Die Frauen meines Lebens habe ich nicht allzu selten in Fahrstühlen entdeckt. Eine wurde meine Verlobte (sowas gab es in der alten BRD), eine sah aus wie 5000 DM pro Nacht, und kostete ungefähr auch so viel. Ich bekam die Nacht geschenkt, weil ich sie in Erziehungsfragen beriet. Man spricht Frauen besser nicht in vollbesetzten Fahrstühlen an, sondern, kurz nachdem sie den geschlossenen Raum verlassen haben, und die Frage nach einer Tasse Kaffee nicht als Bedrängnis wahrgenommen werden kann. Sex in Fahrstühlen hatte ich nur zweimal, aber auch in Wolkenkratzern ist ein Quickie in normaler Rauschefahrt kaum machbar, es sei denn, man liebt des Thrill des Entdecktwerdens. Andrea und ich hatten uns darauf geeinigt, in einem Kölner Hotel leicht gehobener Klasse, um Mitternacht, nach einem Laurie Anderson-Konzert, den Fahrstuhl zwischen dem vierten und fünften Stock anzuhalten, und es voll durchzuziehen. Ich finde das Vögeln im Stehen an sich nicht besonders prickelnd (trotz einschlägiger Filmszenen, in denen besonders gerne Küchenmobiliar ins Blickfeld rückt), aber Andrea war leicht erregbar und kam schnell, ich musste dennoch das Kopfkino einschalten (dieses Surren der Elektrik, der blinkende Notknopf!), und so schlief ich virtuell mit zwei Frauen. Aber ich wollte etwas anderes erzählen. Meine liebste Fahrstuhlerinnerung (unter den apollonischen) hat überhaupt nichts mit Sex zu tun, sondern mit Lyrik. Eines Tages stand der ehemalige Chef der Hörspielabteilung des Senders mit mir im Fahrstuhl, nur er, und ich, sein treuer Leser. Es war Jürgen Becker, und in der Zeit, als ich noch mehr Gedichte las, und weniger Thriller, kaufte ich mir jeden seiner schmalen Gedichtbände. Jürgen Becker war ein Chronist der alten Bundesrepublik, seine im Grunde stocknüchterne Sprache hatte, verkappt, verborgen, jenen leisen Swing, der aus einer kahlen Baumgruppe etwas anderes machte als eine kahle Baumgruppe (aber eben nichts Symbolisches). Es war ein Sinne schärfender Hyperrealismus, bei dem pro Gedicht eine Zeile ins Irreale verrutschte, aber nahezu unmerklich, nicht als Pointe. Seine Gedichte waren pointenfrei. Jetzt macht dieser Text langsam doch Sinn, handelt er doch vom Schärfen der Sinne.
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2016 7 Nov.
FAHRSTUHLPROSA
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: alte BRD, Hyatt's Regency, Jürgen Becker, Laurie Anderson, Mondscheintarif, Swing | 3 Comments
2016 6 Nov.
Allergrösste Sorgfalt
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 4 Comments
Als ich mir nun meine Jahresliste der aufregendsten Musikproduktionen 2016 vornahm (und sie in strenge Reihenfolge brachte – ist es nicht seltsam, dass man bei soviel grossartiger Musik immer noch differenzieren kann, wieso X auf Platz 7 und Y auf Platz 8 landet?), fiel mir auf, wie wenig Electronica da vertreten sind, also Platten, deren Klänge überwiegend elektronisch erzeugt werden. Was kamen da für Werke in die Post: dark ambient, black ambient, doom ambient, ultra modern dancefloor vibes: was beschworen Rezensenten da alles für ferne Welten, „cathedrals from outer space“ – nur, die Musik zündete nicht, blieb altertümlich avantgardistisch, special effects-lastig. Dagegen begeisterten mich nur zwei Platten aus diesem weiten Feld: eine heisst CHEETAH von Aphex Twin (von dem ich überhaupt nur drei Platten mag, seinen Klassiker „Selected Ambient Works 2“ finde ich schlecht geklaut und langweilig). Leider eine E.P., also nichts für eine Liste der Alben. Aber was für springlebendige, zauberhaft wirbelnde elektronische Musik! Und die andere sprang auf Platz 3 meiner Jahresliste, 20 satte Punkte. Auch wenn ich damit wohl allein auf weiter Flur stehe. Nur wenige kennen das Teil. Dieses Album zu hören, hatte auf mich die gleiche rauschhafte Wirkung, wie einst in Teenagerjahren, als neben dem Tannebaum eines Freundes, der Plattenspieler „Halleluwah“ von Can spielte, aus der damals brandneuen Platte TAGO MAGO. Ich war