on life, music etc beyond mainstream
440.000 Fälle in den USA
178.000 Fälle in Frankreich
Omikron auf dem Vormarsch
Höchste Tageswerte
Immerhin: Paxlovid
Es gab mal eine Zeit, Mitte August, da soll es in München keinen Corona-Toten gegeben haben. Aber es gab auch eine Zeit, da wurde uns ganz unheimlich zumute, als der Rinderwahnsinn und die Vogelgrippe kamen. Sie blieben vergleichsweise harmlos. Ist schon länger her. Einige lesen in diesen Monaten „The Stand“ von Stephen King. Oder „Die Pest“ von Camus. Grossartiges Buch, ich las es mal auf Mallorca, als Lex Barker und Mario Adorf vor meinen Augen Salat auf Sonnenliegen verzehrten. Michel de Montaigne: Leben heisst Sterben lernen – gute Reise. Als Verpflegung für den Rest des Lebens, Tage, Monate, Jahre, Jahrzehnte, empfehle ich ein survival kit zuzulegen. Tunng presents Dead Club. Eine wunderbare Schallplatte. Erhebend.
Oder die Bücher, die du schon immer lesen wolltest. Wie hiess die Frau im Rateteam von Robert Lemkes „Was bin ich“? In meiner Erinnerung heisst sie Annette von Aretin (was für ein Name). Sie empfahl einst, mir unvergessen, in der Show, für Zeiten, wenn Krankheit oder Krise die Zeitfenster öffnen (damals redete man noch nicht von Zeitfenstern), alle Bände von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, adagio. Ein entfernter flüchtiger guter Bekannter tat das einst, allerdings ohne Not, und versuchte sich danach, das Leben zu nehmen.
Die Bücher, die jemandem gut tun, dafür haben Menschen meist ein gutes Händchen. Wie wäre es mit den gesammelten Werken von James Lee Burke? Ähnlich umgangreich, wäre man, kommt man an ihr Ende, wahrscheinlich mitten in der achten Welle. Oder, vielleicht doch, am Ende der Pandemie?! Humor gehört sowieso zur Grundausstattung.
2021 28 Dez.
von Martina Weber | Kategorie: Blog | | Comments off
“I wish I was flying!
I wish I was a bird!
Crossing oceans
Crossing cities
Crossing it all out!
I wish I was a surfer riding waves
I wish I was Bram Stoker paddling in the sea at Whitby
I wish I was a genius with ALL the answers“
Martina: Es hat mich erstaunt, als zweiten Track deiner letzten Ausgabe der Klanghorizonte die Titelmusik von Twin Peaks zu hören, komponiert von Angelo Badalamenti. Dafür hat es sicherlich mehrere Gründe gegeben. Der Beginn der Fernsehausstrahlung der Serie im Herbst 1991 auf RTL fällt etwa mit dem Beginn der Klanghorizonte zusammen. Wichtiger scheint mir die Reminiszenz an das Element des Unheimlichen, das sich wie ein roter Faden durch deine Musikauswahl zieht. Ich denke jetzt nur mal an einige meiner Klanghorizonte-Favoriten: Boards of Canada, Bark Psychosis, Bohren und Der Club of Gore und Labradford, aber auch an hörspielartige Tracks wie den Prolog und das Finale aus dem Horrorfilm The Fog von The Carpenter. Aber nicht nur die. Ich überlege, ob du je Musik aufgelegt hast, die auf einer subkutanen Ebene nicht unheimlich war. Zum Beispiel habe ich gerade eine Aufnahme einer Sendung vom Mai 2010 in der Hand, die ich nach einer Formulierung von dir so betitelt habe: „Glückshormone auf der Oberfläche, tiefe Nacht darunter.“ Warum ist dir das Unheimliche in den Klanghorizonten so zentral wichtig gewesen?
