Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Author Archive:

2023 11 März

At The Warhol

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: , | 1 Comment

 

 

 

Derzeit in Pittsburgh: Auf zwei Etagen die Geschichte von Andy Warhols Interview-Magazin und anderen Medienaktivitäten.

Hier zum Beispiel eine Ausgabe mit Isabelle Adjani auf dem Cover — links das geklebte Layout, rechts das gedruckte Cover:

 

 

 

 

 

Interview wurde gegründet von Andy Warhol und dem englischen Journalisten John Wilcock und erschien ab 1969 alle zwei Monate, auch genannt „The Crystal Ball of Pop“. Ab 1972 wurden die meisten Coverfotos von Richard Bernstein geschossen, sie haben einen erkennbaren Stil, der dem magazin eine gewisse Einheitlichkeit gab. Die Ausstellung zeigt in drei Räumen alle Ausgaben, die zu Andys Lebzeiten veröffentlicht wurden, also alle bis 1987. Leider nur unter Glas, aber anders geht es wohl nicht

 

 

 

Es gibt das Magazin noch immer, eine große Rolle spielt es allerdings heute eher nicht mehr.

 

 

 

 

Nichtsdestotrotz, die Hefte, die ich noch besitze, bleiben im Archiv und wandern nicht ins Altpapier:

 

 

 

 

Warhols TV-Experimentierereien, „Warhol TV“ und „Warhol’s Fifteen Minutes“, stehen heute teilweise online. Die diversen Portraits, viele davon Auftragsarbeiten, die Andy für 10.000 Dollar anfertigte, sind natürlich als Poster hinlänglich bekannt. Man ist trotzdem verblüfft, wenn man vor dem originalen Siebdruck steht und erkennt, dass sie wirklich Einzelstücke mit dicken Farbschichten sind.

 

Ab Mai gibt es eine Ausstellung zu Velvet Underground & Nico. Mehr dazu dann; ich bin gespannt.

 

Damit schöne Grüße aus dem „Silver Clouds“-Raum des Museums. Immer wieder schön, mit den Dingern zu spielen.

 

 

 

2023 27 Feb.

Schilleroper

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 4 Comments

 
 

Lilli:
Entsinnst du, wie der Elefant gestorben ist?

Max:
Das weiß ich noch, ja.

Da habe ich dagestanden, wie sie ihn auseinandergeschnitten haben,
damit sie ihn aus dem Hof rauskriegten.

 
 
Lilli Rober und ihr Bruder Max. Bis 1908 sind die beiden im Ensemble, sie als Tänzerin, er als Schauspieler und Wasserpantomime. Als die Stiefmutter Lilli wieder einmal mit dem Feuerhaken verprügelt, reißt Max nach Amerika aus.

Eine von vielen Geschichten um die Schilleroper in Hamburg.

 

 

1890. Das markante Rundgebäude wird als stationärer Zirkus mit 1000 Plätzen errichtet, mitten zwischen überbevölkerten Hinterhöfen, Passagen- und Terrassenwohnungen im cholerageplagten Altona, das damals noch zu Dänemark gehört. Eine Gegend, in der die Miete mit dem Revolver kassiert wird. Stahlgerüst, Wellblechwände, Pappdach, die Baukosten betragen 38.000 Mark. Betrieben vom Wanderzirkusunternehmer Paul Busch ist der Zirkus die Antwort Altonas auf die Konkurrenz, den einen knappen Kilometer Luftlinie entfernten Circus Renz in Hamburgs Rotlichtbezirk St. Pauli. Der Bau ist auch ein direkter Affront des Altonaer Magistrats gegen den übermächtigen Nachbarn Hamburg.