ganz aus dem Häuschen. Völlig anderes Feld, und wenig elektronisch, aber was diese beiden Platten verbindet, über Jahrzehnte hinweg, ist der euphorisierende Drehschwindel, tiefe Trance, zugleich hellwache Gebanntheit für jede Vibration, jeden Basis- und Randgroove. Und wie die Musik auch bereit war, jene Zonen anzusteuern, in der sie vor dem reinen Nichts stand, um dann wieder, mit einem TING, und noch einem TING, in die Welt zurückzukehren, full volume. Damals wackelte der Weihnachtsbaum. Jetzt heisst es nur „Warten bis Nikolaus“, um meine unglaubliche „Numero 3“ zu registrieren. Wer es aber gar nicht aushält, dem empfehle ich, aus seinem Leben ein Gesamtkunstwerk zu machen, in dem Alltag und Magie eins werden. Besorgen Sie sich, am besten noch heute, es gibt immer einen Weg, eine neue alte Waschmaschine, die „Ultimate Care II“ heisst – vielleicht müssen Sie dafür in ein Museum einbrechen, oder schlicht den Markt sondieren!
2016 4 Nov.
Die zwei wunderbaren Veröffentlichungen vom 4. November
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Keith Jarrett, Lambchop | Comments off
Wenn das Neue seinen Reiz verliert, sind die griffigen Vokabeln zur Hand. Aber wenn das Neue sich nicht darum schert, das Neue zu sein, fallen die meisten Worte ins Leere, das Abenteuer bleibt bestehen: den ersten Ton anzuschlagen, der Entfaltung einzelner Motve und Motivketten mal verblüfft, mal zweifelnd zu folgen, Atem zu holen, Laut zu geben (Jarretts Stöhnen ist nicht inszeniert, vielmehr Begleiterscheinung eines Ekstatikers bei der Arbeit), zwischen Stilen und Jahrzehnten fündig zu werden (als wäre es ein erstes Mal, kein Zitatenschatz). Und so gibt es hier, in diesen vier italienischen Konzerten aus den Neunziger Jahren , einiges mehr zu bestaunen, zu belauschen als in der zu obsessiv betriebenen Triobearbeitung alter amerikanischer Songblätter. Aus ungenannten, mediterranen Quellen wurde mir das Material der vier Konzerte vor Wochen zugespielt, und ich schmuggelte Ferrara (oder war es Modena) in eine Radiostunde nach Mitternacht. Es war mir ein Fest. Und jetzt reden Sie jetzt bitte nicht vom Köln Concert. The sounds they are a’changin‘! So weit, so gut, und neben A MULTITUDE OF ANGELS ist heute auch FLOTUS von Lambchop erschienen. Es gibt letzteres sogar in einer Edition mit Whisky.
2016 1 Nov.
NO DREAMS IN HARBOR COUNTRY, OR: THE HENRY MANCINI MISTAKE (an interview with Kurt Wagner, Lambchop)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: FLOTUS, interview, Kurt Wagner, Lambchop | 4 Comments
When I had a first glance on Kurt Wagner’s telling essay on the making of FLOTUS, the word „Mancini“ popped up, and I immediately thought of Henry Mancini, the composer of unforgettable soundtracks. After having channelled Frankie „Boy“ Sinatra into ghost town territory, after having composed a new soundtrack for a German silent movie from the 20’s, after some Curtis Mayfield falsetto highs on NIXON – why should the man who, similar to Robert Wyatt, has always been able to give well-known sources a personal touch, not get away with some Henry Mancini mood? I was wrong, Mary Mancini is the name of his wife. A politician. Democratic party. And she plays her part in the album, that’s for sure.
To be honest, I would very much prefer to get lost in a Scottish whiskey bar instead of following the ups and downs of a long-time marriage by reading canonical middle class novels by Updike or Ford (to make a long list short) that were quite obsessed with midlife-crisis-drama and long-term relationship-matters.
But there are exceptions. BLOOD ON THE TRACKS (to name a prize-winning writer), or one of the long Neil Young-songs on PSYCHEDELIC PILL – or Lambchop’s FLOTUS: though there are a few songs here (you could ad hoc call love songs), a lot of the tracks carry you away from any kind of conceptual exloration of the modus vivendi of people who know one another for half a lifetime. And the love songs, by the way, are brilliant.
