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2022 2 Juli

Abflug mit Fuchur

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Wo sehen wir uns wieder, sagte sie, und ich antwortete: wenn es gut läuft, am 5. August. Abends im Radio, und dann fast  schon am Meer. Zuweilen reicht ein Blick zum Himmel, und die Reise beginnt.  Fuchur, der Verbündete: Atreju kann von Glück sagen, so einen Gefährten zu haben, nie missmutig, oder beleidigt in der Art der Leberwürste. Mehr als zweimal gewiss spielte ich „Cutting Branches For A Temporary Shelter“ vom Penguin Cafe Orchestra in dem Klanghorizonten, und erst jetzt fand ich heraus, dass es die unwiderstehliche Adaption einer afrikanischen Vorlage war, und mit der guten alten Mbira wird es nun auch zu neuem Leben erweckt, auf der ersten Arbeit von Midori Takada seit Jahrzehnten. Als ich aus ihrem berühmtesten Album etwas spielte, das Porticos Tranceinduktion „Terrain“ inspirierte wie nichts anderes,  nachts auf Vinyl, erlebte ich zum ersten Mal, wie ein Tonabnehmer in Minuten den Geist aufgab, und es hörte sich an, als würde er die Musik in dissonante Zerrbilder zerlegen. Ich machte dem Spuk ein Ende. Und Jahre später korrigierte ich diese Gepensternummer mit der CD-Version. Midori Takada tat gut daran, nie dem alten Herrschaftsdenken der Klassischen Musik zu folgen, und entdeckte früh das Multiversum einer einzigen Trommel, und wie Cage fand sie, dass ein einzelner perfekter Ton auf der Shakuhachi zuweilen mehr Zauber verströmen könnte als manch hochfahrend-formbesessene Westliche Orchestermusik vergangener Jahrhunderte. The spellbinding art of elementary textures…

 

 

 

 

„Cutting Branches For A Temporary Shelter“ wurde live aufgenommen und mit Instrumenten gespielt, die in den Sammlungen des MEG-Museums aufbewahrt werden. Dabei handelt es sich um Midori Takadas ganz eigene Interpretation von „Nhemamusasa“, einem traditionellen Werk, das für das musikalische Repertoire der Mbira der Shona in Simbabwe emblematisch ist und vor allem dank der Version von Paul F. Berliner auf dem berühmten Album „The Soul of Mbira“ von 1973 weltweit bekannt ist. Midori Takada erklärt:

 

„Afrikanische Musik zeichnet sich durch ihre Polyrhythmik aus. Es gibt nicht nur mehrere rhythmische Motive gleichzeitig, manchmal bis zu zehn, sondern es kann auch sein, dass der von jedem Musiker gespielte Part seinen eigenen Ausgangspunkt und sein eigenes Tempo hat, die sich alle zu einem Zyklus zusammenfügen. Alle Zyklen verlaufen gleichzeitig nach einer einzigen metrischen Struktur, die als Bezugspunkt dient, aber nicht von einer einzigen Person von Anfang bis Ende gespielt wird. Die Struktur ergibt sich aus den mehrstufigen Teilen, die alle unterschiedlich sind. Bei den Shona basiert das musikalische System auf der Polymelodie: Man spielt gleichzeitig mehrere melodische Linien, die sich überlagern und jeweils ihre eigene rhythmische Organisation haben. Das ist wirklich fesselnd.“

 

Die gute alte Tante Filmkritik hatte einst eine erzieherische Pflicht. Es galt, Spreu und Weizen zu trennen, und dem Publikum zu erzählen, ob das jeweilige Zelluloid sehenswert ist, erbaulich, oder verpulverte Zeit. Die Seele hebend, oder abgrundtief verstörend. Nun, Überraschung, es gibt Filme, die sind abgrundtief verstörend, und können doch (auf etwas andere Art), „die Seele heben“ – abseits von Seelenbalsam, Streicheleinheit und Sonnenlicht. Mehr im Sinne von: wenn man in den Abgrund blickt, glotzt nicht immer der Abgrund zurück, Freund Friederich. Also hier die forsche Ermunterung, sich ggf. tollkühn auf eine Reise ans Ende der Nacht einzulassen, aber nur, wenn Ihnen der Sinn prinzipiell nicht nach Suizid steht. Erschütterung, Subdepressves, Alpträume, Schlaflosigkeit und anderes nicht so Nettes, das mag hier als Nebenwirkung aufgelistet sein, nach dem Erleben oder Erleiden des Films „Annihilation“ (Netflix!), „Auslöschung“. Dann aber wieder gibt es die harten Hündinnen und Hunde, die dieses Meisterstück staunend erleben. Mit den Schatten tanzen. Diese Seltsam-Faszinierten begegnen sich hinterher (wenn sie das alles haben etwas sacken lassen) und sprechen über Texturen, doppelte Böden, Traditionen des Unheimlichen, über George Romero, Filmmusik („Slowly lumbering its way toward us is a dissonant, bursting synth melody, bathed in an astringent of distortion and flutter that ultimately moans with blasts of decaying horror“) – und darüber, dass Kino bedeuten kann, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Das wusste schon Jean Luc. Nun aber auf, auf – werfen Sie eine Münze, setzen sie den Film auf die Watchliste, oder sagen lapidar „Sonst geht‘s gut!“ Ein einfacher „Trick“: Sie können jederzeit aussteigen! Wie konnte ich dieses Opus magnum, dieses Stück zeitgenössische Kinogeschichte, nur verpassen vor Jahren!? Aber jetzt, bald dann, früher oder später, eine von guten alten Tanten und Onkels befreite Filmkritik! Vier Augen sehen mehr als zwei, und die Nacht hat tausend Augen! 

