„Retrato em branco e Preto“ ist eine Komposition von Antonio Carlos Jobim und Chico Buarque, was bedeutet, das Joey sie von allen Manafonisten wohl als einziger kennt. Wenn überhaupt. Diese Interpretation eines brasilianischen Songs eröffnet ein im Herbst 2022 erscheinendes Duo-Album. Produziert im November 2021. Wer die beiden Improvisatoren beim Namen nennt, und den Titel der CD, die auch auf 180 g Vinyl rauskommen wird, erhält die Cd innerhalb von 14 Tagen nach Veröffentlichung zugesendet. Bitte bei den „comments“ den Tip abgeben. Neben zwei Eigenkompositionen und einer freien Improvisation spielen sie Standards, und zwar „The Song Is You“, „Round Midnight“, „I‘m Getting Sentimental Over You“, sowie „Misterioso“. Meine Meinung nach dem ersten Hören: es gibt Alben voller Standards, die virtuos und langweilig sind. Und es gibt solche Alben voller Standards, in denen es sehr persönlich zugeht. Dieses Teil gehört eindeutig zur zweiten Gruppe. Das Virtuose ist hier Begleitphänomen.
Archives: Juli 2022
2022 31 Jul
Das manafonistische Musikrätsel No. 11
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 7 Comments
„…wie ein verlorener Songzyklus, als ob sich Robert Wyatt aus der Mitte der 70er Jahre mit John Cale aus Paris 1919 und dem frühen Van Dyke Parks zusammentun würde.“ Was ein amerikanischer Musikjournalist hier so umschreibt, hat mich dazu bewogen, das Vinyl zu bestellen (blindes Vertrauen in den Schreiber in diesem Fall!). Die Rede ist von Daniel Rossens „You Belong There“. Die Robert Wyatt-Referenz kann ich gut heraushören, das Album ist wahrscheinlich ein „grower“. Es fasziniert mich und macht mich zugleich etwas ratlos. Noch. Abwarten. A propos abwarten: zwei Songalben, oder Alben mit Liedern, erwarte ich nun mit grosser Spannung im Herbst 2022, und sie stammen von alten Bekannten. Einmal Eno, und Lambchop. Kurt Wagner scheint seinen radikalen Weg fortzusetzen (sein letztes Soloalbum, das ich in einer Fassung mit 45 Umdrehungen pro Minute auf weissem Vinyl besitze) ist überragend, nicht unmittelbar eingängig, und, sozusagen, Kurts „Manafon“.
2022 30 Jul
Tigran and Jan and Eivind (and some more samples)
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 1 Comment
Ein denkwürdiges Duett fand damals statt im September 2012 oder 2013 (die Jahreszahlen verschwimmen in der Erinnerung, nach so vielen Erlebnissen auf all den Punktfestival von Kristiansand). Tigran Hamasyan studierte einst das Jazzpiano bei einem Bebop-Virtuosen aus seiner alten Heimat, und die Alben, die er anfangs einspielte, und einigeseienr frühen Aufnahmen gleichermassen virtuos wie antiquiert. Es war, gelinde gesagt, eine Überraschung, ihn in Kristiansand so zu erleben, als hätte er einen nicht zu umterschätzenden Teil seines Lebens damit verbracht, frühe ECM-Klassiker von Paul Bley, Keith Jarrett und Chick Corea rauf und runter zu hören (und ganz eigene Ideen daraus zu entwickeln), denn hier, im Dialog mit den Live-Sample-Künsten des Jan Bang und guitarrero Eivind Aarset, staunten wir, Henning Bolte (der die Fotos schoss), John Kelman, Christoph Giese, ich, und viele andere, nicht schlecht, welches spannungsgeladene Feuerwerk da auf der Bühne abging. Ich schnitt eine kleine Sequenz mit, und als Manfred Eicher diesen Ausschnitt in den JazzFacts des Deutschlandfunk hörte, gingen nur noch wenige Monate ins Land, bis das Doppelalbum „Atmosphères“ enststand, in Lugano, mit Tigran, Jan, Arve, und Eivind. Anfang September 2022 geht das Punktfestival in die nächste Runde – alles ist angerichtet, für eine Hommage an die wunderbare Sängerin Sidsel Endresen. Möge es neue Abenteuer geben!