2016 habe ich das Gebäudeensemble zuletzt gesehen. Der Rundbau mit seinen teils ein-, teils zweistöckigen Nebengebäuden liegt im Schnittpunkt von St. Pauli, Karolinen- und Schanzenviertel, wenn auch von diesen abgetrennt durch zwei der dicksten Verkehrsadern Hamburgs. Für Stadtplaner gleichwohl eine Top-Lage, ein Filetstück mitten in einem hochverdichteten Wohngebiet, dessen Einwohnerschaft allerdings noch immer allergisch auf unerwünschte Eingriffe reagiert hat – die berühmt-berüchtigte „Rote Flora“ ist nur einen Katzensprung entfernt. Die Stahlkonstruktion der Rotunde gilt als Beispiel frühindustrieller Tragwerksarchitektur, deshalb ist das Gebäude geschützt. Der Gebäudekomplex darf nicht betreten werden, es besteht Einsturzgefahr, zudem kann man, wenn man nicht aufpasst, in ungesicherte alte Abflussrohre treten. Nachts spielen hier die Ratten Billard, die Nebengebäude, in denen sich zeitweilig einige Kleingewerbetreibende niedergelassen hatten, stehen jetzt leer und sind vernagelt. Niemand weiß, was mit der Schilleroper passieren soll. Im Prinzip scheinen die Besitzer darauf zu warten, dass das Stahlgerüst von selbst zusammenbricht. Ein Schelm, wer dahinter Absicht vermutet.

 

 

Um 1900 erhält der Circus Busch eine weltweit einmalige Sensation: eine Manege, die hydraulisch abgesenkt und geflutet werden kann. Man spielt eine Wasserpantomime namens „Sibirien“ und lässt zwölf Eisbären aus der Kuppel auf einer Rutsche ins Wasser platschen. Zwischen den Vorstellungen stehen die Eisbären auf einem Schrottplatz in der Nähe. Der Autoverwerter, dem der Platz gehört, existiert noch heute.

1905 schließt der Circus Busch seine Pforten und zieht nach St. Pauli in den Circus Renz. Der Architekt Ernst Michaelis übernimmt das verlassene Haus und baut es zu einem Theater mit 1400 Plätzen um. Zur Eröffnung spielt man Schillers „Was ihr wollt“. Die Bühnenarbeiter des Schiller-Theaters, wie das Haus seitdem heißt, kommen aus der Nachbarschaft – Werftarbeiter, für sie ein Nebenverdienst, den sie gut gebrauchen können. Lilli Rober tanzt mit dem später populären Stummfilmdarsteller Lupu Pick den Cakewalk, man spielt niederdeutsche Komödien, Sittenstücke und zu Lokalrevuen umgearbeitete Klassiker. Aus einer solchen Revue geht der Hit „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ hervor. Ein 21-jähriger Nachwuchsschauspieler, den man vom Hamburger Operettenhaus abgeworben hat, wird damit zum lokalen Star, ein gewisser Hans Albers:

 

 

Der Hamburger Dichter Robert Walter wird Dramaturg. Er nimmt heitere und ernste Stücke ins Programm, gern auch Patriotisches. Im Sommer, wenn die Hamburger Staatsoper Ferien hat, heuert er deren Musiker an und lässt Opern spielen, aber auch für artistische Shows und Ringkämpfe ist man sich nicht zu schade. Das Gebäude lässt das alles zu.

Dies alles vermischt sich mit dem Leben ringsum. Die Kulissenmalerwerkstatt ist die Straße, der nahegelegene Kohlenhändler kümmert sich um die Tiere, die auf der Bühne eingesetzt werden, die Komparserie stammt aus der unmittelbaren Nachbarschaft, ebenso wie die Kinder, die fürs Weihnachtsmärchen benötigt werden. Klempnermeister Willy Küker entzündet nicht nur allabendlich das Gaslicht im Haus, sondern betreibt auch die Theaterkneipe, in der seine Frau den Theaterleuten, Musikern, Artisten und Nachbarn Bier, Kartoffelsalat und Eintopf serviert. Die Klempnerei liegt um die Ecke, sie existiert noch.