Michael: Das kommt nicht nur von den Gespenstergeschichten, die ich besonders in jungen Jahren liebte, von Poe oder Lovecraft. Nicht nur von uralten klassischen Kriminalromanen, von Conan Doyle, oder Simenon. Ungefähr 80 Prozent der Romane, die ich lese, sind Kriminalromane. Ist das nicht auch unheimlich!? Es war nie eine bewusste Entscheidung, dem Unheimlichen Platz zu geben, obwohl: ich liebte es, wenn sich in den Nachtstunden (anfangs waren es nur eine oder zwei, glaube ich) „seltsame Atmosphären“ ausbreiteten, in denen das Zusammenspiel von erhebender und dunkler Musik eine besondere Textur schuf: Emotionen sollten ihre klaren Zuteilungen verlieren, übliche Orientierungen abhanden kommen: Brian Enos Ambient Music war dafür ideal, „On Land“, „Music for Films“ (1978), „Apollo“ und Instrumentalstücke von „Another Green World“… diese Alben sind wohl die meist aufgelegten meiner Nächte gewesen. Mit den gesammelten Adagios von ECM. Und den Werken von Thomas Köner. John Zorn erzählte mir mal, wie sehr er „Pet Sounds“ von den Beach Boys liebte, vor allem, wegen all der Dunkelheiten unter heiteren, ausgelassenen Oberflächen. In den Klanghorizonten habe ich nie Unterhaltungsmusik gespielt. Die GEMA kodiert das falsch. Es ging um Storytelling, darum, um ein Feuer zu sitzen, zu erzählen, und zu lauschen. Und ich habe, für gewöhnlich, einen ziemlich guten Humor, bin kein finsterer Geselle.
Martina: Wie schwierig das „Sequencing“, also die Anordnung der Tracks ist, merkt man spätestens, wenn man es selbst versucht. Als ich noch Audiokassettenmixtapes gemacht habe, habe ich einmal für einen langjährigen guten Freund ein paar meiner liebsten aktuellen Stücke aus den Klanghorizonten zusammengestellt. Er beschwerte sich darüber, dass die Tracks keinen Zusammenhang ergäben. Das hat mich enttäuscht (Beides: Dass mir das Sequencing nicht gelang, und dass er so ablehnend reagiert hat.) Du hast zu deiner letzten Ausgabe der Klanghorizonte in einem Kommentar angemerkt, dass die Stimmung von Twin Peaks mit ihren Unheimlichkeiten für das Sequencing in deiner Sendung eine große Rolle gespielt hat. Inwiefern?
Michael: Ja, die Filmmusik von Angelo Badalamenti habe ich sehr oft aufgelegt. Wir haben damals, ich dachte es wäre 1989 schon losgegangen, egal… viele von uns haben sehnsüchtig gewartet auf jede neue Folge der Serie von David Lynch: sie hatte alles, eine spannende Story, vielschichtige Charaktere, femmes fatales, die von einem Abgrund zum nächsten lockten, Traumszenarien und Musikmotive, die diesen Sog der Bilder und Dialoge vertieften. Und als ich bei der Vorbereitung der letzten Nacht „Twin Peaks“ wieder mal von Anfang bis Ende hörte, war es noch leichter, aus etlichen vor-ausgewählten Stapeln von LPs und CDs die eine und andere Musik rauszupicken, die mithalf, einen perfekten Spannungsbogen für jede einzelne Stunde zu ermöglichen. Und viele Nächte waren mehrstimmig, in fast 32 Jahren waren ausser meiner noch 150 bis 250 andere Stimmen zu hören, Musiker, Komponisten, die mit O-Tönen ihre eigenen Stories beisteuerten.
Martina: An manche O-Töne erinnere ich mich wortwörtlich und von ihrem Rhythmus und Sound her. „We lived in an isolated house“, hieß es einmal zu einer Plattenaufnahme in Norwegen, ich weiß aber nicht, welche, aber ich würde die Stimme wiedererkennen. Und dann sprach der Interviewte über das gute Essen. Hat dich dein „Sequencing“ während der Nächte auch mal überrascht?
Michael: Schon, weil Dinge, die du dir vorstellst, mitunter anders rüberkommen wenn sie dann real geschehen, nachts. Zwei Beispiele. Da ist diese Sache mit den „Oldies“ – ich mag den Begriff überhaupt nicht. Und ich versuche, wann immer es geht, sog. „Oldies“ – aufgepasst, anstrengendes Fremdwort! – zu dekontextualisieren. Wenn ich solche Songs der Jahre 1965 bis 1975 spiele, die haufenweise Jukeboxgeschichte geschrieben haben, will ich sie aus dem Feld von Nostalgie und Regression rausholen. Wie in der letzten Nacht. Da lief in der ersten Stunde kurz vorm Ende eine Feldaufnahme von Chris Watson, von einer abgelegenen Insel, meilenweit von der Küste Northumberlands entfernt, eine ganze Zeit lang – ich blendete das Stück langsam aus, ein Moment Stille, und dann, aus dem Nichts, der großartigste Song, den Marc Bolan je geschrieben hat, Cosmic Dancer, über den schillernden Reigen des Lebens zwischen Geburt und Tod. Das ist existenzieller Stoff. Da klappte es mit dem „Sequencing“ perfekt. Das kommt ja fast wie ein Schock daher, ich mag solche „was-ist-denn-hier-los“-Momente.