It was September 2013. Here some fast written remarks from that month, slightly remixed: „One of the wonders of „Punkt aesthetic“ is that constant lesson of stripping down nearly every „big thing“ to chamber size, a sensual „being-lost-in-the-laboratory“-agenda… David Sylvian’s trio, The Kilowatt Hour, revealed the silent triumph of an artist rigorously following his own visions – until a zone called zero. The Sylvian albums „Manafon“ and „Manafon Variations“ were journeys into the area of zero, kind of…. The duo of Jan Bang with Tigran Hamasyan, shining hours of Punkt history: one element of jazz’s future – well-grounded, fractured dejavues and nearly lost echoes. By the way, Tigran’s musical life changed when he (once upon a time) listened to „Dis“ from Jan Garbarek and Ralph Towner. The sound of the wind harp, still alive, folks… Another unforgettable event, in early September, the duo from a singer and a guitarist: Eteniesh Wassie’s and Mathieu Sourisseau’s Africa, bleak and beautiful. Simply said… my kind advice: dive into the Punkt Archive and restore it. Let this buried treasure reappear, in some way or another (i’d prefer clear vinyl)…. In that week I turned into a Paparazzi, just for fun, by taking a photo of Mr. Sylvian in „Mother India“. It went a bit viral within a short time, my fault was mentioning it to „The Blue Girl“, a very ethereal and ghost-like woman who belonged to the inner circle of a David Sylvian „fanclub“. Erik Honoré kindly asked me to make the picture go away.
this
hand
these
fingers
they
fingered
me
and
i
was
in
heaven
once
upon
a
time
2022 29 Jul
London und Lugano 2014
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 5 Comments
Zwei Reisen anno 2014. Eine führte mich in Brian Enos Studio, und zum ersten Tag der Aufnahme seines zweiten Albums mit Karl Hyde. Die Improvisation, die sie vor meinen Augen und Ohren spielten, hatten etwas Verwegen-Krautrockendes, eine kühne Variante und Anverwandlung von Embryo-Sphären zur Zeit von „Steig aus!“ Keine Sekunde davon landete auf „High Life“, obwohl das Stück voller Gänsehautmomente war. Was natürlich auch an meiner exklusiven Zuhörerrolle lag. Damals fotografierte ich das Café, in dem ich den legendären Bob T. Bright traf, der mir Wunderbares erzählte von Lee Hazelwood. Worauf ich meine Stories mit Jonathan Richman beisteuerte.
Die andere Reise führte nach Lugano, wo ich in Manfred Eichers geschätztem RSI Lugano, Zeuge letzter Takes und der Abmischung von Tigran Hamasyans „Atmosphères“ wurde. Wieder fabrizierte mein iPad diese beiden Fotoserien von allein, und auch auf die Untermalung hatte ich keinen Einfluss. Das ist dann ein närrischer Spass für Freunde von ECM und Eno – und als krönender Abschluss hier noch eine Zugabe aus Sylt, diesmal ein kunterbuntes Potpourri, „Sylt im Laufe der Jahre“. Mit einigen bekannten Gesichtern vom legendären Manafonistentreffen. Nur Martina ist nicht zu sehen. Beschwerden werden gerne entgegengenommen und fristgerecht innerhalb von fünf Jahren bearbeitet.
Am Strand Sylt – 30. Apr. 2020
Diese Zusammenstellung von Bildern aus meinem denkwürdigen Sylt-Trip im ersten Lockdown hat mein iPad ohne mein Zutun „komponiert“, und auch die Musik selber ausgewählt. Dem Sog dieser Fotos kann ich mich nicht entziehen, nicht mal mit dieser leicht angekitschten Musik. Ich wusste schon damals, dass diese Reise einmalig sein würde, und ich hatte das Glück, mich in diesen ersten dunklen Zeiten tagaus, tagein zu fragen, ob ich träume, oder wach sei – die Basisübung des „lucid dreaming“. Solche Sorglosigkeit ist gemeinhin das Privileg der Naiven, aber die ganze Zeit über hatte ich das Empfinden einer ätherischen Melancholie, und ich erinnerte mich an ein Märchen, das meine Mutter mir als Kind erzählte, von einer Zeit am Meer „in hundert Jahren“, wenn wir alle die Erde verlassen hätten. Skurril auch: eine Woche lang war ich der beste Kunde der „Sansibar“, ich lernte einige Ureinwohner kennen – am besten waren die Begegnungen mit Wildfremden auf verlassenen Parkplätzen, und ich bekam noch die Tage Post vom „Piano-Doktor“ aus Braderup, der mir seine Version von Roger Enos „Through The Blue“ sandte – es wäre der ideale Soundtrack für die kleine Fotoserie.
