Manafonistas

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2022 31 Dez.

Die Klanghorizonte vom 30. März

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Was Höhen – und Breitengrade sowie Stilfragen angeht, liegen die Soundwelten dieser Stunde weit auseinander, und doch ist nichts wild zusammengewürfelt! Zwölf Alben, zwölf Horizonte. Am Mikrofon begrüsst Sie Michael Engelbrecht. Wir beginnen mit dem neuen Album der „roots-bewussten“ wie radikalen irischen Folkband Lankum, und landen schlussendlich in einer Berliner Dubwerkstatt mit dominikanischen Wurzeln. Genug der Vorrede. Ich habe Ian McLynch von Lankum nach ihrer Handhabung irischer Überlieferungen gefragt, und wieso das Werk, als wäre es eine Fälschung, „False Lankum“ heisst.

OTON (1) – Ian McLynch (Lankum) – Der Titel False Lankum ist der Originaltitel des Songs, von dem wir unseren Bandnamen übernommen haben. Und der Grund, warum wir diesen Titel für das Album gewählt haben, ist, dass er alle möglichen Fragen aufwirft… Was ist das wahre Lankum.  Sind wir das wahre Lankum, oder sind wir das falsche Lankum?  Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Reinheit gibt, wenn es um traditionelles Liedgut geht. Selbst die Instrumente, die man heute in der irischen Tradition sieht, gab es nicht immer. Wenn man 50 Jahre zurückgeht, dachten einige Leute, Mandoline und Bouzouki seien ein Gräuel für die irische Tradition. Vor 150 Jahren meinten einige Wächter der Kultur, irische Musik bestehe nur aus Flöten  und Fiedeln. Geht man 200 Jahre zurück, gibt es hier keine Fiedel. Es ist eine Geschichte der ständigen Bewegung und der Einflüsse aus anderen Ländern. Also: sind wir hier, um die Tradition zu retten, oder sind wir hier, um die Tradition zu zerstören, oder sind wir vielleicht Jonas, der aus dem Schiff geworfen werden muss.“

M1 Lankum: Netta Perseus

Mod 2 – „Netta Perseus“, aus dem Album „False Lankum“ von Lankum. Die Auswahl der „traditionals“ und eigene Stücke nahmen erste Form an im Martello Tower in Dublin, als Covid die Insel massiv lahmlegte.  Hinreissende Lovesongs wechseln mit dunklem Horror ab. Erdtöne, „Drones“, mischen sich in oft kühne Versionen alter Stoffe. So wie das Meer in viele Songs von Lankum reinspielt, so finden sich Naturklanginsprationen auch im 25. Album von Stephan Micus für  ECM Records.  Seit den Siebziger Jahren Labels erscheint  da dort seine  vielschichtige  Meditationsmusik. Ein Klangsucher, ein Globetrotter. Mittlerweile  70 Jahre alt,  bringt  Micus einmal mehr Instrumente aus diversen Erdwinkeln zusammen, und baut sie mitunter nach eigenen Vorstellungen um. Auf dem folgenden Stück der – den Donnergöttern gewidmeten –  CD „Thunder“,  sind zu hören, alles im Alleingang eingespielt: drei Sarangi, zwei Basszithern, und eine Nickelharpa. Fraglos spirituell befeuerte Musik, aber auch ohne Chi Gong und Feng Shui kann man sich in diese Klänge fallen lassen. „A Song for Zeus“.

M2 – Stephan Micus: A Song For Zeus

M3 – SUSS: Flagstaff, AZ

Mod 3 –  Nach Stephan Micus’ THUNDER eine Gruppe von Spezialisten für Nachtfahrten über endlose amerikanische Highways. Das New Yorker  Trio SUSS hat  sich „Country Ambient“ in ihr Programm geschrieben, und greift auf Einflüsse  zurück, die leicht übermächtig werden könnten – werden sie aber nicht: etwa „Paris, Texas“, Ry Cooders geniale Filmmusik. Oder Brian Enos Ambient-Opus APOLLO, ein Weltraum-Trip mit schwebenden Pedal Steel-Gitarren-Momenten. SUSS liefern ihre Art von „Ambient Americana“ ab mit Dobros, Mandolinen, „field recordings“ und alten  Synthesizern im Gepäck. Wir hörten daraus „Flagstaff, Arizona“ – so manche Städte erhalten hier ihre kleine Nachtmusik.  

 Städte hatte auch der Trompeter Jon Hassell im Sinn, als er 1990 sein Album CITY: WORKS OF FICTION veröffentlichte. Mit seinem verwandelten Trompetensound träumte er von „coffee coloured classical music“, er übertrug Elemente der Gesangslinien des Raga von Pandit Pran Nath in sein  Spiel. Im magischen Realismus von  Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“ fand er ein literarisches Echo seiner Visionen für CITY WORKS OF FICTION.

Nach Jon Hassells Tod im Juni 2021  erschien nun Musik aus seinem Nachlass – und  was für eine fantastische Edition ist das denn!?  Entweder auf Vinyl die  zwei Doppelalben  „Psychogeography“ und „The Living City“, oder alles zusammen als Doppel-CD,  „Further Fictions“. Musik, die um  das Album von 1990 kreist. Verblüffende Versionen, ganz andere Sphären – und sicher keine Resteverwertung! Alles angereichert mit  Begleittexten der beteiligten Musiker. Aus „Psychogeography“ hier das Stück  „Cuba Libre“ es folgt ein Ausschnitt aus einer alten Deutschlandfunk-Sendung, eine  Interviewpassage  aus dem Jahr 1990:   Jon Hassell erzählte, wie sein Weg vom Nildelta zu den unsichtbaren Städten führte…. 