FLOTUS Is a multi-layered beast, on par with Lambchop masterpieces like IS A WOMAN or DAMAGED (you, dear reader, might have other ones in mind). But here he is, Mr. Kurt Wagner, playing with „auto-tune“, doing „the two-step-hustle“, spending some time in Spain, just a few days before the release of one of the great song albums of 2016. Album of the month in MOJO, album of the month in UNCUT (December issues). So, take your time, and do yourself a favour, read – and listen!
Michael Engelbrecht: Where are you just now, Kurt, any hip-hop to be heard in the neighborhood?
Kurt Wagner: I’m in Castelion, Spain, on my off day which happens to be a bank holiday in Spain. Last night was Halloween. Not much hip-hop in this town this morning but it has yet to wake up.
Michael: To open this album with IN CARE OF 856309, is a courageous decision. A slow burner, the vocals quite deep in the mix (sometimes the deep range of your voice placed close to the bass). Words become sounds, and the listener is not forced to do semantics in the first place. An „ambient song“, kind of.
Kurt: Making this the first track on FLOTUS seemed to be the only logical place for this track to go. For this particular record I think it introduces the vocal distortions in a confident way, almost relentlessly. The flow of the words and the almost ultra wordy prose makes the case for a certain amount of drift by the listener much in the same way great dense hip hop words work. But also Dylan.
Michael: Additionally, you cannot always distinguish exactly between the real voice and the manipulated one.
Kurt: It is true that the vocal processing does balance between the more natural voice and the processed. My hope is by the end of the experience you have either accepted the notion, or turned the track off. It gives you the space to decide.
Michael: Speaking of „Auto-Tune“. What is it that attracts you here, from besides of paying attention to your hip-hopping neigbourhood, and the distorted sound of their ghettoblasters?
Kurt: In my case, this machine enables me to to go beyond my limitations as an artist. It can suggest and infer possibilities, it can open up ideas by virtue of its design. And it happens in real time as the source is presented, it’s like a performance enhance for but the mind and the mouth.
Michael: I have big fun when reading the lyrics of JFK (“ … We must build a culture of understanding / just shy of the radio: I’m a pharmacist … „) – and simultaneously listening to the song. What has been the inspiration to a song that may have some sad undercurrents. But then, yep, the dancing groove of the second part, me oh my …
Kurt: When I was helping my parents move a few years back I was cleaning out their basement and I came across a drawing I made when I must have been 6 or so. It was a picture of JFK at a desk in the oval office with the presidential flag behind him. (the same flag that’s on the FLOTUS record cover). It now sits in my office and I see it everyday and i move it from place to place not knowing really what to do with it. I even made a crude wooden frame for it back then and signed it on the back. I must have been quite proud of it I suppose. I do remember that when I was very young we went to see the eternal flame at JFKs grave in Washington DC and that I am told I broke away from my parents and slipped under the rope that protected the area and made a break for the grave and flame. A U.S. Marine guard had to run me down and return me to my parents. The song was written while looking at and contemplating the drawing.
Michael: You often used your small orchestra as a kind of paintbox carefully chosing musical colours, so that it resulted in a kind of chamber folk, maybe with the exception of NIXON. Now starting these songs alone with some new electronic devices allowed you to build up songs from scratch, with no prefigurations by favoured or well-trusted guitar lines. But it still sounds intimate and colourful. Even when a „club feel“ enters. And the long last, most „groovy“, most electronic track of the album sounds so much more contemplative than switching on fireworks-mode.
Kurt: With the help of technology I’ve been freed up to realize a song idea in a fuller more complete and complex way. But that said it still needs the human touch to be a Lambchop record or performance. It is that intimacy that Lambchop has with the listener that is one of the cool things about this record. I feel it’s still there in the sound and the songs.
Michael: I know that many of your songs start with everyday observations. So, looking at a song like OLD MASTERS, what (the hell) has inspired it? A good example that you don’t need to have the faintest idea of anything to love a song.
Kurt: Stay hungry, my friend.
Michael: I have been listening to the whole album just about six, seven times now, and I’m very sure that this whole thing is a damned tricky beast. You are never trapped in a formula, e v e r y song has a different and distinct atmosphere. I think you like downplaying this sophisticated element by presenting yourself as a man of certain age looking at the younger generation for doing a bit of trial-and-error stuff.