An anderer Stelle habe ich mich selber ausgetrickst. In der ersten Stunde kam auch eine Komposition von Jon Balkes fantastischer CD „Warp“, eine von gefühlten fünfhundert ECM-Alben, die ich seit 1990 im Radio gespielt habe, wahrscheinlich noch mehr – ich hatte mir ein Stück daraus ausgesucht, in dem Piano, Elektronisches, und Sounds aus einem Freibad zu hören sind – und plötzlich, nichts dergleichen, vielmehr gesellen sich zum Klavier seltsame Gesänge eines alten Chors. Ich war so irritiert, dass ich dachte, eine andere Klangquelle wäre im Spiel, ich habe vielleicht vergessen eine CD zu stoppen – wenn du die Stunde hörst, merkst du, dass ich an einer Stelle die Lautstärke des Balke-Stückes runterregle, um zu hören, ob der Chor dann auch leiser wird. Ich war perplex, ein kleiner Blackout, der nachts manchmal passieren kann. Aber alles war gut. Es war nur nicht die perfekte Sequenz. Die Geräusche aus dem Schwimmbad wären besser gewesen. Dachte ich jedenfalls in dem Moment.
Martina: Ein weiterer zentraler Begriff, der deiner Musikauswahl zugrunde liegt, ist das Archaische. Nirgendwo habe ich das Wort so oft gehört wie in deinen Moderationen; in jüngster Zeit habe ich es allenfalls noch in Interviews mit Gary Snyder in dem inspirierenden Interviewband Landschaften des Bewusstseins gelesen. Das Archaische, das können Field Recordings sein, auch aus rätselhaften, unzugänglichen Regionen, echt oder elektronikverstärkt, aber auch ganz andere musikalische Sprachen als die nordamerikanisch-europäisch geprägten, die uns vertraut sind. „Rockmusik als archaisches Ritual“ – ich erinnere mich an diese Formulierung von dir zu dem Album „The Seer“ von Swans. In deinen letzten Klanghorizonten vom 18. Dezember stand das Archaische in der dritten Stunde im Mittelpunkt, es war die Stunde der „Weltmusik“ und der Adaption afrikanischer Klänge in unseren Kulturraum. Die Abteilung Archaik im Sinn einer afrikanischen Weltmusik ist zwar die kleinste in meinem Plattenschrank, dennoch erlebe ich die Wirkung als enorm und geradezu als bewusstseinserweiternd. Das schließt auch bedrohliche Gefühle mit ein. Vor einigen Jahren habe ich eine Woche in Kapstadt verbracht, bin einmal als einzige Weiße an einem sommerlichen Nachmittag durch eine belebte Hauptstraße gegangen – eine wichtige Erfahrung für mich. Archaische Musik berührt uns auf andere Art als Musik unserer Kultur, sie ist stärker in einer Welt des Unterbewussten angesiedelt, weil uns die kulturellen Zusammenhänge und die Worte dafür fehlen. Wie kam es, dass dir das Archaische in den Klanghorizonten immer ein wichtiges Anliegen gewesen ist?
Michael: Das Archaische ist an das Unheimliche gebunden, weitaus mehr als an fremde Ethnien. Es ist ein Lieblingsbegriff, dessen Konnotationen bei mir wohl sehr weit gehen. Vielleicht war es auch Quatsch, eine Marotte, dieses Wort so oft zu verwenden. So habe ich zum Beispiel einen intuitiven Zugang zu den „Roots“ des „Reggae“. Nyabhingi-Trommeln. Früher Marley. Lee Perry. Mir ist völlig unklar, warum ich mich diesen Klängen so nahe fühle. Das Album von Keith Hudson aus dem Jahr 1974, das ich in der „Weltmusik“-Stunde spielte, „Flesh Of My Skin, Blood Of My Blood“, berührt mich tiefer als die Sechste Symphonie von Beethoven. Viel tiefer. Selbst Menschen, die mit Klassischer Musik wenig am Hut haben, runzeln hier vielleicht ein wenig die Stirn – so tief sitzen Konditionierungen, die uns Klassische Musik als heiligen Gral vorgaukeln. Lächerlich.