M4 – Jon Hassell: Cuba Libre

OTON (2) – Jon Hassell in meinem Interview vom Mai 1990, London – „Wenn wir  also in  Städten leben, sollten wir es auf rechte Weise tun. Es gibt ja leider die Tendenz, spirituelles Denken immer mit Ruhe und Stille zu verbinden. In der Vergangenheit habe ich mich oft nach exotischen Orten umgeschaut, aber was passiert,  wenn ich meinen  eigenen Hinterhof betrachte und dort die Verknüpfungen suche. Einige Richtungen führen zur Rap-Musik, in der sich eine neue Art folkloristische Musik aus Materialien bildet, wie sie in der Stadt zur Verfügung sind. Da gibt es eine starke Verbindung zum „Griot“, der afrikanischen Tradition des Geschichtenerzählens. Darum geht es, Dinge aus Dingen entstehen zu lassen, die um dich herum sind, wenn du erwachst: im Urwald sind das der Gesang der Vögel, die fremden Farben, Farben, Haut und Steine im städtischen Dschungel sind es Samples von James Brown, Bruchstücke hiervon und davon.“

M5 – Jon Hassell: Itura

Eine Passage aus MASHUJAA, aus Jon Hassells „The Living City“, aufgezeichnet im September 1989 im  New Yorker „Winter Garden“. Jon Hassells langjähriger Weggefährte Brian Eno sorgte mit seiner Live-Mischung für etwas Besonderes: so, wie er Sounds des brasilianischen Dschungels in die Musik einarbeitet, Stimmfetzen von0 Eingeborenen, exotische Vogelstimmen, entsteht  eine Art  „Dschungelvariante“ von Hassells urbanen Visionen.

M6 –  Brian Eno: Forever Voiceless

Als im letzten Herbst Brian Enos Songzyklus FOREVERANDEVERNOMORE veröffentlicht wurde, gab es da auch in einigen Momenten Vogelstimmen,  doch, passend zu der vielstimmigen Meditation über einen massiv bedrohten Planeten,  waren diese Vogelstimmen mitunter „deepfake“, elektronisch entwickelt. Wie Erinnerungen an ausgestorbene Vogelarten. In betörend-verstörenden Songgebilden wechselten immerzu Passagen der Hoffnung mit existenziellem Pessimismus.  Zeitgenössische Lamentos.  Und nun erscheint am 22. April, am „Record Store Day“, als Schallplatte und Download, die rein instrumentale Fassung,  ohne Brian Enos Gesänge. Der Titel: FOREVER VOICELESS. Die Stimme verschwindet aus den Landschaften, die Wirkung bleibt vielschichtig, unheimlich, beschwörend.

 

M6 – Fortsetzung  Brian Eno: Forever Voiceless

M7 – Roger Eno: Still Day

Nach FOREVER VOICELESS von Brian Eno, das Stück  „Still Day“ aus der ebenfalls in der zweiten Aprilhälfte erscheinenden LP „Rarities“ von Roger Eno. Alles andere als ein Nachklapp zum letztjährigen Album THE TURNING YEAR. Spuren der  Spätromantik treffen  auf Zeitgenössische Ambient Music. Eine Veröffentlichung der Deutschen Grammofon Gesellschaft.

Das australische Trio The Necks ist wie Enos Ambient Music darauf aus, eine bestimmte Textur über einen langen Zeitraum zu umkreisen. In der Grundausstattung sind Chris Abrams, Lloyd Swanton und Tony Buck ein Piano-Bass-Schlagzeug-Trio, aber jederzeit imstande das Instrumentarium zu erweitern, und mittels behutsamer „Post-Production“ ihre Texturen zu verdichten. Nun gibt es dieses Trio seit 1986, und sie  schaffen es einfach nicht, langweilig zu werden: es gibt kaum einen besseren Einstieg in die Welt der Necks als die vier Klangreisen der CD bzw. Doppel-LP TRAVEL. Eine Passage aus dem Stück „Imprinting“ mag ausreichen, eine Vorstellung davon zu vermitteln, das Ausdrücke wie „Trance“ und „Hypnotisch“ für die Tiefenwirkung ihrer Musik keine leeren Worthülsen sind. Wie bemerkt doch der englische Musikjournalist und Buchautor Richard Williams: „Asketisch im Umriss, aber durchdrungen von einer warmen Menschlichkeit, sind ihre Stücke gespickt mit kleinen Offenbarungen auf dem Weg zu einem größeren Gefühl der emotionalen Erfüllung.“

M8 – The Necks (Imprinting)

 

OTON (3) Chris Abrahams –  „Ich habe nie  die Absicht, bestimmte Situationen in der Natur zu imitieren oder klanglich zu gestalten. Dennoch glaube ich, dass es eine starke Verbindung zwischen der sich scheinbar wiederholenden und allmählich modulierenden Natur eines Großteils der australischen Landschaft und der Musik gibt, die wir machen. Ich sehe auch eine Verbindung zwischen mir und Lloyd und Peter, die wir alle an den Ufern des Pazifischen Ozeans aufgewachsen sind, und den ästhetischen Entscheidungen, die wir treffen.“

 The Necks,  ihr Album TRAVEL, und ein Auszug aus einer Email von  Chris Abrahams  – wir haben es in den Klanghorizonten heute mit dem Meer, dem  Reisen. Und mit Doppelalben… willkommen im Land von Aksak Maboul. Marc Hollander und seine Partnerin Veronique Vincent haben der unberechenbaren Historie der „Prog-Punk-Combo“ aus Brüssel ein weiteres Kapitel zugefügt, die Doppel-LP und  CD „UNE AVENTURE DE VV (Songspiel)“. Und das auf dem legendären Label für abenteuerliche Stilkreuzungen MADE TO MEASURE, das Marc Hollander früh in den Achtziger Jahren gründete und vor kurzem wiederbelebte. Gleich wird er etwas zu seiner Vita und seiner Lust and der Collage erzählen – zuerst aber der recht ruhige Auftakt einer wilden Fahrt, Aksak Maboul, UNE AVENTURE DE VV, mit einer Story ganz in der Tradition des Surrealismus.

