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Archives: Kris Davis

2021 20 Jul

Facettenreich

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Der Herr Professor ist bestens vorbereitet um den Epigonen eurozentrischer Musikkultur eine äußerst feine Lektion in der Entwicklung neuer ästhetischer Dimensionen zu erteilen. Diskret, leise, in wunderbaren Miniaturen und Duetten mit ausgewähltesten Mitstreitern. Schon seit Jahren arbeitet er auf dem Boden mikrototaler persischer Dastgah-Skalen und Inspirationen durch Ornette Coleman’s chromatische Matrizes an der Entwicklung einer postchromodalen Musik für deren Umsetzung auf Facets er die Stimmung eines Klaviers den exotischen Skalen anpassen ließ und sich dann Kris Davis, Tyshawn Sorey und Craig Taborn dazu holte, um in überwiegend improvisierten kleinen Stücken (einige basieren auf Stücken von Thelonious Monk) nur vermeintlich dissonante Klangräume zu ergründen, die mit allen europäischen Hörgewohnheiten brechen, fremd und doch zugleich vertraut wirken. In vielen Stücken spielt der Komponist Hafez Modirzadeh dann im Duett Tenorsaxophon mit den Pianisten, wobei er über eine eigens entwickelte Spieltechnik daraus auch mikrotonale und orientalische Melodiefiguren entlockt. Jedes der Stücke stellt eine spezielle Herangehensweise an die umgestimmten Skalen dar, mal in melodischer Weise, mal in Akkordclustern. Und nicht zuletzt wagt er sich, vielleicht auch um zu zeigen wie ernst es ihm ist an ein Stück aus J.S. Bach’s Goldbergvariationen heran und stellt es in einen verstörend neuen Kontext. Eine Herausforderung für den Hörer, die im Verlassen gewohnter Dimensionen aber mit vielen Kleinodien reich belohnt wird. Hafez Modirzadeh ist Professor für Weltkultur der Musik in San Francisco und dennoch klingt hier nichts in einem der innovativsten, facettenreichsten Alben dieses Jahres akademisch.

 
 

Am Samstagnachmittag, unsereins gerade auf dem Sprung, da bimmelt es. Nanu, zwei unbekannte Männer, ein bisschen so wie Asterix und Obelix, überreichen mir einen Prospekt. „Es geht um prinzipielle Fragen!“, sagt der vor dem Dinkelstein stehende, kleindrahtig, weisshaarig, altnazihaft wirkend. Freundlich entgegennehmend signalisiere ich, an weiterem Gedankenaustausch nicht interessiert zu sein und so endet die Begegnung im gegenseitigen Wünschen eines schönen Wochenendes. Soweit die kleine Overtüre. Im Fortgang folgt nun die gedankliche Pirouette, die Zeugen Jehovas mit dem Pianospiel von Kris Davis, ferner mit meiner Mutter und einer generellen Liebe zur Jazzmusik in Verbindung zu bringen.

Beim Hören des Stückes „Saturn Return“ aus dem Album Aeriol Piano jener geschätzten Pianistin kamen zwei Assoziationen auf. Es war zu der Zeit, als die öffentlichen Bibliotheken zu einem Pilgerort wurden und ein autodidaktisches Studium geisteswissenschaftlicher Gebiete ermöglichten: zur spannenden Lektüre gehörte auch das Buch Im Zeichen des Saturn von Susan Sontag. Symbolische Eigenschaften wie Lebensernst, Kargheit, Begrenzung und Angst wurden dort gewissen Denkern zugeschrieben, wie beispielsweise Emile Cioran und Walter Benjamin. Mehr noch aber erinnerte mich die von Davis vertonte Rückkehr dieses Sterns in ihrer Spielweise an einen Traum, den ich als Jugendlicher hatte.

Im elterlichen Wohnzimmer war mein Lieblingsplatz in der Ecke direkt neben dem Beistelltisch, auf dem das Röhrenradio und der Plattenspieler standen. Der weite Ausblick durch das grosse Fenster, über Felder und Höfe hinweg, hinab ins Flusstal, am Horizont die Waldböschung: das tat sein Übriges für ein gewisses „erhabenes“ Lebensgefühl. Der Grossvater sass mir schräg gegenüber. Wir hörten oft gemeinsam Marschmusik, eine Sendung im Radio, die für uns Kult war, uns in Ekstase trieb, Generationen übergreifend: ich marschierte fröhlich im Wohnzimmer umher, Opa lachte, drehte an seinem Hörgerät für den optimalen Sound. Für mich war Marschmusik stets der originäre Vorläufer des Rock´n Roll.