Das Archaische zielt auf Hörerlebnisse, die etwas Uraltes in uns wachrufen, bis hin zu der dünnen Grenze, wo Grenzen von Ich und Nicht-Ich etwas ins Schwimmen geraten können. Tiefe Trance, tiefe Empathie. Nicht zu versprachlichende Empfindungen. Welche Musik das ist, da trifft natürlich jeder seine eigene Wahl – solange Musik Seelennahrung bedeutet. Gestern war es „Dis“ von Jan Garbarek, abends, in meiner „elektrischen Höhle“. Gustav Mahler war für mich in jungen Jahren der Inbegriff des Archaischen.
Und dieses Archaische zielt auf Räume unseres Unterbewussten, ganz klar. Als Psychotherapeut arbeite ich mit Hypnose und Trance, mit veränderten Bewusstseinszuständen, die aus vertrauten Mustern rausführen. Meine Radionächte stimulieren ähnliche Prozesse. Hilfreich, bei solchen „Nachtwanderungen“, ist es, dass der Storyteller im Grunde ziemlich witzig ist, oder gewitzt – stell dir vor, dass alles würde bierernst inszeniert, calvinistisch, von der Kanzel, akademisch, schlaumeierisch, oder supercool – das wäre dann sehr leicht peinlich.
Martina: Ein Gedanke, der mich an deinen Moderationen immer fasziniert hat, war der, dass die Musik uns in andere Räume transportiert. Im Lauf der Zeit wurde mir klar, dass das ganz verschiedene Räume sein können, von real existierenden geographischen Landschaften, auch Stadtlandschaften (Underworld: mmm skyscraper i love you) bis zu Regionen, die individuelle und kollektive Erinnerungen hervorrufen (Trains of the Night) bis zu psychedelisch erfahrbaren Landschaften des Unterbewusstseins in Jon Hopkins Music for Psychedelic Therapy. Was bedeutet der Gedanke, dass Musik dich in andere Räume transportiert, für dich?
Michael: Diese „anderen Räume“ sind genau das, Martina, bestimmte Aussen- und Innenwelten. Nimm die Musik und das Cover der ersten Zusammenarbeit von Cluster & Eno! Oder die lyrics von Karl Hyde (s. oben), aus dem Underworld-Song „Hundred Weight Hammer“. Aus der „Drift Series 1“, für mich eine der grossen Schatzkisten der letzten 50 Jahre, wie sonst noch Keith Jarretts „Sun Bear Concerts“ oder Brian Enos „Music for Installations“. Was Innenwelten betrifft, da öffnet sich bei jedem Hörer ein anderer Ort. Und wenn sie „nur“ die Frequenz der Atmung senkt, besänftigt. Musik kann Initialzündung sein, Stimulanz, Raumöffner, Schutzschild, Teil eines survival kits, je nachdem. Der innere Prozess bleibt Privatsache. Zur richtigen Zeit gehört, begleitet dich eine bestimmte Klangwelt, kann dem Leben eine andere Richtung suggerieren, Empfindungen vertiefen, einer Trauer Form geben, einen Horizont öffnen (ich rede nicht von einem Bildungshorizont.). Mehr „Transport“ geht nicht.
Martina: Für mich, die ich wusste, dass es deine letzte Ausgabe der Klanghorizonte sein würde, wurde es melancholisch, als ich Abschiedsandeutungen wahrnahm: „by the time this cigarette is finished“ (Lambchop), „remember me“ (Laurie Anderson). Auch deshalb habe ich mich sehr über den ersten, energiegeladenen Track der letzten zwanzig Minuten gefreut, die Liveaufnahme der Allman Brothers Band at Fillmore East aus dem Jahr 1971. Das Zuhören hat alle Aufmerksamkeit gefordert und keinen Raum für Reflexionen zugelassen. Dann folgte die letzte Moderation, in der du unter anderem gesagt hast, dass das Gedicht von Ezra Pound (In the Station of the Metro) mit dem Blick auf Gesichter in der Menge nach der Interpretation deines wichtigsten Lehrers die Zyklen des Lebens veranschaulicht: Die Menschen in der U-Bahn sind verschieden alt. Im Hinblick auf 30 Jahre Klanghorizonte könnte ich noch eine Interpretation hinzufügen: Es ist auch dein eigenes Gesicht, das immer wieder in der Menge in einer Metro aufscheint, dein Gesicht, wie es sich im Lauf der Zeit verändert hat. Es kommt immer darauf an, von welchem Blickwinkel aus man etwas betrachtet und welchen Raumbegriff man anlegt, oder nicht?