OTON (4) –   Eine Figur namens VV klettert aus dem Fenster ihres Zimmers. Sie merkt, dass sie nicht mehr sprechen kann und geht auf eine lange Wander-Reise. In einer orangefarbenen Hütte schläft sie ein und wird mit einem wahren Wortsturm zerstreuter  Buchstaben konfrontiert. Sie verlässt die Hütte und folgt Blutspuren im Sand. In einem Wald wird sie in einen Austausch verwickelt mit einer Reihe an nicht-menschlichen Wesen wie Vögeln, Bäumen oder Felsen.  Gemeinsam mit einer Verbündeten zerstört sie  sie eine physisch wie symbolisch riesige Mauer.  VV dringt in eine, auf keinen Landkarten eingezeichnete, Todeszone ein, die sie in Begleitung ihres Schattens erforscht. Während ihrer Reise kreuzen sich VV‘s Wege mit denen literarischer Geister, bis sie in einer Stadt ihre Sprache wiedererlangt und eine Tür aufstößt….

M9 – Aksak Maboul: track 1, 2, 3 (Anfang)

OTON (5) – Marc Hollander –  Tatsächlich sind meine Limitierungen als Musiker nicht so sehr technischer Art, obwohl es technische Begrenzungen gibt… ich habe nie eine Form von Harmonielehre studiert, ich lernte nie wie viele andere Songs der  Beatles auf der Gitarre zu spielen, ich erfand Sachen, indem ich einfach am Klavier spielte, und schuf so mein kleines System der Harmonien, die also einen recht naiven Ausgangspunkt hatten.  Das wurde mir klar, als ich eine Zeitlang Jazz spielte, aber das funktionierte nicht im „old school“-Sinn. Als ich mein erstes Album machte, ONZES DANSES POUR COMBATTRE LA MIGRAINE, das Aksak Maboul Debut von 1977, wurde mir klar, das ich viele kleine Impressionen von allen möglichen Stilen verwenden konnte, die ich mochte. Ich kreierte ganz eigene Vignetten. Es klappte gut.  Aber es kam die Zeit, da hörte ich 30 Jahre lang auf mit der Musik,  und als ich zu Beginn der Pandemie neu ansetzte, auch mit der Fortführung meiner alten Musikserie MADE TO MEASURE, machte ich eine interessante Entdeckung: denn ich hatte mich mit der ganzen neuen Musik-Software anzufreunden, nichts davon gab es in meinen jungen Jahren. Aber nun knüpfte ich an das Alte mit neuen Mitteln an – diese  Collagen lagen  mir, diese Improvisationen, und dann die Improvisationen herzunehmen und mit ihnen  etwas zu konstruieren.“

Marc Hollander in eigener Sache. Im Hintergrund ein Klassiker seiner „Made to Measure“-Reihe,  „LA DOUXIEME JOURNEE“ von Stephen  Brown und Benjamin Lew aus dem Jahre 1982, unlängst neu aufgelegt. Nun zu einem  Album, das seinen Sinn für das Phantastische abermals mit dunklen Realitäten mischt. Es gibt auch auf der Cd/Lp THEORY OF BECOMING des in Paris lebenden Komponisten Evgueni Alperine einen verwunschenen Wald, den Menschen wegen eines Fabelwesens namens Loplop, halb Mensch, halb Vogel, nur auf eigene Gefahr durchqueren.

Evgueni Alperine, ein Komponist mit russischen und ukrainischen Wurzeln  hält in zehn konzentrierten Kompositionen Horror bereit, Trost, Verwandlung. Einmal die Geschichte einer Stadt im Krieg, dann  Kinderliedartiges aus alter Zeit, dann ein elektronischer Puls, wie ein Soundtrack für einen Jules Verne-Roman. Wir begegnen, wenn ich einzelne Titel als lockeren Leitfaden hernehme, unter anderem einer „kalten Front“, dem „Brief eines Verschwundenen“, einem Szenario „nach dem Sturm“. So divers die Themen, so beeindruckend, dass alles wie aus einem Guss erscheint. Was diese asketisch angelegten Stücke verbindet, ist das Gespür für Wandlungen, für Spuren von Licht in finstersten Zonen. Sowas kann leicht danebengehen, als angestrengtes Grosskunst-Brimborium. In diese Falle tappt Evgueni Alperine nicht.

Das Werk trägt zudem die Signatur „produced by Manfred Eicher“. Als etwas stillere Präsenz war zudem der Alperine aus Bildern von Max Ernst vertraute  seltsame Vogel Loplop zugegen, in den Pariser Studios. Und der kennt die rasanten Flüge, raus aus den Komfortzonen behüteter Hochkultur, hinein in all unsere Wildnisse! La lettre d’un disparu, Der Brief eines Verschwundenen.

M10 – Evgueni Alperine: La lettre  d’un disaparu

Evgueni Alperine und das Album THEORY OF BECOMING. Der Kreis dieser Stunde schliesst sich mit der ab morgen als Download und Doppel-LP erhältlichen Arbeit  TIKIMAN VOL. 1 von Paul St. Hilaire. Wer an den äusseren Rändern des  Reggae- und Dub-Kosmos interessiert ist, kennt das Berliner  Gespann Ernestus & Von Oswald, das in den Neunziger Jahren an Verschmelzungen von Dub und Techno arbeitete, mit der Formation Rhythm & Sound: da wirkte auch ein gewisser „Tikiman“ alias Paul St. Hilaire mit.