2022 27 Jul
„Foreverandevernomore“
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Brian Eno, the last song album | 4 Comments
Brian Eno torna all’album cantato come non gli capitava da Another Day On Earth. Si tratta di FOREVERANDEVERNOMORE e, come possiamo intuire dal titolo, i riferimenti all’attuale emergenza climatica sono puramente voluti. Proprio come grevi sono i toni di There Were Bells, il primo estratto, brano su commissione scritto assieme al fratello Roger per l’Acropoli di Atene e presentato in un particolare giorno d’estate del 2021 con 45 gradi all’ombra e incendi imperversare non lontano dal luogo della cosiddetta “nascita della civiltà occidentale”.
»Wie jeder andere auch – nur die meisten Regierungen der Welt offenbar ausgenommen – habe ich über unsere prekäre, aussichtslos werdende Zukunft nachgedacht. Diese Musik ist das Ergebnis solcher Gedanken. Richtiger wäre zu sagen, ich habe darüber gefühlt und die Musik ist aus diesen Gefühlen entstanden. Denjenigen unter uns, die solche Gefühle kennen, ist klar, dass sich die Welt in einem rasanten Tempo wandelt und dass große Teile von ihr für immer verschwinden … daher der Albumtitel.
Das sind hier keine Propagandalieder, die einem das Denken und Verhalten vorschreiben wollen. Eher bin ich in den Songs meinen eigenen Gefühlen nachgegangen. Die Hoffnung ist, dass Ihr, die Hörerinnen und Hörer, sie als Einladung versteht, Eure Erlebnisse und Überlegungen zu teilen. Ich konnte mich lange nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass wir Künstler eigentlich Gefühlskrämer sind. Gefühle sind subjektiv. Die Wissenschaft geht ihnen aus dem Weg – schwer zu quantifizieren und zu vergleichen.
Aber ›Gefühle‹ sind der Ursprung von Gedanken und auch deren ständiger Begleiter. Bei Gefühlen reagiert der ganze Körper, noch bevor das Bewusstsein sich einschaltet, als blicke man durch einen Weitwinkel, der viel mehr wahrnimmt, als der Verstand bewusst registriert. Die Kunst ist der Ort, an dem wir beginnen, uns mit solchen Gefühlen vertraut zu machen, an dem wir sie uns vor Augen führen und aus ihnen lernen – lernen, was wir mögen und was nicht. Sie wird zum Ausgangspunkt für Gedanken, die zu Taten führen können.
Kinder lernen durchs Spielen; Erwachsene spielen durch Kunst. Kunst gibt uns den Raum, Gefühle ›zu haben‹, allerdings gibt es da einen Aus-Schalter: Ein Buch kann zugeklappt werden, eine Galerie verlassen. Kunst ist also ein sicherer Ort für unsere Gefühle – die glücklichen, aber auch die schwierigen. Manchmal geht es bei diesen Gefühlen um etwas, nach dem wir uns sehnen, manchmal um etwas, das wir meiden.
Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es nur eine einzige Hoffnung gibt, um unseren Planeten zu retten – wir müssen beginnen, ihm mit anderen Gefühlen zu begegnen. Vielleicht, indem wir uns erneut bezaubern lassen von dem Wunder des Lebens; vielleicht, indem uns mit Trauer oder gar Scham erfüllt, was wir bereits verloren haben; vielleicht, indem wir begeistert sind von den Herausforderungen, vor denen wir stehen, und den Möglichkeiten, die sich uns noch immer eröffnen könnten. Kurz gesagt, wir müssen uns neu verlieben, aber diesmal in die Natur, und auch das Menschenwerk, und unsere Hoffnung auf die Zukunft.«
Brian Eno
2022 26 Jul
Euphoria, die Zweite
Jochen Siemer | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Euphoria | 7 Comments