Michael: Genau. Und ich wusste, die letzte Stunde, die letzten zwanzig Minuten werden emotional. Natürlich war diese letzte Nacht eine einzige Abschiedsvorstellung. Und was wollte ich ganz am Ende spielen? Wie sollte das Finale aussehen, klingen? Ich verabschiedete mich früh von der Vorstellung, „In My Life“ von The Beatles zu spielen, oder „Days“ von den Kinks. Nicht so dick auftragen. Obwohl – in einer allerletzten Sendung hast du Narrenfreiheit.
Die nächste Idee war, eine Wegstrecke aus der LP „Trains In The Night“ herzunehmen. Eine Reihe von Aufnahmen von Dampflokomotiven-Enthusiasten, die sich im Morgengrauen auf freier Wildbahn auf die Lauer legten, irgendwann früh in den Sechziger Jahren (während die Beatles in Hamburg Rock’n’Roll spielten), um die Geräusche der Lokomotiven und frühen Vögel einzufangen. Ein Evergreen unter meinen „Field Recordings“ in den dreissig Jahren. Eine Kreuzblende mit Enos „Discreet Music“ – letzte Worte, und dann, trara, ein herzerweichender spanischer Discoschlager, „Resistir“. Ich liebe den Song, den ich erstmals hörte am Ende von Pedro Almodovars herrlich trashigem, und wunderbar romantischen Film „Fessle mich!“
Aber schliesslich machte eine andere Kombi das Rennen. Ich wollte unbedingt irgendwann in der Nacht „In Memory of Elizabeth Reed“ spielen, von den Allman Brothers. Was für eine Liebeserklärung ohne Worte. Die fliegende Slide-Gitarre von Duane, Monate, bevor ein LKW eine Ladung Pfirsiche verlor und ihn unter sich begrub. Und dann, natürlich, Brian sings The Beatles, sozusagen, haha, aus „801 Live“. Die Zeit passte genau für zwanzig Minuten. Und das Intro von „Tomorrow Never Knows“, war exakt zwei Minuten lang, sehr rhythmisch, die ideale Grundierung für meinen letzten Text. Alles uptempo, ich wollte es nicht zu sentimental haben. Aber ein bisschen sentimental schon.
Mir war im Vorhinein klar, dass meine Stimme „brechen“ könnte, wenn mir bei meinen Abschiedsworten ein paar Dinge zu nah gehen, und das wollte ich nicht. Nicht, dass mich das geniert hätte, aber am Ende wollte ich eine geballte Ladung Lebensenergie, mit ein paar Elementen von „mystery“, Martina, à la „Twin Peaks“. Der Text von „Tomorrow Never Knows“, das ist mystery pur. Ich schrieb den letzten Text im Vorfeld haarklein auf, Satz für Satz. Und ich übte ihn sogar ein, was ich sonst nie mache. Ich beabsichtigte, das Tempo anzuziehen, und dabei eine lebendige Modulation der Stimme nicht zu vernachlässigen. Ausserdem ist es ein Trick: bei höherer Sprechgeschwindigkeit ist die Gefahr geringer, dass du dir ein paar Tränen aus den Augenwinkeln wischen musst.
Ich musste unter zwei Minuten bleiben, Harald Rehmann sollte darin vorkommen, meine lebenslange Liebe zu dem Album der Allman Brothers, der beste Lehrer, den ich je hatte, mein Freund Brian Whistler, etwas über den Hintergrund des Lennon/McCartney-Songs, die Ankündigung meines Nachfolgers, die zwei Gedichte von Pound und Shakespeare, und meine Londoner Undergroundreisen der letzten drei Jahrzehnte. Das ist eine Menge Stoff für zwei Minuten. Sowas improvisierst du nicht. Und, es hat geklappt. Dank Hans-Dieter Klinger und deinen Mitschneidekünsten, bleibt diese Nacht erhalten. Und das Finale liefert dieses Interview gleich mit. Wunderbare Fragen.
Martina: Erzähl‘ doch noch eine Geschichte.