Der einst aus der Dominikanischen Republik nach Berlin ausgewanderte  Klangkünstler legt nun ein erstaunliches Werk vor. Klappt man das von eisigen Blautönen dominierte Gatefold-Cover der Doppel-LP auf, scheinen die abgedruckten Texte fast unleserlich, wie vom Hintergrund verschluckt. Teilweise sind sie spiegelverkehrt. Und genau das gehört  ja zu den Betriebsgeheimnissen des Dub: Sprache wird Sound, und so manch fragmentierte Botschaft driftet durch einen unendlichen Raum.  In einem Track nimmt der Text schon fast epische Ausmasse an:Mister, Mister, where are you going… Ich breche  auf zu einem weit entfernten Land..was hast du in der Tasche in der Hand… helfe uns zu verstehen…  Er sagte, ich habe mein Bett in meiner Tasche.“

 Um Exil und Entwurzelung und Einsamkeit  geht es  AUCH auf  Paul St. Hilaires Arbeit  TIKIMAN VOL. 1 – genauso wie  um tanztaugliche Meditationen. Auf dem letzten Track des Albums ist die Fantasie des Hörers gefordert: „Three And A Half“ ist rein instrumental: spielen da „field recordings“ von Wellen hinein, die auf eine menschenverlassene Küste prallen? Wellengeräusche in der Musik, meist Stoff zum Träumen, hier aber tendenziell unheimlich. Oder ist all das, was wir hier hören, rein elektronisch fabriziert? Am Mikrofon bedankt sich Michael Engelbrecht für Ihre Aufmerksamkeit.

M11 – Paul St. Hilaire: Three and a half  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Besondere  Momente passieren zuweilen, wenn sich, bei der Gestaltung des JazzFacts-Magazins, (fast) alle Teile wie Mosaiksteinchen ineinander fügen. Einen frischen Wind (von nicht so naheligender Seite) bringt Niklas Wandts Beitrag über ein ungarisches Jazztrio, angeblich mit dezenten Anklängen Richtung Prog Rock. Der andere Beitrag von Karl Lippegaus befasst sich mit einer neuen Biografie von Albert Ayler.

A propos „Free Music“: Zu der „woman power“ der JazzFacts vom 12. Januar (Deutschlandfunk, 21.05 Uhr) zählt u.a. das hochspannende Soloalbum der Sängerin und Pianistin Maggie Nicols „Are You Ready“ (das übrigens auch einen Albert Ayler gewidmeten Song enthält – sie ist Jahrgang 1948, war schon 1971 auf dem jüngst wieder aufgelegten Klassiker „Septober Energy“ von Keith Tippetts „Centipede“ dabei – und wo war eine ihrer frühesten Stationen – im Moulin Rouge. Und wenn es klappt mit der Zeit, bringe ich  noch die „Schwarzwaldfahrt“ von Brötz und Bennink unter.)

Drei neue Alben von ECM Records gibt es im Januar, einmal von Mette Henriettes Trio (ts, p, cello), resp. ihrem Album „Drifting“ (ein perfekter Titel!), dann  „A Short Diary“ von Sebastian Rochford, aufgenommen im alten Haus seiner Kindheit in Schottland, und das aus guten Gründen. An seiner Seite der Pianist Kit Downes. Mette und Sebastian habe ich zu ihren Arbeiten befragt.

Das dritte ECM-Album  stammt von dem Bassisten  Anders Jormin und präsentiert eine spannende Verbindung von Lyrik und Jazz, von Improvisation und Folk. Neben der Sängerin und Violinistin Lena Willemark ist auch eine japanische Musikerin an der 25-saitigen Koto mit von der Partie. Die Bandbreite der Lyrik reicht weit, von Tomas Tranströmer über Octavio Paz bis hin zu Lena Willemark selbst (alle Texte liegen in englischer Übersetzung bei). Gesetzt ist, was das weite Feld des skandinavischen Folk-Jazz betrifft, (und als äusserer Rahmen dieser Jazzstunde) auch Uusi Aika aus Finnland. Was Tiefenentspanntheit und traumverlorene  Soundpoesie angeht, könnten sie sich für den nächsten Film von Aki Kaurismäki bewerben. (Update am 12. Januar, 19.00 Uhr – natürlich kann sich jederzeit noch etwas ändern.) 

 

2022 27 Dez.

Ein Sommer im Wildbahnweg (1)

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So begeisterte sich Ian McEwan für L.P. Hartleys „Ein Sommer in Brandham Hall“, dass er sich im Laufe seines Lebens immer wieder an das Buch erinnert fühlte und die darin sich entfaltende „Atmosphäre der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und kindlicher Unschuld.“ Ob mit dem Briten da ein paar Gäule durchgegangen sind, frage ich ich mich schon nach 80 Seiten, denn eins ist mal gewiss: eine Menge kindlicher Durchtriebenheiten und Seelenschmerz pur erfährt und erleidet bis dahin schon unser Protagonist mit Namen Lionel (den er selbst als „überkandidelt“ empfindet). Natürlich gibt es auch rauschhafte Erfahrungen des Kindseins, des Heranwachsens: beim Versinken in diesen Seiten aber ahne ich, dass für beinah jede Art von naivem Staunen und Ergriffensein ein Preis zu zahlen sein wird (und da ich überzeugter „Anti-Calvinist“ bin, ist auszuschliessen, dass ich dem Lauf der Ereignisse eine engstirnige Weltsicht verpasse oder hineinprojiziere). Hartleys Werk ist, neben dem sinnlichen Flow der Sprache (und allem anderen), eine verdammt fein geschliffene Analyse von Klasse (social class), Anpassung und Unterdrückung. Ein Happy End sehe ich da nicht kommen, leider nein, die Andeutungen des Erzählers machen zudem klar, dass alles auf ein erstklassiges Desaster hinausläuft. Toll geschrieben, toll erzählt. Es ist das Jahr 1900. Da sieht man sie schon lebendig vor sich, die Snobs, die „Etonians“, die grosskopferten Vorläufer eines Boris Johnson und seiner Sippschaft, mit ihrem dezenten Grössenwahn. Aber so funktionieren nun mal Reisen in die Kindheit anderer, dass sich das Unbewusste des Lesers seine ganz speziellen Wege bahnt, und einen Abgleich vornimmt mit Räumen der ureigenen Kindheit und Jugend. So geschehen heute Nacht in meinen Träumen, und wohl nicht zum letzten Mal. Plötzlich war es das Jahr 1970, und ich kehre in den Wildbahnweg zurück, ein heisser Sommertag im Dortmunder Süden. (Fortsetzung folgt.)