Kurt: I’ve indeed been convinced that in order to move forward through a creative life one has to look to younger generations to see where things are heading. Most but not all people my age tend to settle into a place that is more about the past than the future. Partly because the future for my generation is pretty fucked in a broad sense. So let the children play so to speak and interact with their sounds and ideas. I am in no way a complete idea but rather one that is in need of learning and refining the ideas that are out there and the ones yet to be thought of.
Michael: Some lyrics seem to refer to dream activities, at least daydream activities (the scene in the laundry, the special imagery of HARBOR COUNTRY.
Kurt: Sorry, no dreams in Harbor Country.
Michael: THE WRITER is witty, funny, thoughtful, dark, everything. Shades of a self portrait? Or some musings on polarities?
Kurt: It’s a bit of both really, I was playing with the folk form of style and verse and placing it in an electro setting with horns.
Michael: Your favourite TV-series of the last years?
Kurt: „Last Week With John Oliver“, the best comedy show on current events in the USA right now. No one else comes close.
2016 28 Okt.
Novemberintensitäten (revisited)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
Der depressionsfreudige Monat naht, und mit ihm Gruselgrau, Dauerregen und Kaminfeuer. Unser „album of november“ wird von Ingo J. Biermann vorgestellt, und ich habe bislang noch nie etwas von dieser Sängerin gehört. Musikalische Szenen sind so unendlich weit gefächert, dass ein 360-Grad-Überblick gar nicht mehr möglich, auch nicht erstrebenswert ist. Gerade deshalb sind ENTDECKUNGEN jederzeit möglich, zumal, wenn vertrauten Stimmen sich zu Wort melden.
Da Ingo J. Biermann jüngst Manfred Eicher bei einer Studioproduktion mit Kamerateam begleitete, dürfte ihm als Kenner der ECM-Welt (die gerade, in pataphysischer Manier, und ganz im Sinne Cortazar’scher Cronopien und Famen, selbst die Sylter Jukebox-Szene erfasst hat), unsere novemberige Vinylecke, reich an alten ECM-Werken, gefallen. Unserm grossen Vinylexperten und Stammleser Norbert Ennen ohnehin, der da einiges Lesefutter vor sich hat. Der Text existiert jetzt in einer neuen Fassung.
Für das Grau(en) in allen Schattierungen bis ins tiefste Caravaggio-Schwarz sorgt meine Thriller-Empfehlung, die bei aller Plot- und Schreibqualität in ähnliche Dimensionen des Horrors und der Umnachtung vorstösst wie einst Robert Bollanos dunkelstes Werk. Nett wie ich nun mal bin, enthält meine inhaltsfreie Vorstellung neben einer ausdrücklichen Warnung auch die etwas heller gestimmte Alternative, ein gewitztes Frühwerk von Don Winslow, das, folgen wir mal dem Spass des Klappentextes, den „besten Detektiv Amerikas nach London“ verschlägt.
Der Knaller aus der Abteilung „Philosophica“, die diesmal eher „Psychologica“ lauten sollte, ist den kreativen Potentialen von Fehlern, Zufällen, Desorganisation und anderen geplanten wie ungeplanten Verwirrspielen und Missgeschicken gewidmet: MESSY geht los mit Vera Brandes, Keith Jarrett und dem „Köln Concert“, mit David Bowie und Brian Eno in Berliner Tagen, womit sich gleich mehrere manafonistische Kreise schliessen. Lars Gustafsson hat einst den feinen Kurzgeschichtenband „Die Kunst, den November zu überstehen“ herausgebracht (wo es viel ums Reisen geht, auch um die einundzwanzig Eisenbahnen von Iserlohn) – ich bin sicher, unsere Empfehlungen können (wenn man mal unseren „Alptraumthriller“, dessen erster Teil nicht zu Unrecht „Böse Träume“ lautet, aussen vor lässt) dabei wertvolle Hilfe leisten.
Nicht zuletzt auch DETECTORISTS, die zwei Staffeln umfassende britische TV-Serie, welche im ländliche Suffolk den dezenten Obsessionen und Weltverlorenheiten der Protagonisten nachspürt: dass diese neue Kolumne „Bingewatch Trance“ lautet, stellt dem flapsigen englischen Ausdruck fürs „Komagucken“ jene bewusstseinsverändernde Qualität an die Seite („Trance“), die ein Alltagsphänomen ist und nicht das Privileg ausgefuchster Hypnosetechniken. Das rationale Bewusstsein ist ein Teilzeitarbeiter, und überlässt oft genug dem Unbewussten das Feld, gerade auch da, wo wir in andere Welten eintauchen.
