueller Schmerz. Das braucht eine geklärte Haltung und ein Feilen an der Sprache, um sie nicht zu überfrachten. Gesellschaftsbezogene, aktuelle, politische Gedichte erfordern häufig echte Recherche, eine thematische Annäherung. Viele meiner Gedichte entstehen aus der Sprache selbst. Ein Begriff wie „wearable“ wirkt auf mich zum Beispiel als Funke, oder ein Torpedoträger mit dem Namen „Schneewittchen“, den ich in Peenemünde sah.

Häufig stelle ich fest, dass der Funke am Ende des Gedichts gelöscht werden muss, damit es funktioniert. Das kann etwa bedeuten, dass ich auf die erste Zeile oder sogar Strophe verzichte, bestimmte Adjektive oder Substantive herausnehme. Der Funke überstrahlt sonst den Text, oder aber er ist redundant geworden. Ich arbeite im Schnitt 2-4 Tage an einem Text. Dazu gehört auch das Feedback meines Freundes Peter Kapp, der ein erfahrener Lyriker ist.

 

Martina Weber: Die Gedichte in deinem Band Bauplan für etwas anderes sind teilweise in normaler Rechtschreibung und teilweise hast du durchgehend Kleinschreibung verwendet. Die Kleinschreibung kann verschiedene Gründe haben, einer davon ist der, die Hierarchie zwischen Wörtern, die normalerweise groß geschrieben werden, und denen, die nicht groß geschrieben werden, zu zerstören. Ein anderer Grund ist der, dass durch Kleinschreibung und fehlende Zeichensetzung Mehrdeutigkeiten im Text erzeugt werden können. Ein Beispiel in deinem Gedicht ist die Passage: „unter der stadt/autobahn herrscht stille“. Die funktioniert eher in Kleinschreibung. Welche Gedanken hast du dir zu dem Thema der Groß- und Kleinschreibung in deinem Gedichtband gemacht? Gab es auch die Überlegung, die Gedichte in dieser Hinsicht einheitlich zu gestalten?

 

Judith Hennemann: Du schreibst ja in Deinem Fachbuch Zwischen Handwerk und Inspiration. Lyrik schreiben und veröffentlichen, dass man „viel Zeit und Geduld“ braucht, um seinen Ton zu entwickeln, und zitierst in diesem Zusammenhang Horaz, der 9 Jahre veranschlagte. Anfangs war ich so fasziniert von den zahllosen Optionen, die sich allein durch das Weglassen eines Kommas ergeben können, dass ich regelrecht in der Sprache herumgeplanscht bin. Der Bauplan-Band beinhaltet einen starken Suchprozess, das macht ihn als Debüt auch aus. Heute halte ich mich strikt an die offizielle Groß- und Kleinschreibung, verwende korrekte Interpunktion und Rechtschreibung. Ich fahre sehr gut damit, weil die Texte schon allein optisch eine klarere Sprache sprechen. Ich schließe aber nicht aus, dass sich das auch mal wieder ändert.

 

Martina Weber: Nochmal zur Schlusspassage im „tryptichon“: „andere inseln betreten, schnittmenge, foul im strafraum: // ich.“ Auch hier sind verschiedene Bezüge denkbar und mir gefällt das Freche, die Grenzüberschreitung durch das Foul im Strafraum. Ausgerechnet am Abend des zweiten Manafonistastreffens am 27. Mai in Münster läuft das DFB Pokalfinale, Borussia Dortmund gegen Eintracht Frankfurt und einige meiner Kollegen hier auf dem Blog und meine einzige Kollegin Lajla wollen das Spiel unbedingt sehen. (Du hörst meine fehlende Begeisterung darin.) Bist du, als zugereiste Frankfurterin, Eintrachtfan?

 

Judith Hennemann: Ich würde mich als wohlwollend neutral bezeichnen, was Fußball betrifft. Samstagabend läuft bei uns zu Hause die Sportschau, und wenn ich meine beste Freundin am Wochenende sehen will, muss ich ins Stadion oder – bei Auswärtsspielen – in die Fußballkneipe. Ich ziehe die Fußballkneipe vor und habe mir eine Art opportunistische Halbbildung draufgeschafft, um wenigstens hin und wieder was zur Konversation beitragen zu können. Mit dir über Literatur zu reden macht aber mehr Spaß :-).

 

Martina Weber: Dann lass uns das Aufnahmegerät abschalten und noch einen Kaffee bestellen. Die Spesen übernimmt das Manafonistas Head Quarter.

 
 
Nächste Lesung mit Judith Hennemann:

  1. Mai 2017, 20.30 Uhr

Gemeinsam mit Martina Weber

Musik: Ro Gebhardt (Jazzimprovisationen auf der Gitarre)

Moderation: Stephan Enders

Milchsackfabrik, Gutleutstraße 294, 60327 Frankfurt am Main

 

Mehr von Judith Hennemann im Netz gibt es auf Facebook und hier: https://www.fixpoetry.com/autoren/literatur/feuilleton/judith-hennemann
 
 
 

 


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