2022 25 Dez.

Uusi Aika

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All of a sudden, that creaky bass, murmur
of water and wind (blown away
by dark, green vinyl). If the
window is shut, open it (a second),
the animals will take center stage
among the garbage and the flowers.
„Uusi Aika“, this sweet distant cousin
to Jone Takamäki’s „Universal Mind“
and Edward Vesala‘s „Nan Madol“!
We don‘t describe Finnish horizons here.
We avoid buzzwords – more helpful
anyways, that good connection
to wolves in the backyard,
strolling, roaming, having a word.

 

OTTO ESKELINEN alto sax, shakuhachi, alto clarinet, vocals / JOHANNES SARJASTO piano, synth, accordion, vocals / TAPANI VARIS double bass, vocals / AMANDA BLOMQVIST drums, percussion, vocals / (not to forget that cat with the short apparition of a sitar) 

That’s how it is. Music that dwells between all horizons is hard to grasp. Listening in briefly is not an option here – lingering is the magic word, all stranger things considered. At the end of this journey, a certain Loplop is wandering around in the forest. Do you know Loplop? I didn’t know the journeyman until now. Nor those paintings by Max Ernst in which he captured dark forests on canvas that human beings should better not visit. Only the magical bird Loplop succeeds in these forays.

The prelude to these ten excursions into rare, real, surreal terrain is entitled „This Town Will Burn Before Dawn“. When the piece first took shape, the composer, whose instruments are listed as „electronics & sampling“, had in mind a pulsating, shining city full of inventions that is burnt down by barbarians, but without destroying the last traces of hope.

From track to track, the scenery is changing. Years ago, an asteroid approached Earth, stopped just before entering our orbit, and sped off in the opposite direction. Even scientists couldn’t come up with a completely plausible explanation, and the internet was flooded with theories that, of course, included extraterrestrial life. „Oumuamua, Space Wanderings“ is the apt name of the composition of a wonderfully strange album that apparently sets itself no limits thematically.

We travel in 80 worlds around the day anyway (some just don’t realise it). One thing at least seems to permeate all these ascetically conceived pieces: a sense of transformation, of traces of light in the darkest zones. Such things can easily go wrong, with minor-key textures, soaring pathos, plainly knit „new age“ props, and strained big-art bric-a-brac.

 

 

 

 

Evgueni Galperine doesn’t fall into any of these traps on „Theory Of Becoming“, an album that, despite its continuously surprising contrasts, gives space and depth to every single moment. Quiet seductively, the pieces (apparitions) let fall one mask after the other  – sometimes we hear the dancing swing of a children’s song, sometimes a barely disguised earworm, a lost score of late romanticism, a Jules Verne-tested space travel or a chronicler of real horror.

„Theory of Becoming“ is completely cliché-free meditation music. And exciting to boot. It could become a new favourite album for listeners who appreciate the collected areas and immersions of Steve Tibbetts‘ „Life Of“ or Arvo Pärt’s „Tabula Rasa“, or the solo album by Mark Hollis, probably also for those who like to return to one or the other classic from the treasure troves of „Made To Measure“ and „Obscure Records“, historic labels and playgrounds for the undefined (founded once upon a time, deep in the last century, by Marc Hollander and Brian Eno).

And anyway, this terrific album bears the signature „produced by Manfred Eicher“. As a somewhat quieter presence, the strange bird Loplop was certainly also present in the Paris studios. And he knows the fast ways out of the protective zones of sheltered high culture and  into the beating heart of our wilderness!

 
 

„Hello, Uschi, hello, Übersee, you‘re in a Dylan song now: if you see her, say hello!“ „Und, wirklich, Gudrun, sie kam in dein Büro, um sich die Haare zu mit warmem Wasser waschen zu können. Wunderbar, so war es im Hinterland.“ Manchmal kam sie, und wir liebten uns, während der charmante Garagenrock des Debuts meiner neuen australischen Lieblingsband lief. 1982. Scheint eine Weile her, aber zuweilen sind wir zeitlos. Obwohl das erste Werk nur eine vage Andeutung des Zaubers war, der auf dem Zweitwerk rundum eingelöst wurde, etwa mit dem Jahrhundertsong „Cattle and Cane“, machte es klick. Als wir in Regensburg in einer Studentenkneipe sassen, erklang einer der Hits aus dem damals viel gefeierten Album „The Lexicon Of Love“ von ABC. Das war nicht meine Musik, zu glitzernd, zu pathetisch, zu schmalztollig (ich sollte nie ein Fan der Produktionen von Trevor Horn werden und „Frankie Goes To Hollywood“ ging an  mir komplett vorüber, selten eine Band gehört, die mich mehr anödete). „Lexicon Of Love“ war immerhin ein Titel, zu dem ich in meinem Leben einige Einträge beisteuern wollte, solche mit „forever and a day“ und dergleichen. Also wurde der Soundtrack unserer Story auch von ABC mitgeschrieben. „Come on, Eileen“ traf meinen privaten Rauschzustand am besten.