P.S. Anlässlich der im November in Hamburg wochenlang zu erlebenden Installation von Brian Eno’s THE SHIP wird die Besprechung dieses Meisterwerkes (im LP/CD-Format) in Kürze wieder ins „Blogtagebuch“ transportiert. Incl. Brians Kommentar zu unserem Text! Ob es tatsächlich das manafonistische Album des Jahres wird, zeigt sich in der Abrechnung zum Jahresende hin.
2016 19 Okt.
Aus unserer Reihe „Die besten Kinofilme des 21. Jahrhunderts“ (erste Folge): IT FOLLOWS
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Die Musik von Disasterpeace (Rich Vreeland) ist der Soundtrack, den solch ein minimalischer Horrorstreifen benötigt. Mit Echos von Cage, Carpenter und Penderecki. Ohne die laufenden Bilder macht er nur Sinn, wenn man etwas zum Film erzählt, der in und um Detroit herum gedreht wurde. Eine urbane Kulisse, die immer mehr zur Geisterstadt taugt. Alles wirkt seltsam retro in diesem Film, der sich in einem Nirgendwann zwischen den Siebzigern und der Gegenwart zu bewegen scheint. Wenn zu Anfang die blonde Jugendliche in High Heels verwirrt auf die Strasse läuft, wähnt man sich in einem Traumszenario.
Überhaupt scheinen sich die jugendlichen Protagonisten in einer Art Blase zu bewegen, zwischen der Zeit des Erwachsenseins und den Geschenken der Kindheit, die immer noch den grösseren Charme besitzen. Man liest auf E-Books (die wie digitale Poesiealben aussehen) Dostojevskis “Idiot”, man guckt alte Schwarzweissfilme mit Cops und Sternenreisenden, man ist vielleicht ein wenig gelangweilt, aber man ahnt und weiss, wie wichtig Freundschaften sind. Die Geschwister zicken nicht miteinander, man ermutigt sich, in dieser Welt, in der die Erziehungsberechtigten ein relatives Schattendasein führen. Und wenn dann das Grauen zur permanenten Bedrohung wird, ist Freundschaft allemal gefragt. Was ist man bereit zu geben, zu teilen?
Als Genrefilm bleiben verstreute Verweise auf andere Klassiker des Horrors im Vorstadtamerika nicht aus, von “Blue Velvet” über “Carrie” bis “Halloween”, aber nicht als ausgeklügelter Subtext für Filmjunkies – alles ist organisch verwoben, es gibt keine einzige überflüssige Szene in einem Film, der trotz unheimlichster Strecken immer noch Momente des Atemholens unter einem weiten Himmel findet, in denen reine sanfte Melancholie herrscht, und die Gewissheit, dass die Kindheit ein für allemal vorüber ist.
Genau wie der Western, dessen Ende regelmässig verkündet wird, ist auch der Horrorfilm einfach nicht totzukriegen. Immer wieder mal kommen da wie dort kleine Meisterstücke zum Vorschein, die so “creepy” sind, dass manche sich an die erste Gänsehaut im Kino erinnern werden. Dieser Film ist so raffiniert, dass man leicht alle Requisitenvergisst, sogar die Tüte Popcorn in der Hand.
2016 16 Okt.
Das flackernde Neonlicht auf der Boogie Street
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Leonard ist weiterhin auf der „Boogie Street“, aber er begnügt sich damit, den grellen Neonlichtern gegenüber beim Flackern zuzusehen, wie einem Edward Hopper-Bild, das unter Zuckungen leidet. Zwischendurch schreibt er ein paar Zeilen auf, Verse, die ins Dunkle treffen. It’s a long and winding coffin road …
2016 15 Okt.