Michael: Ich lese dir einfach etwas vor, was Ralph Molina von „Crazy Horse“ neulich erzählte. Er wurde gefragt, wie es gewesen war, bei der Produktion von Neil Youngs „Barn“. Auf dem Album ragen zwei Songs heraus, „Welcome Back“ und „Song of the Seasons“. Und Ralph sagte: „Wir spielen fast nie in Studios. Ich glaube, keiner von uns mag Studios. In der Scheune hatten wir einen guten Sound. Das einzige Problem war, dass es dort oben in den Bergen nachts kühl wurde. Und ich saß dort, wo über mir dieses riesige offene Fenster war, über dem eine Art Decke oder so hing. Und der Wind hat einfach ssssssh auf mich heruntergewirbelt. Es ist schwer zu spielen, wenn es kalt ist. Ich saß dann vor einer Heizung, das war mein Platz.“ Hätte ich dieses Interview gemacht, dieser O-Ton wäre garantiert in der Nacht zu hören gewesen. Da steckt viel drin. Und dann: „Ich habe mit Neil gesprochen, vielleicht vor einem Monat, und ich hatte endlich die Nerven, nach 50 verdammten Jahren, in denen ich mit ihm gespielt habe. Ich sagte: „Weißt du, wenn Elliot Roberts und David Briggs noch leben würden, würden sie wahrscheinlich das sagen, was ich dir jetzt sagen werde. Wenn man mit Crazy Horse spielt, muss man die Hymnen schreiben, die längeren Songs.‘ Da kann Neil glänzen. Er hat sich das zu Herzen genommen. „Welcome Back“ ist etwa neun Minuten lang, und alles leuchtet.“
Martina: Alles leuchtet.
Michael: Alles leuchtet – mir fallen dazu Boards of Canada ein: die beiden Brüder verweigern sich den Moden der Electronica ihrer Zeit. Sie lieben eine unstete, schwankende, verwackelte Textur, die an uralte Filmspulen erinnert, verstaubte Magnetbänder, abgelagertes Vinyl, alles anfällig für Verfall, Verzerrung – und Verzauberung. Da spielt stets das Unheimliche mit. Bei manchen Stücken von „Music has the right to children“ springen einen Erinnerungen geradezu an – jeder kennt gebleichte Fotosammlungen, das Driften durch Super-8-Filme der Kindheit, die gespeicherten Emotionen. Stranger Things…
Weisst du noch, damals.
Nein.
Weisst du noch.
War es schön, es war doch schön, manchmal, oder.
Ja ja, auch. Aber.
Aber.
Es war auch … anders.
Unheimlich.
Manchmal unheimlich schön.
2021 28 Dez.
von Manafonistas | Kategorie: Blog | Tags: My favourite 10 albums of 2021 | | Comments off
Jon Hopkins‘ new album is a quiet stunner, with the most breathtaking, „breathgiving“ final piece, „Sit Around The Fire“. Though Ram Dass (the voice speaking) is known as a spiritual teacher, his words reach beyond the space of preaching to the converted. It is easy to absorb them in their deeply human, existential, even „existentialist“ dimension. Martina Weber will mention „Music For Psychedelic Therapy“ in an interview she did with me the other day. And, another theme entering there, is the sphere of friendship and love in regards to Neil Young’s „Barn“, a late work with the incredible „Crazy Horse“. Apart from two outstanding songs there is a short little hymn at the end.
(m.e.)
„Everybody looks at Neil with Crazy Horse and thinks Cinnamon Girl or Down By The River or Like A Hurricane. Y’know, 20-minute, bombastic, 120-decibel assaults. No one gives them credit for the times they’re teared-up and crying and dumping their guts behind the lyric. Like the last song on Barn, Don’t Forget Love. I mean, it rips my heart out. And I mixed it. I’ve heard it 1000 times. When they did it, they were all thinking about the lyric. They were all singing ‘don’t forget love’ and what it meant to them. There wasn’t a dry eye in the [recording] truck. That’s what you get that’s different. They don’t do parts. They do emotions. With Crazy Horse, you’re not recording individual instruments, you’re recording a combined soul.”(Niko Bolas, producer on and off, since Landing on Water)
2021 27 Dez.
von Jochen Siemer | Kategorie: Blog | Tags: Eigene Musik | | 1 Comment
2021 26 Dez.