Damals, nah der tschechischen Grenze, war es nicht so leicht, über neue aufregende Musik auf dem Laufenden gehalten zu werden, aber in irgendeinem Magazin, und hier wird die Erinnerung hauchdünn, glaubte ich, gelesen zu haben, wie Grant McLennan und Robert Forster auf den Namen ihrer Band kamen. Vor ein paar Tagen fielen mir der Guardian in die Hände und ein Essay von Geoff Dyer. Ich las, worum es ging, schmunzelte, schnitt den Text aus, ohne ihn en detail gelesen zu haben, und verstaute ihn in meiner Schatulle für kleine Texte, deren Zeit noch kommen wird. Ich gab eine Bestellung auf, und eine Woche später hielt ich das Buch in den Händen, das ihr oben abgebildet findet. Ein Mängelexemplar, aber in meinen Händen fühlte es sich wie neu an. „Ein Sommer in Brandham Hall“ erschien 1953 und gilt mittlerweile als Klassiker. Geoff Dyer kannte die Verfilmung, und geriet wohl jüngst vollkommen in den Bann dieses „alten Schinkens“ von L. P. Hartley. Soviel war beim Huschen über den Text zu erkennen. Übrigens, der Originaltitel lautet „The Go-Between“. Bingo.

H. und ich gingen damals an einem Wochenende kreuz und quer durch Regensburg, und da ich gerade mal wieder zwei Kapitel von „Der schwarze Hund von Bergeinöden“ geschrieben habe, erobern die Erinnerungen alte Farben zurück, und spezielle Orte. Ich muss mit H. auch in der Buchhandlung Dombrowsky gewesen sein (dem Terrain der baldigen Lebensgefährtin von RF), und noch wusste ich nichts von so manchen dezenten biografischen Parallelen mit den Australiern. Meine Einträge im „Lexicon Of Love“ endeten für eine ganze ganze Weile im Oktober 1982. Zwei Monate später stand ich im Laden von „Rough Trade“ in Notting Hill und kaufte eine Single von „Aztec Camera“. Nun habe ich den Prolog des Romans gelesen (wow!), und habe keine Zweifel mehr daran, wie die beiden „best buddies“ blutjung auf ihren Namen stiessen – a perfect match! Zum Frühstück liess ich das neue Album von Robert Forster, „The Candle and The Flame“, erschallen. Wunderbar. „I don‘t do drugs, I do time.“

 

(thanks to Tapete Records, Hamburg, for kind support and a special gift for Christmas)

 

Lonesome fields. In diesem Jahr erzählte ich öfter, eingerahmt von Stories über die Solojahre von Robert Fripp, oder in kurzen Reminiszenzen, von der alten Bande von Furth i.W. – oder besser, von alten Banden, wir waren ja keine Verbrecher, wir waren mit Herz und Kopf bei der Sache, als „Pioniere“ der Behandlung von Suchterkrankungen mit dem Reservoir der Kognitiven Verhaltenstherapie. Ralf, Uwe, Petra, Willi, Gudrun, Hansjörg, und all die andern… Im Mai traf sich der „harte Kern“ wieder, im damals von uns so wahrgenommenen „Nirgendwo“.

Lifers, actually. Damals fanden auch die Go-Betweens zu meiner Soutterainwohnung am Ausläufer des Hohen Bogens. Mit ihrer ersten Platte „Send Me A Lullaby“. Aus der gar nicht so grossen Ferne nahm ich da wahr, wie Robert Forster, unweit von mir, und parallel zu meiner sehr viel kürzeren Love Story, seine grosse Liebe fand, Karin Bäumler (in Heidelberg und der Buchhandlung Dombrowsky in Regensburg). Mit Robert und Grant, und später auch Karin (Violine spielend an der Seite Roberts), flogen die Jahrzehnte vorüber. Das war und ist lebensbegleitende Musik. The deep stuff. Nach der plötzlichen Krebsdiagnose von Karin wurde das gemeinsame Spielen daheim Zuflucht, Ritual, Teil der Therapie. 

The deepest stuff. Bald  (im Frühjahr 23) tourt Robert Forster wieder durch die Lande, mit der neuen Platte im Gepäck. A family album. Und an dieser Stelle fehlt mir der zündende nächste Satz, zwei konkurrieren miteinander: in dem einen konnte ich mir Brian Eno als Teil des Hintergrundchors von „Tender Years“ vorstellen, im anderen geht es um den seltsamen Gedanken, sich gut zu überlegen, von wem man sich das Herz brechen lässt (das ist natürlich Blödsinn, denn, ja, es war ein Traum, und ich war, once upon a time (in einem früheren Leben), in the Bavarian woods, one hour from Regensburg, genau dort, wo ich einzig und allein sein wollte, in ihr, in ihren Augen, in ihren Armen).

 

 

The Candle And The Flame. Ich rief gleich, als ich den Song hörte (und ich hörte ihn wieder und wieder), in meinen Ohren einer der ergreifendsten Liebeslieder der letzten und vorletzten Zeiten, bei Robert Forsters Hamburger Label an. „Ich brauche die Platte einfach vor Weihnachten.“ In der MOJO vom Februar 2023 (bereits erhältlich) findet sich ein exzellentes, langes Interview mit Robert Forster, und eine, uns Freunden der alten Band, fraglos berührende Bildergalerie. Und, ach, ach, dieser aus der Hüfte geschossene Satz aus einem anderen, neuen Lied von Mr. Forster: i don‘t do drugs, i do time. „Tender Years“ ist ein „heartbreaker“! And it does time.