 

 

Im Ersten Weltkrieg werden Benefiz-Veranstaltungen für gefallene Offiziere gespielt und treffen sich hier illegal die örtlichen Sozialdemokraten. 1917 übernimmt Hans Pichler das Haus, der Schwiegersohn des Schauspielhaus-Direktors. Von dort wird er auch unterstützt. Trotzdem geht Pichler 1921 pleite. Das Haus wird kurzfristig vom Altonaer Stadttheater mitbespielt. 1922 hat in der nahegelegenen Flora die Revue „Wie steht der Dollar?“ Premiere. Sie ist so erfolgreich, dass Flora-Direktor Max Ellen sie im leerstehenden Schiller-Theater weiterspielen lässt und die Leitung des Hauses übernimmt.

Bis zum Beginn der Nazi-Ära bietet das Schiller-Theater nun alles, was man als „die Zwanziger Jahre“ im Kopf hat. Freche Revuen mit Batterien dressierter Tänzerinnen gibt es ebenso wie Klabunds „Kreidekreis“, Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ oder Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – Stücke, die in direkter Konkurrenz zu Erich Ziegels Hamburger Kammerspielen mit ihrem Publikumsliebling Gustaf Gründgens stehen. Spuren davon finden sich später in den Büchern Klaus Manns – real („Der Wendepunkt“) und halbfiktiv („Mephisto“). Auch Laienspielgruppen der Arbeiterbewegung nutzen die Bühne. Gegen Ende der 20er Jahre kommt es in dem prinzipiell roten Viertel um das Theater herum zunehmend zu Zusammenstößen zwischen SA und Kommunisten, gelegentlich zu Schießereien. Einige Einschusslöcher sieht man noch.

 

 

1933 wird unter einem Vorwand der jüdische Direktor Max Ellen entlassen. Nach einem Umbau heißt das Gebäude nun „Oper im Schiller-Theater“ oder kurz: „Schilleroper“. Zur Eröffnung gibt man den „Freischütz“. Man versucht zu lavieren: Einerseits spielt man „Der Wanderer“, ein Stück von Joseph Goebbels, andererseits wird Musik von Ernst Krenek oder Paul Hindemith aufgeführt, Franz Lehár dirigiert selbst die Premiere seiner „Giuditta“.

1939, mit dem Stück „Sonnenstrahl im Hinterhof“, endet die Theatergeschichte der Schilleroper. Sie wird geschlossen, weil keine Luftschutzräume vorhanden sind. Im Gebäude werden Kriegsgefangene untergebracht, später dann ausgebombte Familien aus der Nachbarschaft. Bombentreffer tun ein Übriges.

Die Schilleroper wird nach Ende des Krieges nicht wieder als Theater in Betrieb genommen. Sie dient vorrangig als Lagerraum und Garage. 1951 richten Motorradartisten die Rotunde für eine Steilwandnummer her, danach passiert lange nichts mehr. In den 60er Jahren beherbergt die Schilleroper kurzfristig ein Hotel, später werden dort „Gastarbeiter“, wie man sie nennt, von der Werft Blohm & Voss untergebracht. In den 70er Jahren gibt es einige Brandstiftungen und kurzfristig zieht ein Kulturverein ein. Für die Spielzeit 1980/81 möchte das Deutsche Schauspielhaus die Schilleroper als Ausweichbühne nutzen. Statt dessen ziehen wiederum ausländische Arbeiter in die Nebengebäude ein, im ehemaligen Foyer eröffnet ein italienisches Restaurant. Das wird bald wieder geschlossen – wegen verbotenen Glücksspiels.

 

 

Immer wieder werden seither neue Nutzungspläne entworfen und wieder verworfen – weitere Zirkuspläne, ein Musikclub, ein Kino, ein Haus für Swing-Musikpartys. Nichts davon wird realisiert, es werden Asylbewerber einquartiert. 2008 zeigt Bernhard Paul vom Circus Roncalli Interesse, das Gebäude zu mieten. Man lässt ihn abblitzen. Die um die Rotunde herum liegenden Gebäude — frühere Künstlergarderoben, Büros etc. — werden zeitweilig von Kleingewerbetreibenden genutzt.