von Jochen Siemer | Kategorie: Blog | Tags: Fotosequenzen | | 5 Comments
„Villeneuve versteht es meisterhaft, das kolossale Spektakel mit dem intimen Herannahen der Gefahr und einer geheimnisvollen dramatischen Sprache zu verbinden, die die Fremdartigkeit jeder Textur und Oberfläche hervorhebt. Vielleicht noch mehr als in seinem vorherigen Film, Blade Runner 2049 (eine weitere kühne Neuerfindung), ist das Sounddesign und die Musik dieses Films überzeugend: Es pocht, knirscht und flüstert durch das Kino.“
„Wie eine Figur selbstbewusst sagt: „Das Mysterium des Lebens ist kein Problem, das es zu lösen gilt, sondern eine Realität, die es zu erfahren gilt.“ Was uns Dune bietet, ist nicht ganz das, eher eine Unwirklichkeit, eine gigantische Variante des Universums, mit eigener Kultur, Gesellschaft, Ritualen, Physik und Chemie. Eine Erfahrung ist es auf jeden Fall.“
“Das war ein Schuss in den Ofen, aber ich erinnere mich trotzdem noch genau, wie ich an einem heissen Sommertag die Brücktrasse in Dortmund entlangging, das Kino betrat („Film-Casino“ hiess ein anderes, ich komme nicht auf den Namen dieses Kichtspieltheaters, vielleicht „Capitol“), und „Dune“ in der Verfilmung von David Lynch sah. Wahrscheinlich funktioniert meine Erinnerung so gut, weil ich nach „Der Elefantenmensch“ einfach Grandioses erwartete, mit einer Komposition von Eno garniert: die Langeweile, die mir dieser Film bescherte, war kaum zu überbieten, ausser durch die meisten Rainer Werner Fassbinder-Filme jener Jahre, und ich verliess das Kino lange vor dem Ende, fast fluchtartig. Eine halbe Ewigkeit später wurde ich dann doch in die Story hineingezogen, von Denis Villeneuves Verfilmung. Es gibt zwar hier nach wie vor das Opulente, aber eben auch den „menschlichen Faktor“, in dem Detailverliebtheit und Effektfülle Momente von Intimität keineswegs unter Riesensandwürmern begraben, sondern wundersam hervortreten lassen: solche Schauer der Innerlichkeit sind selten in Epen, die das grosse Besteck benutzen. Einige Szenen bleiben unvergesslich, und ich freue mich auf das zweite Sehen, und den zweiten Teil. Ohne je ein bekennender Sci-fi-Fan gewesen zu sein.
„Träume sind gute Geschichten„, sagt Jason Momoas Duncan Idaho, „aber alles Wichtige passiert, wenn wir wach sind.“ Das ist ein Satz, der in einem Film, der trotz seiner unheimlichen Aussichten erstaunlich viel Sinn ergibt, einen Nerv trifft. Ob das so bleibt, wird sich zeigen – es liegen noch gewaltige erzählerische Hürden vor uns – aber im Moment reitet Villeneuve den sehnigen Wurm von Herberts heiligem Text mit Bravour.
Texte von Mark Kermode, Michael Engelbrecht und Peter Bradshaw, die, in der Reihenfolge ihrer Nennung, dieser Neuverfilmung eines weltberühmten Science-Fiction-Epos, vier, vier, sowie fünf Sterne geben.
2021 25 Dez.
von Michael Engelbrecht | Kategorie: Blog | Tags: 10 000 Hz Legend, Air, Can, Cat Power, Florian Illies, Jammertal, Jan Reetze, Klanghorizonte, Kreidler, Lee Morgan, Liebe in Zeiten des Hasses, the Silent Sea, The White Lotus, Wolkenkuckucksland | | 2 Comments
Die Idee stammte von Jo, die von Lajla ins Leben gerufene „Echokammer“ in unseren Kolumnen unterzubringen. Und da in der Abteilung der „Zeitreisen Januar“ auch meine letzte Version der Radionacht untergebracht ist, werden im Februar das Erinnern an 30 Jahre voller „Horizonte“ und die freundlichen Echos darauf vom Fluss der Zeit mitgenommen.
The music never dies. Hört nur, Cat Power und Kreidler im Januar, oder die Ausgrabungen von vier Nächten in Kalifornien, Lee Morgan hochkreativ und clean, ein Jahr vor seinem tragisch frühen Tod (Ernst Augustin singt ein Loblied auf „The Sidewinder“ in seinem tollen Roman „Der amerikanische Traum“) – oder jenes einst umstrittene Album von Air, das mich nach 20 Jahren mehr bezaubert als jedes andere ihrer Werke.