Es klingelt an der Tür. Ist es der Bäcker, der Drogerist, die wöchentlich vorbeikommen, hier auf dem Lande? Nein, oje: schon wieder die Zeugen Jehovas! Die Mutter öffnet die Haustür, will freundlich verständnisvoll abwimmeln. „Aber nein, es ist etwas für ihren Sohn. Es würde ihn erfreuen!“ Die offenherzige Mutter lässt sie ins Wohnzimmer und der Mann legt ein Holztablett auf den Tisch, zieht aus der Tasche eine dreieckige Papiertüte, ähnlich jener, in der man auf dem Bremer Freimarkt alljährlich gebrannte Mandeln kauft. Er schüttete den Inhalt aufs Tablett. Es sind goldenfarbene Heftzwecken, die auf dem Tablett zu tanzen beginnen und dabei Töne produzieren. Ich bin verblüfft und begeistert.

Diese tanzenden Heftzwecken waren dann ein beliebtes Motiv für erste surrealistische Malversuche, Daliesque und Tanguy-mässig, dargestellt vor weitem Horizont. Bis heute erinnern sie mich an die ungezügelte Freiheit tanzender Töne im Jazz und improvisierten Spiel. Auf der Gitarre entdeckte ich erst sehr spät die Lust und Fähigkeit, selbst auch annähernde Töne zu erzeugen. Viele Jazzpianisten, aber auch einige Gitarristen erwecken in mir diese Assoziation. Bei Kris Davis aber hat dieser Anschlag eine besondere Note. Die Musik ist frei ist von Botschaft, gänzlich unsentimental. Sie ist nicht spirituell, eher materiell, körperlich, spielerisch: stets Finten schlagend, Pirouetten drehend, Physikalität erzeugend.

 
Nein, jetzt nicht noch ein Poem … Später! Stattdessen: Klarinetten.
 
 
 

 
 
 
Schwer im Kommen. Aber abgesehen davon, mein Stapel an Scheiben wuchs und wuchs ja in den letzten Wochen. Wo anfangen? Nun, und gestern kam diese Scheibe, die mich im Nu in Gang setzte
 
 
 

 
 
 
Die zweite in kurzer Zeit mit reichlich schwarzen Tröten und Trötern, sechs an der Zahl. Die erste, die ich bekam, kam sogar auf acht mit gleich noch vier Kontrabässen und vier Schlagzeugen. Meine Güte!
 
 
 

 
 
 
Das klarinettische Doppeltrio war mir nicht ganz neu. Ich habe sie vorvoriges Jahr bei Jazzdor in Berlin spielen sehen. Wunderbar. Grossartig. Die Musik auf dem Album, von Meister Walter Quintus aufgenommen und endgefertigt, übertrifft das aber noch bei Weitem. Man sollte, ja man muss sich diese einfach zu Gemüte führen! Ein Erlebnis der fünfzehnten Art. Sechs Meister des Instruments, das es ja in reichlich Variationen gibt: Jürgen Kupke, Michael Thieke, Gebhard Ullmann, Armand Angster, Sylvain Kassap und Jean-Marc Foltz auf Bass-, Kontrabass, Alt-, EB- und B-Standardklarinette.
 
 
 

 
 
 
Meisterhaft aufgebaut die Stücke, verspielt, elegant, witzig, erstaunlich, eindrucksvoll in der Klangvielfalt und immer wunderbar ökonomisch. Diese versierten Sechs wissen genau, wo Barthel den Most holt. Von elektronisch klingenden Klangwolken und Soundscapes über herrliche Breukeriaden, zankende Krähen über tief rauschenden Abgründen bis hin zum alltäglichen Treiben im Reiche des Homo Sapiens einschliesslich schallendem Gelächter und Stimmengeschnatter, das sich letztendlich in Luft auflöst und in die Wolken entschwebt. Alles in wohlgesetzter Klangtheaterdramaturgie. Ein franko-allemagnierter Zweidreier, ein Sechser für Körper, Geist, Gemüt und Kopfkino. Hier die Titel (der neunte in Anspielung auf das archaische sardische Doppelrietinstrument, die Launedas):