 

 

Es bildet sich eine Anwohnerinitiative, die das Gebäude auf sozialverträgliche Weise reaktivieren will. Der Stadtplaner Jo Claussen-Seggelke legt einen Plan vor, aber die Eigentümer wechseln wiederholt. Derzeit gehört das Gelände einer Objekt-GmbH, der Geschäftsführer ist ein Rechtsanwalt. Niemand weiß, wer tatsächlich hinter dieser Firma steht.

Und das Gebäudeensemble verfällt, weiter und weiter.

 

 

2021. Man weiß inzwischen, wer die Eigentümerin ist. Sie tritt selbst nie in Erscheinung, aber irgendwie gelingt es ihr immer wieder, die Vorgaben des Bezirksamtes nicht zu erfüllen — oder sie so zu erfüllen, dass der Verfall des Ensembles weitergeht. Die Gebäude sind schließlich nicht mehr zu retten. Die Eigentümerin lässt sie abreißen. Wie nicht anders zu erwarten, lässt sie auch das Hauptgebäude weiter verrotten, mit dem Argument, es stehe ja nur das Stahlgerüst unter Denkmalsschutz. Das Bezirksamt findet keinen Weg, dagegen vorzugehen. 2022 schließlich lässt die Besitzerin sämtliche Gebäudeteile abreißen; es steht wirklich nur noch das nackte Stahlgerüst.

 

 

Das ist der traurige Rest. Mit dem kann nun niemand mehr etwas anfangen, und man benötigt nicht viel Fantasie, um sich ausrechnen zu können, wie lange die Stahlkonstruktion dem Wetter noch ungeschützt standhalten kann. Das Bezirksamt sollte sich selbst anzeigen — wegen Dummheit im Dienst.

Was bleibt, sind Fotos und Erinnerungen, die Dissertation von Anke Rees

 

 

sowie ein schönes Buch und ein dazugehöriger Dokumentarfilm von Horst Königstein, gedreht 1980.

 

 

Den Film sollte der NDR einmal wieder aus dem Archiv holen. Das Buch findet man gelegentlich noch gebraucht.

2023 19 Feb.

[AT10] Asmus Tietchens: Litia

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 1 Comment

 
 
Weiter geht’s mit Tietchens. Farbenfroh und knallig, nicht nur optisch, sondern auch akustisch: Litia, 1983 erstmals erschienen und letzter Teil der Sky-Records-Episode. Es spielt wiederum das Zeitzeichenorchester, welches nach wie vor aus Anagrammen des Meisters besteht.

Man merkt der Platte an, dass sie eine Art Pflichterfüllung darstellt, und ich halte sie für die schwächste der vier Sky-Alben. Das heißt aber nicht, dass sie etwa schlecht wäre; wer die anderen drei Alben der Serie mochte, wird sich auch mit dieser anfreunden können. Zwei neue Instrumente sind zu verzeichnen, ein Korg Polysix und eine programmierbare Rhythmusmaschine namens MFB-521, über die Tietchens schreibt, seine ursprüngliche Faszination sei bald der Ernüchterung gewichen. (Dieses Ding hatte ich einmal selbst, es war billig, aber kompliziert zu bedienen, ließ sich nur auf Umwegen mit meinem sonstigen damaligen Equipment synchronisieren und gehörte klanglich in die Abteilung „Klopfgeist“. Ich habe das Gerät nach ein paar Wochen wieder verkauft. Auch bei Tietchens taucht es später nicht wieder auf.) Mit diesen Geräten sowie einem verwaschen klingenden Hallgerät produziert Tietchens stark rhythmusorientierte Klanglandschaften, tragfähige Melodien sind hier vergleichsweise selten zu hören. Es ist unüberhörbar, dass sich Tietchens bereits vestärkt mit Industrial befasste, doch dafür war Sky-Chef Günter Körber nicht zu begeistern. So blieb Litia die letzte Sky-Veröffentlichung.