Und wer an Urlaub denkt, aber in diesen Zeiten zögert mit der grossen weiten Welt, dem empfehle ich zwei Abstecher – eins in das hawaianische Ferienparadies „The White Lotus“ (bei amazon prime mit kleinem Aufpreis zu buchen), oder das „Jammertal“ nahe Datteln, eine nicht minder vorzügliche Hotelanlage, an der Grenze zum Münsterland. Einem meditativen Kurzurlaub steht dort nichts im Wege, solange man sich in der Heidelandschaft ringsum nicht verläuft. Wie sang doch einst Brian Eno, von einem anderen Hinterland: „Don‘t get lost in Lueneburg Heath!“.
In regards to journeys, a friend of mine wrote me an email today about bingewatching THE SILENT SEA on Netflix within the last two days. A story about a moon mission that goes very, very wrong. The South Koreans did some great TV series lately, and he calls this one „terrific“. So, let‘s find out. At least I can say, my favourite Korean actress, Kim Sun Young, is on board, too. Seems to be emotional Sci-Fi with very human echoes.
An der Stelle der „Echokammer“ findet sich ab Februar Neues / Altes – statt „Thrill (of the Month)“ heisst es dann „Erzählwerk“, als originelleres Synonym für „Buch des Monats“. Oder sollte es „Storytelling“ heissen? Da auch Philosophen mit jedem Buch uns etwas „erzählen“, einer Version von „Durchdringung / Spiegelung von Wirklichkeit“, und selbst Autobiografien „Versionen“ erzählen, kann jeder Manafonist hier genrefrei „posten“, Philosophica, Kriminalliteratur, Musikbücher, „Non-Fiction“, 1000-Seiten-Schmöker, Lyrikbände, Märchen aus aller Welt, „Erzählwerk“, „Storytelling“ – im weitesten Sinne!
Und wenn in diesen Tagen soviel von Storytelling die Rede ist – Anthony Doerrs „Wolkenkuckucksland“ ist dafür ein überfliessendes Paradebeispiel, zugleich ein „Time-Travel“-Roman der Sonderklasse. Mein Dank an Jason Sheehan, für die paar Sätze, die das Faszinosum dieses Buches auf den Punkt bringen! Eine andere spannende Reise, eine in die frühe Zeit des letzten Jahrhunderts, bietet das von Jan hier am 21. Dezember vorgestellte Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“ von Florian Illies. Wann erscheint eigentlich Jan Reetzes opus magnum in deutscher Übersetzung – diese Frage stellte ich mir, als ich gestern Can‘s „Live in Brighton 1975“ hörte, neben Air meine Weihnachtsmusik … .
Noch einmal zurück zu Cat Power, mit den Worten von Victoria Segal: „Dieses Werk zeigt erneut Marshalls außergewöhnliche Fähigkeit, sich in das Mark eines Songs zu graben, sei es Lana Del Reys White „Mustang“ oder Kitty Wells‘ „It Wasn’t God Who Made Honky Tonk Angels“. Sie fährt mit dem Messer entlang der Wirbelsäule von Frank Ocean’s „Bad Religion“. Ihre Stimme ist wie immer eine Sache von ausdrucksstarker, erschöpfter Schönheit.“ P.S.: ein Song von den Pogues ist auch im Spiel.
„Once upon a time a band set out to make a Christmas song. Not about snow or sleigh rides or mistletoe or miracles, but lost youth and ruined dreams. A song in which Christmas is as much the problem as it is the solution. A kind of anti-Christmas song that ended up being, for a generation, the Christmas song. That song, Fairytale of New York by the Pogues, has just been reissued to mark its 25th anniversary; it has already re-entered the Top 20 every December since 2005, and shows no sign of losing its appeal. It is loved because it feels more emotionally „real“ than the homesick sentimentality of White Christmas or the bullish bonhomie of Merry Xmas Everybody, but it contains elements of both and the story it tells is an unreal fantasy of 1940s New York dreamed up in 1980s London.“(Dorian Lynskey)
Die eine Nacht der Herrlichkeit
von Rainer Maria Rilke 1897
Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt
Und manche Tanne ahnt wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird.
Und lauscht hinaus den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind, und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.