(„The Candle And The Flame“ erscheint am 3. Februar bei Tapete Records – ich spiele ziemlich sicher einen Song daraus in den Klanghorizonten, am 27. März, zwischen 21.05 und 22.00 Uhr, im Deutschlandfunk)

Mein Faible für Michael Nauras Sendungen begann schon vor meinem Abitur, wenn ich in den grossen Ferien auf Langeoog oder Borkum seinen Konzertmitschnitten lauschte, oft bereits zur Mittagszeit. ECM Records in den Siebzigern, the golden years, ich denke, die Hörer im Norden konnten kaum eine der ersten dreihundert Produktionen von Manfred Eicher verpassen. Musik war eine Sache von „Body and Soul“, und ein kleines Phänomen, das mir elegant den Boden unter den Füssen wegzog, woosh!, und ganz viel mit „Body and Soul“ zu tun hatte, traf mich unverhofft, als ich mich an der Rezeption des Nordseehotels (das an der Kurpromenade von Borkum, mit Blick zum Meer in den teureren Zimmern) umdrehte, und ein „Girl“ sah, dass direkt dem gleichnamigen Beatles-Song entsprungen zu sein schien, der Melodie, nicht den lyrics.

 

Ich erspare mir die Beschreibung dieser absoluten Schönheit, ich erspare dem Leser dieser Zeilen aber nicht, dass sie mich anschaute wie ihren zukünftigen Gemahl. In Woody Allen-Filmen ist das der Moment, wo der Angeblickte sich umschaut nach einem Adonis, der womöglich das wahre Objekt dieses verliebten Blickes ist. Sie meinte mich. Und hier stellte sich auf Anhieb das „Licorice Pizza“-Problem dar (in Abwandlung). Dort verliebte sich ein 15-jähriges Greenhorn in eine 25-jährige Frau, hier stand mein 19-jähriges Ich (a deep romantic, no lucky fucker) einem 15-jährigen Mädchen gegenüber. So hinreissend. Sie. So unwiderstehlich. Sie. So offen. Sie. Und natürlich begann ich das Gespräch. Sie schmolz vor meinen Augen dahin, es war völlig unglaublich, und ich besass dafür keinerlei Abgleich jenseits reiner Träumerei.

 

Wir gingen Pflaumenkuchen essen in der windigen Strasse mit den zwei Kinos (Claude Lelouch und alte Western), hielten die Hände am Meer, übertrafen einander in der Tiefe unserer Blicke. Sie hörte mit mir auf der Couch, in meinem Zimmer, Dave Liebmans Lookout Farm, den jungen Jan Garbarek, wir flogen. Ihre Küsse waren Honig, Alabaster, Onyx und Blue Velvet. Sie zerfloss, wie ich zerfloss. Das ist seltsame Musik, flüsterte sie in mein Ohr, und küsste das Läppchen. Dann, anderntags, in ihrem Zimmer, wir entblössten uns, obenrum, es schien ein Märchen aus 1001 Nacht Gestalt anzunehmen und die Tür öffnete sich und ihre Tante stürzte mit entsetztem Aufschrei herein. Sie beendete den Zauber, drohte mir mit einer Anzeige sowie Hotelrausschmiss, und ich sagte: „Es ist alles in Ordnung. Ganz ruhig. Wir wissen, was wir tun.“ Der letzte Satz war tollkühn. Die Tante liess sich allerdings gar nicht beruhigen.

 

Danach schrieben wir uns, sie wohnte im Spessart, in Amorbach, wo sonst, und ihre Antwort auf meinen lyrischen Zeilenzauber war auf Micky Mouse-Papier verfasst, in purer Schönschrift, und las sich wie aus einem Poesiealbum der frühen Schultage – ich erkannte meine Blindheit, und es tat einen Moment lang weh. Sie einfach zu sehr Girl, zu wenig Woman, und mit allerliebsten Worten nahm ich Abschied. Ich legte Ruta and Daitya auf von Keith Jarrett und Jack DeJohnette und wusste, wenn ich einen langen Atem gehabt hätte, hätte, hätte … – dann hätte ich mich vielleicht nur zwei Jahre gedulden müssen, und sie wäre wieder aufgetaucht, mit silbernen Küssen, Schneezauber und Unendlichkeit. A smart cracker. A heartbreaker. So etwas fällt einem ein, auf einer langen Autofahrt von der Küste an den Niederrhein, mit Keith Jarretts „Facing You“ im Cd-Player meines Toyoten, nach zwei Stunden Blitzeis, und einem Schleudermanöver dritter Klasse. 

 

Diesmal gilt es sechs bis sieben Fragen zu beantworten. Nur wer mindestens sechs der sieben richtig beantwortet, erhält den ersten und einzigen Preis, und der hat es in sich. Keith Jarretts Bordeaux-Konzert, The Ruby Cord von Richard Dawson, und Oded Tzurs „Isabel“, alle als CD. Geht auf den Postweg vor Weihnachten. Ich reagiere bei den comments erst, wenn es einen Gewinner gibt. Die Antworten müssen hier, gebündelt in einem einzigen comment, auftauchen, jeder hat nur einen Versuch. Deadline ist der 20. Dezember, 12 Uhr mittags.

 

1) Wer ist der Musiker vor der guten alten roten Telefonzelle?

 

 

2) Wie heisst die erste Langspielplatte, auf der Klänge von Bill Frisell auf einer ECM-Platte zu hören sind?

3) Wer war der berühmte Klavierlehrer des deutschen Pianisten Sebastian Sternal, dessen feinen Solopianoalbum „Thelonia“ im Kammersaal des Deutschlandfunks aufgenommen wurde?

4) Bei welchem berühmten indischen Musiker ging Oded Tzur „in die Lehre“, sozusagen?