Es scheint ein wenig merkwürdig zu sein, dass die vier Sky-Veröffentlichungen stets als eine Art „eigenständige Werkgruppe“ gesehen werden, aber hört man sie im Kontext mit Tietchens‘ weiteren Platten, dann wird deutlich, dass sie tatsächlich eine solche bilden. „Poppiger“, wenn man das überhaupt so sagen kann, ist Tietchens nie geworden — wenn überhaupt, dann wäre an die Aroma-Club-Veröffentlichungen zu denken. Aber die sind von hier aus gesehen noch einige Jahre entfernt; die Reihe begann im Jahr 2000.
 
 

 
 
Die 10-inch-Platte Rattenheu, erschienen 1996 auf dem Hamburger Label The Bog, enthält fünf Stücke, die für die Sky-LPs keine Verwendung gefunden hatten. Sie stehen diesen qualitativ in nichts nach.
 
 

 
 
Litia wurde 2004 auf dem Bremer Label Die Stadt als CD wiederveröffentlicht. Diese Version enthält die fünf Rattenheu-Titel als Bonustracks, allesamt wunderfeinst klangrestauriert und mit Liner Notes vom Meister selbst versehen.

Bliebe noch auf Der fünfte Himmel hinzuweisen, 2014 auf Bureau B erschienen. Hier sind neben den Rattenheu-Titeln noch sieben weitere Stücke versammelt, die in die Sky-Reihe gehören würden. Diese waren allerdings bereits als Bonustracks über die Stadt-Wiederveröffentlichungen der Sky-Serie verteilt.
 
 

 
 

Litia
– Sky Records; Sky 087 (1983)
– Die Stadt; DS 80 (2004)
Rattenheu
– The Bog; Bog 003 (1996)
Der fünfte Himmel
– Bureau B; BB 156 (2014)

 

2023 9 Feb.

(Heart) Breaking News

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments

 

Wenn jemand mit 94 geht, kann das nicht mehr wirklich überraschen. Trotzdem …

Bye bye, Burt Bacharach.

 

 

Wenn es eine Band gibt, die mich in den Japan-Pop eingeführt hat, dann war es das Yellow Magic Orchestra. Deren Drummer und Sänger Yukihiro Takahashi hat sich heute verabschiedet.

Zu sagen, der Mann konnte es an Präzision mühelos mit Jaki Liebezeit aufnehmen, wäre fast noch untertrieben. Neben den Alben mit YMO hat Yukihiro auch etliche Soloplatten hinterlassen. Neuromantic von 1981 sei besonders empfohlen; Mitwirkende darauf sind neben den YMO-Kumpanen Ryuichi Sakamoto und Haruomi Hosono u.a. Andy Mackay und Phil Manzanera.

 
 

 

Bye bye!

 

2023 2 Jan.

Phrasen 2022

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 8 Comments

 

Und hier wieder die jährliche Blütenlese der Wörter aus hauptsächlich deutschen Medien, die verkleistern, nerven, schönfärben, nicht das meinen, was zu bedeuten sie vorgeben, deren Bedeutung keiner mehr versteht oder die einfach nur Mode und schiefe Metaphorik sind — Jahrgang 2022:

 
 

Narrativ
auf Augenhöhe
plant-based
Funktionsjacke
Brücken bauen
die Schönen und Reichen
Exzellenzinitiative
an der nuklearen Eskalationsspirale drehen
Spagat
kein Einzelfall
Zerreißprobe
tief gespalten
hofieren
Decider
Brandbrief
Komfortzone
krachend durchfallen
Legende / legendär / legend
völlig falsches Signal
Game Changer
Bürgergeld
cosmic nursery
zum Anfassen
genial
Sozialtourimus
händeringend suchen
X ist das neue Y
Ohne X hätte es Y nie gegeben
bleibt abzuwarten
frischgebackene Mutter
Kuh vom Eis holen
kräftiger Schluck aus der Pulle
immer mehr
immer weniger
toxisch
Achtsamkeit
Werte
Wertschätzung
Kompetenzzentrum
Kompetenzteam
technologieoffen
Respektrente
Regenbogenportal
Deckel
Mietendeckel
Gaspreisdeckel
Gaspreisbremse
Rettungsschirm
Entlastungslücke
Wumms
Doppel-Wumms
Resilienz
geboostert
-Innen
sich entschuldigen
einpreisen
kühles Nass
Schuss nicht gehört
Vordenker/Vordenkerin
kausal beteiligt
Was macht das mit Ihnen?