 

Kirsten hatte es raus. Und ihre Eltern auch. Als Malte dort ein und aus ging, früh in den Siebziger Jahren, war er der ideale Schwiegersohn in spe, und nach dem Abendessen musste in ihrem Zimmer nicht mal das Schloss umgedreht werden. Es war Maltes erste Freundin, bei welcher der Sex so dazu gehörte wie Cat Stevens und die Beatles in mono auf dem Plattenteller. Ein langer Sommer, der tief Luft holte und eindampfte auf jene postkoitale Glücklichkeit, wenn er – danach – an der Haltestelle stand und sanft umrauscht auf den letzten Bus in den Süden der Stadt wartete. Malte war nicht sonderlich verliebt, aber Kirsten hatte es raus, ihre eigenen Orgasmus geschickt zu verzögern und ihm die „Squeeze“-Technik beizubringen. Malte fühlte sich wie in einem erotischen Trainingscamp, und das konnte ihm nur guttun – er bereitete sich vor, endlich das Mädel zu treffen, bei der „body and soul“ eins sein würden. Er würde ein gutes Quantum Erfahrung mitbringen, ein paar Kniffs, und nicht mehr der romantische Depp sein, der Luftlöcher in Lagerfeuer stiert und unter der Dusche Angie von den Stones singt. Der Sommer bewegte sich nur träge auf den September zu, und die Dinge schienen alltäglicher zu werden. Der Sex war zärtlich, mit einem Hauch von Versuch und Irrtum, und jeder konnte spüren, dass hier nichts auf Ewigkeit gepolt war. Das Ende hatte allerdings einen besonderen Dreh. Als Kisten in Berlin war, lernte sie einen weitaus erfahreneren jungen Mann kennen, und daheim im Ruhrgebiet, kündigte sie sich bei Malte telefonisch an, ungewöhnlich genug. Nicht mehr in der Poppelsdorfer Strasse, deren Namen Anlass für allerlei Heiterkeit war, sondern im Jugendzimmer von Malte, das noch Jahre zuvor als Kinderzimmer durchging. Wild things run fast, aber mit der Wendung, die dieser Abend nahm, hatte Malte nicht gerechnet. Es war noch nicht lange her, da las er bei spärlichem Nachtlicht Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, und als es eines Nachts blitzte und donnerte und wilder Regen niederging, sah der junge Malte hinter den Ritzen der Jalouisen ein wildes Geflacker, das die Lithographien der Taschenbuchausgabe seltsam lebendig werden liess – ein schönes Staunen und Erschauern. Kirsten zeigte ihm ein Bild ihres neuen Freundes, und dass es nun vorbei sein mit ihrer Liebelei. Sie trug schwarze Stiefel, und überhaupt glänzte ihr Gesicht. So hatte er sie noch nie gesehen, ihre blonden Haare, brilliant gelockt, verströmten die Aura einer elektrisierten Wildnis, und Malte wurde durchflutet wie nie zuvor bei ihren abendlichen Stelldicheins. Er sank vor ihr nieder, und bat sie, ihn zu nehmen, er werde folgsam sein und ihr dienen. Wo immer diese Ergebenheitsbekundungen herkamen, sie kamen nicht aus einem Schulmädchenreport, nicht aus einem Artikel in der Bravo, nicht aus den seltsamen Launen der Geilheit. Sie kamen von einem tiefen inneren Ort, den ein Schriftsteller mal „das innere Afrika“ nannte. Kirsten schloss die Tür hinter sich und ging.


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