„You, the night, and the radio“ – (Nachspiel & Nachspiele)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 17 Comments
ERSTE STUNDE
ZWEITE STUNDE – Jherek Bischoff / Okkervil River / Zsofia Boros / Andrew Cyrille / Radiohead / Jenny Hval / Bon Iver / Andrew Cyrille** / Leonard Cohen / Jherek Bischoff
DRITTE STUNDE
„NAHAUFNAHME“ – „David Darling-Mixtape“ with a surprise; „I knew Brian Eno would love CELLO when I sent it to him in the early Nineties.“ (m.e.) (ein besonderer Dank an Hans-Dieter Klinger für den „support“ von „Journal October“)
VIERTE STUNDE – erste Zeitreise, die „Vinyl-Reissue“ von Terje Rypdals „Waves“ (1977), und „Modena, Part 1“, aus der 4-CD-Box „A Multitude of Angels“ von Keith Jarrett (VÖ: 4. November)
FÜNFTE STUNDE – zweite Zeitreise, mit „Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet“, von Gavin Bryars aus dem Album „The Sinking of the Titanic“ (Obscure Records), und „Octet“, aus der kleinen Schatzkiste „Steve Reich – The ECM Recordings“)***
* … nur die erste Stunde hier als „diskreter Podcast“. Da ist soviel Spannendes von HUBRO zu entdecken. (Die „dritte Stunde“ ist noch eine Option.) Und obwohl einige Themen dieser Nacht eng mit dem Label ECM verbunden waren, gab es in der ersten Stunde keine einzige ECM-Produktion:)! Das lange Stück von Keith Jarrett (in der vierten Stunde) war exklusiv (sozusagen), und als einmaliges Ereignis gedacht.
** … eigentlich sollte vor Leonard Cohen eine Komposition von Egberto Gismonti kommen, interpretiert von Zsofia Boros auf dem Album „Local Objects“ – aber der „Denon Professional CD-Player“ gab den Geist vorübergehend aus („Error 103“ zeigte das Teil an, danke auch:)), und machte es unmöglich, „Local Objects“ zu verwenden („stuck in the dead machine“). Stattdessen kam die Andrew Cyrille-CD ein zweites Mal zum Einsatz, die faszinierend ist, aber vor Cohen nicht ihren idealen Ort hatte. Dafür aber vor „Numbers“ von Radiohead.
*** … musste mich bei dem „finale furioso“ um 5.40 Uhr recht kurz fassen, und die Uhr im Blick behalten, um die Komposition von Steve Reich punktgenau „abzufahren“. Deshalb gingen noch ein paar Sachen verloren, die ich unbedingt loswerden wollte. Das sei hier nachgeholt. Es gibt nicht nur die „Schatzkiste“ von ECM mit drei Reich-Werken (incl. „Music for 18 Musicians“, sondern auch, bei der Deutschen Grammophon, eine drei Langspielplatten umfassende Neueditition von frühen Klassikern a la „Drumming“, letzteres hat aus meiner Sicht eine ähnlich tiefreichende Wirkungsgeschichte Wie die „Musik für 18 Musiker“. Zudem bin ich immer noch ganz vernarrt in die hypnotischen wie psychoakustischen Effekte seiner frühen Bandexperimente a la „It’s Gonna Rain“ und „Come Out“ (bei Elektra/Nonesuch erhältlich, unter dem Titel „Early Works“).
P.S.: Ich habe in den letzten Tagen teilweise erschütternde Post von lieben Freunden / Bekannten bekommen. So verdammt traurige Dinge schiessen gerade volle Breitseiten ab.
P.P.S.: Ich moderiere hier noch die Novemberempfehlungen, und das „Nachspiel“ dieses Beitrags hier – dann tauche ich für eine Zeit ab, ähnlich, wie ich es in den Northern Highlands gemacht habe, Anfang des Jahres. Comebackdatum: Nikolaus. Allen sei bis dahin die dritte Staffel von „Transparent“ ans Herz gelegt. Brian W. sieht sie sich gerade in Forestville, CA, an, schrieb er mir. Gleich die erste Episode, zum Heulen einsam. Und wer spielte da was: Nina Simone „Ne Me Quitte Pas“. Wer sie mag: alle sieben Aufnahmen bei Phillips aus den Sechziger Jahren liegen in einer preiswerten CD-Kiste bereit.
„There are too many stand-outs to list in detail; highlights include her cover of Irving Berlin’s ‘This Year’s Kisses’ and Bob Dylan’s ‘The Ballad of Hollis Brown’ from 1966’s Let It All Out; while ‘Wild Is The Wind’, later covered by David Bowie on Station to Station, is devastating in its searing beauty.„
Bin gespannt, was unser „special guest“ Ingo Biermann im November zum „album of the month“ kürt! Hope you’ll keep this site alive in the following weeks.