 
 

Was immer es mit Ihnen macht, nächstes Jahr geht es weiter. Das können Sie schon mal einpreisen.

 

 

 

Bye bye, Manuel … You will be missed.

 

Dieses Prinzip funktioniert so: Der Anfang einer Geschichte muss stimmen und für die Zuschauer/-hörer nachvollziehbar, im günstigen Fall überprüfbar sein und mit ihrem Wissen übereinstimmen. Personen und Schauplätze müssen wiedererkennbar sein, idealerweise wirklich, zumindest aber als Idee. Nun kommt aber die Phantasie hinzu. Sie liefert den Grund, aus dem die Geschichte überhaupt erzählt wird, und dazu reichen Tatsachen allein nicht aus. Die Geschichte geht weiter, steigert sich, ist eigentlich bereits eine Lüge, aber bleibt immer der Wahrheit so ähnlich, dass man weiter dranbleibt, ohne das Gefühl zu haben, dass man hochgenommen wird.

Der Regisseur und Autor Edgar Reitz hat dieses Prinzip von seinem Großvater gelernt, der ein begnadeter Geschichtenerzähler gewesen sein muss. Das Großvaterprinzip zieht sich nicht nur durch Reitz‘ Filme, sondern wie ein roter Faden auch durch Filmzeit, Lebenszeit, Edgar Reitz‘ Erinnerungen, die er sich und uns als Klotz von 670 Seiten zu seinem 90. Geburtstag spendiert hat.

 

 

 

 

Ich will mal nicht unterstellen, dass Reitz das Großvaterprinzip auch auf seine Erinnerungen angewandt hat, obwohl man ja weiß, dass nirgendwo so viel gelogen wird wie in Autobiografien, oder in Tagbüchern, die bereits mit Sicht auf eine spätere Veröffentlichung verfasst worden sind. Reitz war Dokumentar- und Werbefilmer und gehörte zu den Protagonisten des Slogans „Papas Kino ist tot“, der die Oberhausener Kurzfilmtage 1962 in dauerhafte Erinnerung brachte. Er gehörte zu den Begründern des „Autorenfilms“, dessen Idee war, dass die Arbeitsvorgänge des Drehbuchschreibens, der Regie und der Produzententätigkeit in eine Hand gehören sollten. Dass das nicht immer funktioniert, wurde schnell offensichtlich, weil dazu jeweils unterschiedliche Talente gehören, die keineswegs notwendigerweise immer zusammen auftreten. Aber die Bewegung enstand, und Reitz war ein Teil davon. Interessant ist die Reaktion der damals etablierten Autoren — Walser, Grass, Bachmann & Co. — auf deren Auftreten: Arroganz und Wut wäre noch freundlich ausgedrückt. Sie sahen Film nicht als Kunstform, sondern noch als Jahrmarktsvergnügen an. Mit solcherart Bräsigkeit hatten Reitz, Kluge, Fassbinder etc. immer wieder zu tun.

Hauptsächlich wurde Reitz aber durch seine monumentale Heimat-Trilogie bekannt. Die Arbeit daran nimmt denn auch den größeren Teil des Buches ein. Jeder, der die drei Filmreihen gesehen hat (ich mag sie nicht als „Serien“ bezeichnen, obwohl sie das faktisch sind), hat natürlich zumindest geahnt, dass Reitz da viel Autobiografisches eingebaut hat. Die Autobiografie legt nun offen, wie viel das tatsächlich ist — man nimmt es einerseits mit Erstaunen, aber ebenso auch mit leisem Erschrecken wahr. Aber genau das ist in der Tat das Großvaterprinzip. Es ist das, was diese Filme bei aller gelegentlichen Verdrehtheit packend und glaubwürdig macht. Bei Reitz kommen die genannten Talente tatsächlich zusammen: Er ist nicht nur ein hervorragender Regisseur, nicht nur ein guter Produzent, der für seine Projekte die richtigen Leute findet, sondern er ist auch ein großartiger Geschichtenerzähler, der seine Storys zu Papier zu bringen weiß. Langeweile tritt in dem Buch nur dann auf, wenn sich Reitz allzu offensichtlich selbst auf die Schulter klopft — ein bekanntes Autobiografienphänomen, aber hier ist es auszuhalten.