5) Welchem Virtuosen aus der Klassischen Musik hat Brian Eno eine Reihe raffiniert-vertrackter, rhythmischer Tracks zugesandt, mit der Frage, ob er Lust habe, mit diesen Sounds zu arbeiten, für ein gemeinsames Album?

6) Wie lautet der Name des Pianisten, der auf einer ECM-Produktion als Sideman eine kleine, in Teilen defekte, „organ“ spielt? Das Album wurde von Richard Williams einst im Melody Maker gepriesen, in einer Dreifachbesprechung, neben Brian Enos „Music For Films“, und Weather Reports „Mr. Gone“.

7) Wie hiess eine Lieblingsplatte von Jo Siemer im Jahre 1978 (ist nicht unbedingt aus dem Jahr 1978), die er wieder und wieder, besonders auf einer langen Englandreise hörte, und unlängst mit nicht nachlassender Begeisterung wiederentdeckte: John Coltrane: Ascension / oder Little Feat: Waiting For Columbus / oder Gustav Mahlers 3. Symphonie (Dir: Leonard Bernstein). Think twice, good luck!

 

So ist es. Nicht mal ein berühmtes Label (ECM) reicht aus, heutzutage, einer Musik, die zwischen allen Horizonten haust, grösseres Gehör zu verschaffen. Bestimmte Klänge erscheinen kaum greifbar, zu sehr „in between“, wenn sie gleichsam aus dem Nichts auftauchen. Kurz reinhören geht hier gar nicht – Verweilen ist das eine Zauberwort. Sich-Überraschen-Lassen das andere. So treibt sich am Ende der Musik ein gewisser Loplop im Wald herum. Kennen sie Loplop? Ich kannte den Gesellen bislang nicht. Auch nicht jene Bilder von Max Ernst, in denen er dunkle Wälder auf die Leinwand bannte, die menschliche Wesen besser nicht aufsuchen sollten. Allein dem magischen Vogel Loplop gelangen diese Streifzüge. Der Auftakt dieser zehn Exkursionen in rares, reales, surreales Terrain trägt den Titel „This Town Will Burn Before Dawn“. Als das Stück erste Gestalten annahm, schwebte dem Komponisten, als dessen Instrumente „electronics & sampling“ gelistet sind, eine pulsierende, leuchtende Stadt voller Erfindungen vor, die von Barbaren niedergebrannt wird, ohne aber letzte Spuren der Hoffnung zu vernichten. Doch wie in jenem legendären Kurzfilm „Meshes of The Afternoon“, archetypisch vorgeführt von Maya Deren, ändert sich die Szenerie mit jedem Schritt ins Unbekannte. Erinnern Sie sich? vor Jahren näherte sich ein Asteroid der Erde, der kurz vor dem Eintritt in unseren Orbit Halt machte, und in die umgekehrte Richtung davonzog. Selbst Wissenschaftler kamen zu keiner rundum einleuchtenden Erklärung, das Internet wurde geflutet  mit Theorien, die natürlich auch extraterrestrisches Leben ins Spiel brachten. „Oumuamua, Space Wanderings“ ist der treffliche Name der Komposition eines Werkes, das sich thematisch anscheinend keinerlei Grenzen setzt. In 80 Welten um den Tag reisen wir ohnehin (manche merken es nur nicht). Eines scheint all diese asketisch angelegten Stücke zu durchdringen: das Gespür für Wandlungen, für Spuren von Licht in finstersten Zonen. Sowas kann leicht schieflaufen, mit mollgetränkten Texturen, auffahrendem Pathos, schlicht gestrickter „New Age“-Requisite, und angestrengtem Grosskunst-Brimborium. 

In keine dieser Fallen tappt Evgueni Alperine auf „Theory Of Becoming“, einem Album, das seinen fortlaufend überraschenden Kontrastierungen zum Trotz, jedem einzelnen Moment Raum und Tiefe gibt. Verzettelung ist ein Fremdwort für ein Werk, das, durchaus verführerisch, eine Maske nach der andern falllen lässt – mal mutiert es zur tänzerischen Schwingung eines Kinderliedes, mal zum kaum verkappten Ohrwurm, zu einer verlorene Partitur der Spätromantik, zu Jules Verne-erprobter Weltraumfahrt oder zum Chronisten realen Schreckens. „Theory of Becoming“ (Lp/Cd) ist eine Art vollkommen klischeebefreiter Meditationsmusik. Und spannend obendrein. Es könnte ein neues Lieblingsalbum werden für Hörer, die die gesammelten Areale und Versunkenheiten von Steve Tibbetts „Life Of“ oder Arvo Pärts „Tabula Rasa“ schätzen, oder das Sololbum von Mark Hollis, wohl auch für solche, die gerne mal zu dem einen oder anderen Klassiker aus den Fundgruben von „Made To Measure“ und „Obscure Records“ zurückkehren, diesen historischen Labels und Spielwiesen für Undefiniertes von Marc Hollander und Brian Eno. Und sowieso trägt das Teil die Signatur „produced by Manfred Eicher“. Als etwas stillere Präsenz war gewiss auch der seltsame Vogel Loplop zugegen, in den Pariser Studios. Und der kennt die schnellen Wege, raus aus den Schutzzonen behüteter Hochkultur, und, wie aus dem Nichts, hinein in all unsere Wildnisse!

 

(Das ist meine Weihnachtsbotschaft, „meine kleine Winterreise“, und ich denke, am 27.März in den Klanghorizonten des Deutschlandfunks um 21.05 Uhr werde ich eine dieser Kompositionen des in Paris lebenden Russen in die Umlaufbahn schicken, ungefähr um 21.45 Uhr, in bester Gesellschaft. So macht man das mit dem „Unerhörten“.)


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