Almost Twenty-Eight – Variationen über Rauch und Moder – Bizarre – FAK! – Charles Town, But Yesterday – Desert … Blue …East – Catwalk Münzstrasse – Itinéraire bis – Launedas – (Die) Laune das (macht was) – Keks ist Fortschritt
 
 
 

 
 
 
Das hochkarätige dänische Aufgebot des jungen Komponisten/Saxophonisten Niels Lyhne Løkkegaard kommt dagegen mit einer begrenzten wie gewagten kompositorischen Studie, Sikorsky, von 30 Minuten. Løkkegaard, der im letzten Jahr das wunderbare Klangwerk Vesper in die Welt setzte, fokussiert hier auf spezielle Klanginterferenzen in minutiös, langsam fortschreitender Emergenz im Bereich von Bassklarinette und Bb-Klarinette.
 
 
 

 
 
 
Das Ganze im Verein mit gestrichenen Kontrabässen und fein bearbeiteten Snares und Becken. Zuweilen offenbaren sich dabei faszinierende Klänge (irgendwo zwischen voller Kirchenorgel und elektronischem Feuerwerk), nur fehlt einem bisweilen der Halt im langsamen Fortschreiten in Zeit und Raum.
 
 
Kris Davis aus Brooklyn hat gerade ebenfalls ein Klarinettenwerk angekündigt. Man darf gespannt sein:
 
“ …something i’ve been pouring every ounce of energy into for the last 6 months and i’m hoping people will want to check out. My project for the Shifting Foundation featuring 4 bass clarinets (Ben Goldberg, Oscar Noriega, Joachim Badenhorst, Andrew Bishop) and Gary Versace on Organ, Nate Radley on guitar, Jim Black on drums, and myself on piano will perform at Roulette on January 6th (and then record the next two days).”
 
 
Ach, und zum Abgewöhnen und Ausklang noch eine Klarinettenscheibe: Afar, von dem französischen Doumka Clarinet Ensemble. Drei Klarinetenspieler auf vier verschiedeen Klarinetten plus ein Bassist/Gitarrist und ein Perkussionist. Sie spielen ein wunderbare Form von Ersatzmusik (Klarinette als Ersatz für Vokal und Bass als Ersatz für Ûd). Flamenco, Andalusische Musik und eine Menge weiteres Orientalisches. Sie machen das gut und man kann es gut haben, was und wie sie spielen. Schöne dunkle Klangfarben zusammen mit der Stimmigkeit der hohen Klarinettentöne. Die Klarinette hat eine viel grössere Nähe zur menschlichen Stimme als das Saxophon, das urbaner und automobiler klingt.
 
 
 

 
 
 
Photos Double Trio de Clarinettes © FoBo – Henning Bolte ©

Während ich eine Film-Noir-Szenerie um das spezielle Vinyl-Album des dänischen Pianisten Simon Toldam imaginierte (Sunshine Sunshine or Green as Grass), und zu Papier, sprich tastend auf den Bildschirm brachte und als Dokument ablegte, schlug kurz darauf in meinem Haus in Amsterdam die wirkliche Wirklichkeit zu. Am Tage der hiesigen Krönungsfeierlichkeiten, die sich letzte Woche eine Viertelstunde entfernt von meinem Haus abspielten, herrschte hier im Viertel eine erstaunliche Stille und Ruhe. Bis auf zwei nordafrikanische Jugendliche, die etwas sehr auffällig damit beschäftigt waren, Einblick in mein Haus zu bekommen. Kein angenehmes Gefühl.
 
 
 

 
 
 
Am Abend drauf ging ich zu einem Konzert ins Bimhuis, das nach dem vortäglichen Budenzauber wieder zugänglich war. Ins Bimhuis, eben besagte Viertelstunde entfernt. Im Bimhuis an diesem Abend ein Konzert mit dem Trio der New Yorker Pianistin Kris Davis (mit dem Bassisten John Hébert und dem Schlagzeuger Tom Rainey).
 
 
 

 
 
 
Eigentlich wollte ich ziemlich bald nach Ende des Konzerts nach Hause gehen, aber dann ergab sich ein Gespräch mit Kris, die hochschwanger ist. Wir kennen uns von Begegnungen in Lissabon und von der von mir betreuten Amsterdamer Serie, in der Kris im letzten Jahr ein Soloprogramm gespielt hat. Ich nahm gerade den letzten Schluck Wein als das Telefon ging. Zu spät aufgenommen, ein gesprochener Bericht von der Polizei, dass bei mir eingebrochen sei. Schock und natürlich wusste ich sofort, wer es war und worauf sie es abgesehen hatten. Den nicht zu übersehenden iMac! Ansonsten gab es ja nichts, was Diebe interessieren könnte. Panik und in Windeseile zu meinem Haus. Im deutlichen Bewusstsein, dass die Arbeit der letzten eineinhalb Jahre, die auf dem iMac stehen, nun wohl verloren waren.

Bei Ankunft der echte Schock. Die Diebe hatten einen kapitalen Bordstein durch die doppelglasige Verandatür geschmissen, um sich Zugang zu verschaffen, die Beute zu greifen und zu verschwinden. Durch den Knall war der Nachbar aufmerksam geworden und eilte umgehend an den Ort des Geschehens, verfolgte die flüchtenden Täter, musste sie aber laufen lassen.
 
 
 
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Glasreparatur mitten in der Nacht, Spurensicherung, Versicherung, Gespräche mit der Nachbarschaft, wenig Schlaf. Sehr eingreifendend, ziemlich von der Rolle, wütend, empört, Gefühl von Machtlosigkeit, traurig, niedergeschlagen. Gleichzeitig aber auch den Handschuh aufgreifen. Wechselbad der Gefühle! Wie den Gedanken aushalten, dass die jugendlichen Diebe den iMac umgehend beim Boss abliefern, kleinen Betrag kassieren und der Inhalt auf dem iMac dann schlicht weggeschmissen wird, damit die Maschine von den Hehlern in Osteuropa oder Afrika verkauft werden kann.
 
 
 
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Ja, in der Wirklichkeit angekommen. Willkommen! Derzeit booming business mit gestohlenen iMacs. Nach oben schiessende Einbruchszahlen. Ganze Büros, einschliesslich die von Apple selbst, sind schon leergeräumt worden. Am Krönungsnachmittag war es im Viertel zwar herrlich still, aber auch die Einbruchszahl schossen extreme in die Höhe! Der ganze Zirkus um die Krönung war übrigens von dem Musicalproduzenten Joop van den Ende (früher Teil von Endemol) Szene gesetzt und finanziert. Wenn das kein Musikbusiness und keine Kultur ist! Gut, oder nicht gut! Aber nicht abschweifen!

Alles Mögliche schiesst mir durch den Kopf: die Manuskripte für Radiosendungen, Interviews, Buchhaltung, Konzepte für Artikel, Quellensammlungen … Was davon ist noch wiederzufinden? Und was kostet das alles an extra Zeit? Schwer zurückgeworfen! Auf der anderen Seite der Gedanke: es wird sich zeigen müssen, was nun wirklich unentbehrlich und kostbar ist. Und der Gedanke: erst mal wieder zurück zum Kern statt in der elektronischen Überfülle zu baden. Beides muss seinen Platz kriegen, ins Gleichgewicht kommen. Zum Kern zurück, mit weniger auskommen auf der einen Seite, und mühsame Rekonstruktion in Fällen, wo’s nicht anders geht, auf der anderen Seite. In anderen Modi funktionieren. Alles aus dem Gleis. Langsames Zurückfinden, Einfinden.

Und bei Neuausrüstung bleibt nichts anderes übrig als iMac mit Stahlseil befestigen und TimeCapsule-Apparat für schnurfreies Backup, den man wegschliessen kann. Und besonders empfindliche Sachen in die Wolke oder Dropbox.

Arbeite jetzt – hier und da sitzend – auf MacBook Air. Ein paar wichtige laufende Sachen befinden sich zum Glück darauf, wodurch ich dies jetzt auch in Manafonistas einstellen kann. An meinen verwüsteten Schreibtisch zurückkehren geht einfach noch nicht.


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