The only thing I would call „written in stone“ Is playing David Bowies swan song „I can’t give everything away“ in my night show on the last day of 2016. Next Friday you can kill the flame, if you want it darker. Cohen’s album coming out.
Peace, Michael!
2016 14 Okt.
Der trommelnde Altmeister, und die immer noch ungebrochene Vielfalt des freien Spiels (für John Kelman)
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Andrew Cyrille | 3 Comments
Es ist einfach, diese Musik zu lieben, wenn man einen guten Draht zu freien Jazzklängen hat – und das Melodische auch da gern aufspürt, wo Anarchie und Ausbruch Optionen sind. Andrew Cyrille muss Freunden der Free Jazz-Historie kaum vorgestellt werden, aber es sollte unbedingt der Hinweis erfolgen, dass ein Etikett wie „Free Jazz“ für dieses Album so irreführend ist wie der nach alten Losungen der wilden 60er Jahre klingende Titel „The Declaration of Musical Independance“ (ECM 2430). Andrew Cyrille muss niemandem mehr etwas erklären. Das ist stiller freier Jazz, jederzeit auch extrem dynamisch, nie nervös sich verzettelnd, immer konturiert, luftig, abenteuerlich. Für den Gitarristen Bill Frisell, der lang kein bedeutendes Album mehr unter eigenem Namen aufgenommen hat, ist dieses Dokument eine Erinnerung an seine kreativsten Jahre bei ECM, an frühe Zeiten bei NONESUCH. Anders geerdet, und ähnlich eindringlich, sein raues Spiel auf Lucinda Williams jüngsten Liedern vom „Highway 20“! Ben Street ist der Bassist, der sich hier nicht nur im Tiefkellerbereich der Sounds abarbeitet, sondern gleichermassen zur Luftkunst dieser neun Kompositionen beiträgt. Hinzu kommen all die sparsam gesetzten Töne und Klangwirbel des Synthesizer- und Pianospielers Richard Teitelbaum. Eine Platte wie ein Vermächtnis des Poeten am Schlagwerk, an der Perkussion. Der Produzent ist Sun Chung, und wer immer das ist, er hat exzellente Arbeit geleistet. Von ferne erinnert mich diese „Unabhängigkeitserklärung“ an eine ältere Manfred Eicher-Produktion mit dem schlichten Titel „The Paul Bley Quartet“ (ECM 1365). Der in diesem Jahr verstorbene Klavierspieler war ein ähnlich stilgrenzenbefreiter Pionier, ein Seelenverwandter von Andrew Cyrille. Und bei jener Produktion waren, neben John Surman und Paul Motian, auch ein gewisser Bill Frisell dabei. Und damit habe ich Ihnen eigentlich gleich zwei Aufnahmen wärmstens empfohlen.
2016 13 Okt.
The best jazz concert I ever saw in Paris
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments
1973. Or close. We had six days in Paris and lived in two quite rotten appartments in Abbèsses. I was looking for a concert that lived up to my expectations of Paris‘ mythical history of jazz, and, by chance, I found a record store with incredible albums: the rarest works of Sun Ra, German hard core Free Jazz from FMP, a Michael Cuscuna label (that would pubilish gems like a duo album of Charlie Haden, the best Sunny Fortune album ever, and a brilliant Dave Liebman longplayer, with a fine version of the Beatles‘ „Within You, Without You“). The whole world in a little store. Of course all the early ECM stuff – and, unknown for my hungry ears, the French label „Palm“ which had its office just around the corner. I had never ever heard of a guy called Byard Lancaster III (who had just released an album on that label parisienne). The manager told me about this black American guy, he described his style, on the sax, on the piano. And he would play that week in a small theatre in „Mouffetard“ (maybe that was the name of the place, or the area, dunno). We went there. A French bass player who did a fine job, Steve McCall (the magician, on drums and percussion) – and the then unknown Mr. Lancaster. Later, when I was asked about the best concerts of my life, this evening always popped up from memory. It was free, melodic, soulful, it was running down every road of the avantgarde with blissful nonchalance – not hesitating to dive into some Ray Charles territory with heartfelt singing. At that time I still didn’t know the books of Julio Cortazar, but it still makes me shiver to think that this guy (who later became one of my favourite writers of post-war literature, a man who lived jazz) had been sitting two or three rows behind me. Maybe Byard Lancaster III became a teacher later, but apart from that old „Palm record“ I never again found anything of this man that even came close to the magic of that evening.