Wer meint, amerikanische Filme seien prüde, der hat Euphoria noch nicht gesehen. Junge nackte Frauen, die in den Pool kotzen, jede Menge Blut, jähe Gewaltausbrüche – okay, wer Quentin Tarantino kennt, die anarchischen Motorradrocker (sons of energy) oder Breaking Bad, der weiss: Tonnen von heinz tomato ketchup gehörten zur Staffage. Aber diese Menge an Penissen ist ist neu und arg gewöhnungsbedürftig dazu, weil: nicht jeder Mann’s Sache, ausgenommen natürlich das eigene Prachtstück. Immer wieder in den letzten Jahren, ja fast Jahrzehnten, konnte man feststellen, dass gewisse Fernsehserien Schallmauern durchbrachen: Dinge zeigten, die man so noch nicht gesehen hatte. Es hat sich also auch eine Art von Emanzipation innerhalb des Televisionären ereignet, indem gesellschaftliche Tabus thematisiert und ebenso überschritten wurden. Und auch das Formale hat damit Schritt gehalten: heutige Produktionen sind oft ein raffiniert synenergetisches Gesamtkunstwerk aus Erzählung, brillianten Bildern und Soundtrack. Vielleicht deshalb der grosse Hype um Euphoria, angeblich auf dem Podium der Publikumsgunst alleine noch von Game of Thrones verdrängt, was die Zuschauerzahlen betrifft. Nun ist dies aber keine Fantasy, eher Reality-TV, genau deshalb für unsereins der Grund, am Ball zu bleiben. Die Handlungsstränge sind, wie bei vielen anderen Serien auch, dabei gar nicht so wichtig. Vielmehr zeigt sich eine ureigene, stimmige Gesamtatmosphäre, die auch eine Tiefenschau von Seelen ist. Eine der Hauptfiguren, die irrlichternd schöne Jules, wird gespielt von Hunter Schafer, einer Transsexuellen. Als ich recherchierte, dass die junge Schauspielerin, aus gutem Hause kommend, der Vater Pastor, unter Dysphorie litt, googelte ich fragend, was das sei. Na klar: Dysphorie und Euphorie, live together in perfect … . Dysphorie als Alternative zur Depression wäre ein Wort, das passte für manche Hölle in Jugendtagen (oder später), auf der Suche nach Identität abseits repressiver Normen. Auf diesem gut gedünkten Boden gedeiht jegliche Empathie, die dann auch Treibstoff wäre, sich mit Figuren zu identifizieren, mit ihnen mitzugehen, mitzufühlen. Wer zudem die fiebrig energetische Faszination, Teil eines Schauspielteams zu sein, aus eigener Erfahrung kennt, wird sich im Schlussakkord dieser Serie bestätigt sehen: auch hier findet sich Euphorie. Und er wird sich einmal mehr wundern über all diese jungen Akteure, die so glaubhaft ihre Rolle spielen, als seien sie es selbst.
Dies ist ein Originalstuhl aus Tatis Restaurant im Film PLAYTIME. Es ist klar, dass der nicht bequem ist, dafür aber Abdrücke auf dem Rücken von Gästen hinterlässt, die für Tati filmisch herrlich nutzbar sind. Ich habe vor über 12 Jahren ausführlicher über Tati geschrieben, vor allem über seinen Einsatz von Ton-Asynchronizität und sein Einsatz von Musik zum und im Film. Ich muss das mal wieder raussuchen.
Tati hat fürs schwedische Fernsehen auch Vorläufer von Videoclips geschaffen. Reichlich Stoff, der noch immer aktuell ist. Z. B. auch Tatis Spiel mit den Socken von Hulot in PLAYTIME. Und: Tatis Film TRAFIC ist bei mir um die Ecke aufgenonmen worden (ich konnte damals nicht dabei sein, kenne aber Augenzeugen).
Grüsse, Henning
2022 24 Jul
Der Westcoast-Mythos
Jan Reetze | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Ingeborg Schober | 1 Comment
„Der Westcoast-Mythos — Eine leicht verklärte Erinnerung“, so hat Ingeborg Schober eine fünfteilige Serie überschrieben, die sie 1973 in Sounds veröffentlichte, der damals amtlichen deutschen Rockmusikgazette. Die Serie beruhte auf Interviews mit Bands, vielen Platten, Lillian Roxons „Rock Encyclopedia“ und vor allem dem Besuch vor Ort: in der Bay Area zwischen Berkeley und Los Angeles.
Diese Serie liegt nun wieder vor, kompakt als ein schönes, jackentaschengerechtes Büchelchen mit knapp 160 Seiten, herausgegeben von Gabriele Werth als eine Art Nachlieferung zu ihrem Schober-Sammelband „Die Zukunft war gestern“ (2021), und deutlich interessanter als es das Cover vermuten lässt. Es enthält neben Schobers Originaltext Faksimiles der Sounds-Seiten sowie zwei leicht gekürzte Kapitel aus ihrem Buch „Tanz der Lemminge“ (1979) über die Band Amon Düül II.