Die Arbeit an der Trilogie ist eine Abenteuergeschichte. Insbesondere schüttelt man den Kopf über das Verhalten gewisser Fernsehverantwortlicher, denen es gelungen ist, die Heimat-Filme durch ungeschickte Platzierung im Programm (Die Zweite Heimat) und Kürzungsforderungen, die einem die Haare zu Berge treiben (Fernsehfassung von Heimat 3) in den Sand zu setzen — und dann noch Reitz öffentlich die Schuld am angeblichen „Misserfolg“ in die Schuhe zu schieben, während die Filme von der Presse wie vom Publikum weltweit enthusiastisch bejubelt wurden. Nun ja, schon Tucholsky sah diese Redakteursspezies als Leute, die auf ihren Stühlchen sitzen und in erster Linie Angst haben — Leute, die nicht ansatzweise könnten, was Autoren, Regisseure und Schauspieler leisten, aber über die Macht verfügen, den Daumen zu heben oder zu senken und deshalb glauben, sie seien von auch künstlerisch von Bedeutung. Es ehrt Reitz, dass er sich verkneift, die Betreffenden mit ihrem Namen zu nennen. (Ich will es hier auch nicht tun, aber jeder, der die deutsche Fernsehlandschaft der 1980er und 1990er Jahre kennt, weiß, wer gemeint ist.) Umso mehr staunt man über die unendliche Geduld, mit der Reitz an seinem Werk gearbeitet hat. Und weshalb er den Nachzügler Die andere Heimat vorrangig als Kinoprojekt ohne Fernsehhilfe gemacht hat.

Filmzeit, Lebenszeit ist exzellent geschrieben, und auch, wenn man einige Dinge vielleicht so genau dann doch nicht wissen wollte, jede Leseminute wert. Danke, Großvater.

2022 6 Dez.

Die Top 2022 aus Pittsburgh

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 5 Comments

 

1. Daniel Lanois: Player, Piano
2. Klaus Schulze: Deus Arrakis
3. Brian Eno: Foreverandevernomore
4. Esbjörn Svensson: Home.S
5. Björk: Fossora
6. Michael Wollny Trio: Ghosts
7. Stromae: Multitude
8. Wolfert Brederode, Matangi Quartet, Joost Lijbaart: Ruins & Remains
9. Steve Reich: Reich/Richter
10. Creedence Clearwater Revival: At Royal Albert Hall, April 14, 1970

 

Auch gut:

Weyes Blood: And In The Darkness, Hearts Aglow
Roger Eno: The Turning Year
Gong: Pulsing Signals
Jean-Michel Jarre: Oxymore
Geir Sundstol: The Studio Intim Sessions, Vol. 1

 

Wiederentdeckt:

 

 

Anouar Brahem: Blue Maqams (2017)
Redbone: Very Best (1991)
Yukihiro Takahashi: Neuromancer (1981)
V.A.: Festival Express (Film, 1970)

 

Die Doppel-DVD „rockumentiert“ die Tournee etlicher Gruppen durch Kanada, die 1970 stattfand: Grateful Dead, Janis Joplin, The Band, aber auch Acts, die heute so gut wie unbekannt sind, etwa Buddy Guy, die Flying Burrito Bros, Ian & Sylvia’s Great Speckled Bird, Mountain, Delaney & Bonnie & Friends. Das ist fast interessanter noch als der Woodstock-Film, wie erleben hier nicht nur die Konzerte, sondern auch die Zugfahrt von einem Festivalort zum jeweils nächsten. Dazu gibt es heutige Statements von einigen der beteiligten Musiker, auch dem Veranstalter.