Ingeborg Schober war nicht nur die erste Frau, die es im damals wie heute männerdominierten Musikjournalismus zu Ansehen brachte, sondern auch eine, die einen eigenständigen, sofort erkennbaren Ton entwickelte, und wenn man diesen Ton kennt, fühlt man sich sofort zu Hause. Dass sie es mit Fakten nicht immer allzu genau nimmt, verzeiht man gern — so macht sie etwa Marty Balin zum Kanadier oder hört aus Songtexten falsche Zeilen heraus. Man muss im Kopf behalten, dass sie damals nicht auf das Internet zurückgreifen konnte.
Ihr Blick auf die Dinge ist deutsch. Nun kann man natürlich sagen: Klar, sie ist ja Deutsche, und ihre Leser degleichen, doch führt das gelegentlich dazu, dass sie deutsche Maßstäbe an amerikanische Gepflogenheiten anlegt, was dann zu falschen Einschätzungen führt. In manchen Fällen kennt sie auch einfach Infrastrukturen nicht; sie weiß zum Beispiel offenkundig nicht, wie Platten ins amerikanische Radio gelangen. Obendrein hält sie anscheinend die Bezeichnung „Frisco“ für besonders schnittig, dabei ist Frisco eine Kleinstadt in Texas, und in SanFrancisco hört man diese Verballhornung gar nicht gern (dort spricht man, wenn es schon kurz sein muss, von „SF“ oder schlicht „the City“).
Das ist aber alles Kleinkram, über den man schnell hinwegliest. Denn Ingeborg Schober hat die Gabe, die Atmosphäre jener Jahre und Gegend einzufangen und so wiederzugeben, dass man sie fast zu spüren glaubt — wie man natürlich auch sofort die alten Platten wieder ausgräbt oder den Streamingdienst seines Vertrauens auf Herz und Nieren prüft. Denn das ist klar: Der Westcoast-Mythos beinhaltete viel mehr Musik von viel mehr Bands als wir es heute noch wissen. Grateful Dead, Creedence Clearwater Revival, Janis Joplin with Big Brother & The Holding Company, CSN & Y, Blue Cheer, Sir Douglas Quintet, It’s A Beautiful Day, die Byrds, die Turtles, Buffalo Springfield, Country Joe & The Fish und viele mehr kommen vor, und ihre damalige Bedeutung wird ebenso eingeordnet wie ihre Vielfalt. Dass die meisten davon, heute gehört, dann doch nicht mehr so recht überzeugen, kann eine überraschende Erkenntnis sein. Liest man, wie wild sich Jim Morrison auf der Bühne aufgeführt haben soll (ja, der legendäre Vorfall wird erwähnt, auch wenn niemand weiß, ob er überhaupt stattgefunden hat), dann staunt man doch, wie friedlich eigentlich die Musik der Doors war. Man ist heute ganz anderes gewohnt. Deutlich wird auch, dass nur wenige dieser Bay-Area-Bands mit der musikalischen Kompetenz von Jefferson Airplane mithalten konnten, die deswegen auch quer durch das Buch immer wieder vorkommen.
Dass die Musiker — insbesondere Grace Slick, aber auch der anderen Bands — sehr zugänglich waren, in der Regel nicht herumzickten und von Fans jederzeit angesprochen werden konnten, ist ein Phänomen, das wir bei heutigen durchgetakteten und securitygeschützen Festivals nicht mehr kennen. Das war das eigentliche San Francisco. Dass damals das politische Geschehen im Umfeld der Bay Area, der Universitäten, der Bands und Jahre dramatisch überschätzt wurde, verwundert aus heutiger Sicht nicht — wie man auch manchmal darüber staunt, dass (auch von Ingeborg) bereits mittelgroße kommerzielle Erfolge als „beginnender Ausverkauf“ angesehen wurden. Als ob die Plattenindustrie jemals ein Wohltätigkeitsverein hätte sein können und/oder wollen. Im Normalfall aber hält Ingeborg Schober einfach als Chronistin fest, dass man das so sah, widerspricht aber auch nicht. Sie schreibt als Teil der Szene, die sie beschreibt.
Man hat das Buch an zwei Abenden durch, und man freut sich, dass es das alles mal gab und dass dieser Text jetzt wieder zugänglich ist. Ingeborg, wenn sie es wüsste, würde sich riesig darüber freuen — leicht verklärt.
Ingeborg Schober:
Der Westcoast-Mythos
Eine leicht verklärte Erinnerung
Herausgegeben von Gabriele Werth
Edition kopfkiosk im Verlag Andreas Reiffer, Meine 2022
ISBN 978-3-945715-76-5; 11,50 Euro