Redbone habe ich kürzlich durch Zufall wiedergehört — „The Witch Queen Of New Orleans“ haben wir vermutlich noch alle im Ohr, aber das war durchaus nicht alles, was die Jungs draufhatten.

Yukihiro Takahashi war der Drummer des Yellow Magic Orchestra und konnte es an Präzision mit Jaki Liebezeit aufnehmen. Neuromancer ist ziemlich dicht am YMO-Sound, aber kein Abklatsch.

Und Anouar Brahems Spiel ist einfach ein Genuss.

 

Re-Issues:

 

 

 

Ash Ra Tempel & Timothy Leary: Seven Up (1972)
Ash Ra Tempel: Join Inn (1973)
The Beatles: Revolver (Super Deluxe Edition)

 

Ob man bei den Beatles nun wirklich alle fünf CDs kennen muss, darüber lässt sich streiten. Die neue Abmischung ist es aber wert. Man hört tatsächlich Details heraus, die vorher kaum aufgefallen sind, zudem ist die Platte nun auch im Kopfhörer abhörbar, was bei der ursprünglichen Stereomischung schwer zu ertragen war.

Die beiden Ash Ra Tempels sind 50th-Anniversary-Editions (ja, so lange ist das schon wieder her), unter Manuel Göttschings Aufsicht neu vom Originalmaster geschnitten, und sie katapultieren einen direkt ins Jahr 1972 zurück. Entstanden ist Seven Up in einem Studio in Bern mit Timothy Leary, der aus Algier kommend in die Schweiz geflüchtet war. Der Titel bezieht sich sowohl auf Learys Lieblingsbrause wie auch auf eine von ihm entwickelte Mindmap, die die sieben Ebenen des Bewusstseins beschreiben sollte. Seine Idee war, dass dies musikalisch vielleicht eher möglich sein könnte als schriftlich. Join Inn ist die letzte Zusammenarbeit der Gruppe mit Klaus Schulze, den sie während der Sessions zu Walter Wegmüllers Album Tarot wiedertrafen. Das Treffen führte zu einer Endlosimprovisation der drei, „Freak ’n‘ Roll“ genannt, ein Ausschnitt daraus füllt die gesamte Seite 1. Schulze rührt hier sehr emsig in den Trommeln — zum letzten Mal. Die Seite 2, betitelt „Jenseits“ wird von Schulzes Keyboardspiel dominiert, zu dessen Klängen Rosi Müller in latent wirren Wortfetzen die Geschichte des Treffens mit Leary erzählt. Beide Platten zusammen bilden ein dichtes Spiegelbild dessen, was in jenen Jahren „Krautrock“ darstellte. Leary hat in seiner Autobiographie kein Wort über die Produktionen verloren, Manuel Göttsching fand zu seinem wirklich markanten, an ein akustisches Mobile erinnernden Gitarrenstil erst 1975 mit seinen Inventions For Electric Guitar. Sie erinnern aber auch an die Anfänge Klaus Schulzes, der dieses Jahr verstorben ist und mit Deus Arrakis ein wirklich verdammt starkes Abschiedswerk hinterlassen hat — so schließt sich ein Kreis.

Und nun kann der Nikolaus kommen.

2022 3 Dez.

Zwischendurch: Asmus Tietchens

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | Comments off

 

Ein Radiotipp: Anlaesslich des 75. Geburtstages des Hamburger Klangkuenstlers und Komponisten Asmus Tietchens hat der ORF ein einstuendiges Portrait gesendet. Eine Sendung von Heinrich Deisl und trotz des etwas eigenwilligen Fotos sehr hoerenswert.

Hier zu hoeren.

Und ja, ich weiss, dass ich vor langer Zeit einmal damit begonnen habe, Tietchens‘ Veroeffentlichungen chronologisch vorzustellen. Es geht weiter.

 


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz