Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Juni 2022

 

When the postman rings twice. As he did today. Wow! Finally! In the forthcoming German translation of David Mitchell’s latest novel (July 19), the author of many great time traveling books turns his eye on the dark end of the 1960s, a story of music, dreams, drugs and madness, love and grief, stardom’s wobbly ladder and fame’s Faustian pact. There’s Gene Clark of The Byrds, for example, who admires a guitar figure of Jasper’s. Janis Joplin, Leonard Cohen, Syd Barrett, Jackson Browne, and Jerry Garcia turn up (as does, decades later, the brilliant band Talk Talk, acknowledging a debt to the Utopians). There’s even an aside reference to how the Stones’ album Let It Bleed earned its name. Bone spurs and all, it’s realistic indeed and just the thing for pop music fans of a bygone era that’s still very much with us. So, don’t think twice: this seems to be the book some Manafonistas will dive into, no matter if they had been part of the ancient journey or not. Get it! Bong not included. (m.e.)

Der Schriftsteller Matthias Göritz ist ein Reisender. Er macht die Orte und Landschaften, an denen er sich aufhält, spürbar und verwebt sie intensiv mit den Empfindungen des Lyrischen Ich oder des Erzählers. In seinem ersten Gedichtband hat er unter drei Kapitelüberschriften die Metropolen genannt, in denen sie verortet sind: Paris, Chicago und Moskau. Das erste Gedicht seines Debüts skizziert Eindrücke aus Paris:

 

(…)
Stadt der Metaphern
(…)
Mein Tag: Spaziergang
oder Blicke vom Fenster.
(…)
Paris ist alt und kalt.
(…)
Durch die Stille der Stadt
treibt Kälte mich
die Achsen, die Straßen entlang,
vom Concorde zur Bastille.

Du hast Henry Miller nicht mehr in Clichy.
Du hast nachts auch nichts anderes mehr.
Du kannst dich nur mit den Vögeln vergleichen,

den Vögeln,
die schwarz in der Luft
den Fragezeichen
und Bäumen gleichen,

vereinzelten Bäumen,
und Ästen,
die schrein.

 

Göritz spielt mit den Titeln seiner Gedichtbände. Nach seinem Debüt Loops, erschienen im Jahr 2001 – Göritz war Anfang 30; die deutschsprachige Lyrik befand sich auf dem Sprung einer großen Erneuerung durch eine junge Generation – folgten die Gedichtbände Pools (2006) und Tools (2011) und zuletzt (2021) Spools, eine Anspielung auf die Tonbänder aus Samuel Becketts grandiosem Theaterstück Krapp‘s Last Tape (auf Deutsch: Das letzte Band). Erinnerungen, Episoden aus der Kindheit („Mein heutiges Personenpensum / Papa, Nicki und ich“) sowie Lebens- und Liebesreflexionen durchziehen die Gedichte. In Tools gibt es ein Sonettenkranz mit Szenen einer sich auflösenden Liebesbeziehung; jedes Sonett ist überschrieben mit dem Automodell und dem Ort des Geschehens. An Schreibanlässen scheint es Göritz nicht zu mangeln. In einem Gedicht aus Loops schreibt er: „So soll das gehen. / Fast von allein / begegnet mir / das Gedicht.“ Neben Gedichten, die erlebnisorientiert wirken, finden sich auch historische Betrachtungen wie die niederländische Tulpen-Finanzblase und die Eroberung der Arktis durch Amundsen und Scott. In Göritz‘ Werk kann man feine Korrespondenzen entdecken, Fäden, die Geschehnisse und Reaktionen miteinander verbinden. Eine Liebe, die zerbricht, vielleicht wegen der Sache mit Lin in Shanghai Blues. Am stärksten sind Göritz‘ Texte, wo sie authentisch, überraschend, unberechenbar und schonungslos daherkommen, wie in diesen Passagen aus Spools: „Ich habe aufgegeben / etwas Besonderes zu sein.“ „Genau wie ich, weiß sie nicht, was sie sagt.“ „Ich schlichte Streite nicht mehr / ich gehe ihnen jetzt aus dem Weg“. Oder hier, die Auflösung von allem: „es gibt nicht einmal diesen Text / es gibt // nichts / nur eine Schnittmenge von Worten.“ Abschiedsstimmung flackert auf. Aufbruch in eine andere Lebensphase vielleicht. „Alles, was ich war lieh ich mir / und jetzt gebe ich es zurück / Auch diese Wörter / Auch dieses Buch“. Ab und an erwähnt Göritz den Wunsch, die Grenzen der Sprache zu überschreiten: „Der wirkliche Käfig ist der der Sprache.“ Ein Zitat aus dem aktuellen Buch Amerika oder Reisen ins Herz des Herzens des Landes. Die kleinen Texte – im Buch selbst als Flash-Fiction, also als Kürzestgeschichten bezeichnet – kommen mit einer Geste des Improvisierens daher, sind genreübergreifend, verspielt. Ein Reise-Skizzenbuch. Eine Art Reise-Blog. Wobei es sich nicht um eine Auslandsreise handelt, da Göritz seit einigen Jahren als Professor of  the Practice an der Washington University in St. Louis unterrichtet, in den USA also lebt. Die Nonchalance und die Lässigkeit nehmen im Werk von Matthias Göritz zu. Der Autor demonstriert Abgebrühtsein, Gleichgültigkeit. „Es ist nicht wichtig, wie ich die Dinge beschreibe. Die Dinners, die Tankstellen, die Straßen, die immer nach innen führen. Sie sind da. Draußen. Dein Erstaunen an Etwas, das sich Amerika nennt.“

 

Amerika oder Reise ins Herz des Herzens des Landes enthält Fotografien von Michael Eastman, Bilder, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten aus verschiedenen US-Staaten aufgenommen wurden und eines gemeinsam haben: viel Raum für den Himmel unter endlos scheinenden Landschaften. Etwas Unheimliches kommt immer dazu. Auch Göritz‘ Erzählung Shanghai Blues (2015) enthält beeindruckende Fotografien, es sind Arbeiten von Vanja Vukovic, die Shanghai verzaubern und verwandeln. Das Buch beginnt mit dem Blogeintrag eines Mannes namens Parker über seine Ankunft in Shanghai. Parker, der ein Werk über Urbane Nomaden geschrieben hat, und nun als Experte gilt, einen lukrativen Auftrag nach dem nächsten erhält. 200.000 verkaufte Hardcover-Exemplare in den USA, Übersetzung in 24 Sprachen, in China als Raubkopie auf Chinesisch vertrieben. Eine Geschichte, mit der es anfing. „Die Sehnsucht, einfach an einem anderen Ort anzufangen (…)“ Aber fing es nicht schon so an? Doch, so fing es wohl an. In Paris, Chicago und Moskau um die Jahrtausendwende herum.

 

Ein Wolf hat mich angefallen. Vor der Betonleinwand
auf dem Parkplatz des aufgegebenen Autokinos an der
Ausfallstraße eines längst vergessenen Orts, dessen
Name auf dem Straßenschild langsam verrottet. Peter
Bogdanovich? Keine Chance. Hier muss man Gewalt-
filme drehen. Tarrantelkino. Horizontschlachten.
Fords. Der Mittlere Westen. Bis zum Äußersten gehen.
Carl ist eine Sandburg. In mir lebt ein Wolf. Er hat
mich angesehen. Der Hunger. Das Gefühl ist selbst
rohes Fleisch. Ich habe ihn in die Kiste gestopft. Zu dir
und dem Hund.

(aus: Amerika oder Reise ins Herz des Herzens des Landes)

 

 

 

 

Filme spiegeln gesellschaftliche und politische Gegebenheiten der Nation wider, das ist eine spannende Sache. 1981 war das Jahr, in dem sich die Gesellschaft spaltete in DALLAS-Fans und hoffnungslos geschmacksverirrte Anhänger von DENVER – CLAN. Deutschland war begeisterter Konsument.

 

Die Serie – Mutter aller amerikanischen Seifenopern – beschwor Gründerzeit-Mythen und amerikanischen Pioniergeist herauf, eine Orgie an Anachronismus. Im Zentrum stand der Ölmulti und texanische Haudegen Jock Ewing, ein John-Wayne-Klon wie frisch vom Planwagen heruntergestiegen, der seine Probleme auch gelegentlich mit einem Faustschlag löste und sich auch nicht scheute, seinen beiden erwachsenen Söhnen – in das Good Cop-Bad-Cop-Schema gut einzuordnen – im Krisenfall eine zu semmeln. Der alte Westmann stirbt nicht.

 

Seine etwas geistesschlichte aber gutherzige Frau – hier mit abgeschnittenem Unterleib – hielt ihm den Rücken frei. Die Familie – mit dem Zusammenhalt eines arabischen Clans – ist hier ein unentrinnbarer Fetisch, ihre Kohäsionskräfte sind gewaltig. Man wohnt zusammen auf der Southfork-Ranch, gut zugänglich und ohne Bodyguards – Amerikaner tun Amerikanern nichts, wer wird denn da an Kidnapping denken? Man trifft sich täglich zu den Mahlzeiten. Die Schwiegertöchter ziehen problemlos mit dazu.

 

Die Herren konsumieren dabei Whisky, tragen ständig Stetsons, als müssten sie der sengenden Präriesonne und dem Staub von Pferdehufen trotzen – das Ganze auch in ihren vollklimatisierten Büros, wobei vom intriganten JR dort auch reichlich Staub aufgewirbelt wird. Die Damen sind ehrenamtlich tätig oder arbeiten in der Modebranche, wenn sie überhaupt irgend etwas tun. Es werden ausschliesslich Söhne geboren, adoptiert oder untergeschoben, Töchter können keine Ölkonzerne leiten, sieht man ein. Und andere Versatzstücke des Western-Genres feiern fröhliche Urständ, es werden dauernd Rinder eingefangen, Barbecues veranstaltet, Squaredance getanzt …

 

So kleben die Familienmitglieder am Familienmagneten wie Eisenfeilspäne, können sich nur in der 2. Dimension verschieben, aber nicht in den dreidimensionalen Raum flüchten. Wie sieht das aus?

 

 

Su Ellen betrinkt sich aus Kummer wegen ihres ständig fremdgehenden Mannes, geht selbst ständig fremd, trennt sich und versöhnt sich und ist nach der Scheidung dauerhaft damit beschäftigt sich zu rächen und einen Film über Ihre Ehe zu drehen – etwa das Gegenteil einer sauberen Trennung. Dann verliebt sie sich in den Mann der später Jocks Witwe heiraten wird, ist aber dann doch mit dessen Sohn zusammen. Su Ellens Schwester macht sich einstweilen an JR heran. JR spannt seinem Erzrivalen Cliff Barnes die Freundin aus, später dann umgekehrt. Pams Schwester ist in deren Mann Bobby den Biederen verliebt und fährt ihn letal über den Haufen. Pam verlobt sich mit einem Mann, mit einem Kinn wie ein Vorschlaghammer, plötzlich steht aber Bobby unter der Dusche und alles war nur ein Traum; ein Twist, der das Publikum seinerzeit zutiefst aufrührte. Die zwischenzeitliche Liebe Bobbys heiratet dann seinen Halbbruder, mit dem Miss Ellies Enkelin aber vorher im Heu war. JRs zweite Frau Cally bekommt einen Sohn, der aber vermutlich von JRs inzwischen erwachsenem Sohn aus der Ehe mit Suellen stammt, wobei die Vaterschaft auch hier nicht gewiss ist. Usw …

 

Blickt jemand durch? Macht nichts, ich hab auch lange gebraucht … Das Ganze ähnelt jedenfalls eher einer Reise nach Jerusalem, mit einem paar Stühlen zuviel. Eine Nation versammelte sich am Lagerfeuer, rückte eng zusammen und erzählte sich die alten Geschichten.

 

Das Jahr 1979 – Serienbeginn – war ein Jahr der Umbrüche für die Staaten. Der schmählich verlorene Vietnamkrieg. Der Sturz des Schahs und die Inthronisierung Chomeinis und seines Antiamerikanismus. Revolution in Nicaragua. Der Einmarsch der Sowjets nach Afghanistan. Der GAU in Harrisburg. Die Hippie-Zeit und die sexuelle Libertinage – die Jugend begann Fliehkräfte zu entwickeln. Abtreibungsdiskussionen, Frauenbewegung, Friedensbewegung. Deutsche Ostpolitik. Der nicht enden wollende kalte Krieg

 

Da tut es gut, auf schamanistische Weise die Ahnen zu beschwören und deren Heilkraft anzurufen – ein amerikanisches Ritual, das sich heute noch in vielen dort entwickelten Therapiemethoden findet, die auf die Wirkung möglichst intensiver Gefühlswallungen setzen, als wäre die Neurose ein Teufel der nur mit Geschrei ausgetrieben werden muss.

 

Und was mochten WIR daran?

 

Als erstes den Fiesling JR, wenn er seine Intrigen spann und seine Meckerlache ausstiess, oder bei einem Misslingen so bedröppelt dreinschaute, dass er einem gleich wieder leid tat. Wir beäugten ihn wie einen Lausbuben mit etwas grenzwertigen Streichen, er machte die reale Welt der Ölkonzerne und ihrer realen Schweinereinen so nett und überschaubar, wenn man alles auf seine Ränkespiele mit Cliff Barnes eindampfte. So schlimm ists denn doch nicht auf der Welt …

 

Und da wären wir wieder bei den deutschen Feuerzangenbowlenlausebengeln und den Drei-von-der-Tankstelle-Kaspereien. Die Regression des Mannes auf den Pennälerstatus ist ein guter Tranquilizer gegen Schuldgefühle und vollbrachte Grausamkeit. Das funktionierte im deutschen Nachkriegskino ebenso gut wie bei American-Angst-Filmen wie diesem. Und diesem texanischen Hans Pfeiffer mit drei F, eins vorm Ei, zwei hinterm Ei.

 

Was für eine Enttäuschung, in die alte BRD zurückzureisen, und vollkommen ernüchtert Wim Wenders zweiten oder dritten Teil seiner Road Movie-Trilogie zu erleben! Ich werde es nicht schönerzählen.  In Jahr 1975 sah ich „Falsche Bewegung“ zweimal, einmal war ich verliebt, und lud die noch unbekannte Schöne ins City-Kino von Würzburg ein, um den Film mit mir zu sehen, das andere Mal hatte ich das Herz von C. vorübergehend erobert, weiterhin full in love, und Wim Wenders antworte, im Rahmen eines kleinen Würzburger Filmfests, auf die Fragen der Studentenschaft.

 

 

Herr Wenders, warum haben Sie das leere Rauschen des Fernsehers eingesetzt, als die Reisegruppe Ivan Desny in seinem Schloss aufsuchte. Hatte das eine Bedeutung?

– Der stand da einfach. (Geschmunzel allseits)

 

 

Ich werde mich hier nicht gross aufhalten, bei der literarischen Vorlage von Goethe, die Drehbuchschreiber Peter Handke bruchstückhaft aufgreift, um seine subdepressive Reisetruppe vom Norden Deutschlands runter zur Zugspitze zu schleusen. Herr Handke war schlecht drauf, nach dem Suizid seiner Mutter, und liess eine Weltschmerztirade nach der anderen vom Stapel. Das alter ego von Handke / Wenders, Rüdiger Vogler (ach, wie gerne sah ich ihn einst – er war älter als ich, und trug ziemlich beeindruckende Melancholiewerte in seiner aufgeräumten Gesichtslandschaft umher!), hatte am Anfang einen Wutmoment und legte in seiner Dachstubenwohnung im hohen Norden eine Single von den Troggs auf.

Etwas mehr Rock der alten Schule hätte dem Film gut getan, aber was dann abging, in dieser Reisegesellschaft, mit der gedankenvoll-abwesenden Schygulla, der jungen Kinski (14 Jahre, und fast schon gruselig sexualisiert in Wenders tendenziell komplett unerotischem Kino), einem Kriegsverbrecher (grosser alter deutscher Schauspieler, Jahre später stand er direkt vor mir bei den Berliner Filmfestspielen), dem, einen Vollidioten von Lyriker spielenden, Peter Kern (wohl eine Selbstparodie Handkes), geht kaum auf die berühmte Kuhhaut. In Handke‘schem Duktus reden selbst Zugschaffner, und klingen, als hätten sie gerade die falsche Tüte geraucht.

 

 

 

 

Was für einem seltsam überanstrengtem Mist war ich damals nur ergeben. Aber Wim Wenders‘ Kino wurde überall in Europa von den Künstlern geliebt, Brian Eno schätzte, was Wunder, die Langsamkeit, und erwärmte sich für die „Kings of the Road“. Peter Buchka war Wenders‘ Hofberichterstatter bei der Süddeutschen, und gierig verschlang ich seine Zeilen, sie verkürzten mir die Wartezeit aufs erste Sehen, und gaben keine Handlung preis, wie auch, wo es ja kaum Handlung gab.

Der von Peter Kern gespielte Vollpfosten bringt die Gruppe dazu, seinen reichen Onkel zu besuchen, der über das schwere Leben sinniert. Sie kommen gerade rechtzeitig, um seinen Selbstmord zu verhinden, und Peter Kern merkt an, das sei wohl gar nicht sein Onkel. Was für ein Quatsch.

Als sie dann allesamt gefühlte Stunden auf einem Weinberg rumkraxelten und sich wenig wärmende Selbstgespräche an die Köpfe warfen (immerhin hatte Rüdiger die helle Idee, er solle das mit den politischen Kommentaren besser lassen – Peter hätte besser mal zuhören sollen!), war es dann um meine Chronistenpflicht geschehen. Ich stoppte diese weitgehend uninspirierte phlegmatische Filmerzählung, an der ich rückblickend wenigestens ein paar gute Haare lasse. Die Kameraarbeit von Robby Müller beeindruckt, wenn Bewegung ins erstarrte Gruppenleben kommt. Sie kreiert flüchtige Illusionen des  Vorwärtsdrangs, und lässt den Zuschauer hier und da Frischluft schnuppern. Auch die Hauptmelodie des Films geht unter die Haut, mehr, als das Gewicht der Welt, an dem hier alle in unterschiedlichen Aggregatzuständen der Schwermut zu tragen haben.

In einem sehr langen Essay, der sich in englischer Sprache im Netz findet, erzählt uns ein sanft berauschter Filmkritiker für die „Criterion“-Ausgabe seine Sicht von „Wrong Movement“, erkennt eine Studie über die Unmöglichkeit von Kommunikation (na, ist das grossartig!!), und preist den Film für seine konstante Vorwärtsbewegung, allen Wirrnissen zum Trotz. Natürlich erkennt er auch einen Finsterblick auf die BRD anno 75, wobei ich aber nicht mehr mitmache. Ich wollte wirklich bis zum Ende aushalten, da sollte die Truppe schliesslich die Zugspitze erreichen: ob damals schon das Wirtshaus existierte, auf dem ich mir vor sieben Jahren eine Mass Weizenbier gönnte? Ob der Kamera von Robby ein paar Bergdohlen vor die Linse kamen? Hat die junge  Kinski ein Rad geschlagen auf dem  höchsten deutschen Berg?  Fragen über Fragen.

Ähem, die Siebziger Jahre waren ein magisches Jahrzehnt – in diesem massiv überschätzten Film merkt man nichts davon. „Falsche Bewegung“ ist womöglich als Fallstudie zu gebrauchen über mehr oder weniger kaschierte Depressionen.

Alle Abenteuer sind daraus verschwunden.

Über Bahnfahrten ist so ähnlich wie über das Wetter zu reden. Jeder und jede saß schon einmal in einem verspäteten Zug, gibt die Anekdote gerne zum besten, aber ohne die zehn Fahrten, bei denen die Züge ganz unspektakulär pünktlich waren, zu erwähnen (okay, wahrscheinlich kommen auf eine Verspätung nur fünf pünktliche Züge). So ist es auch völlig uninteressant, dass ich gestern, am heißesten Tag des Jahres, für eine zwei Stunden Strecke gut vier Stunden in unterschiedlichen Regionalbahnen und auf verschiedenen Bahnsteigen verbracht habe, mit Menschen, die offensichtlich das erste Mal seit Jahren einen Zug betreten haben und zum Beispiel nicht geschnallt haben, dass die Türen nicht schließen, wenn man zu nahe dran steht, dass ich die Bahnhöfe noch nie so voll gesehen habe und dass ich auf der letzten Teilstrecke eine Person getroffen habe, die ich aus meinem Arbeitsumfeld als ewige Klageführerin kenne und der ich die letzten 90 Minuten meiner Fahrt ausgeliefert war. Mit schreienden Kindern, Junggesellenabschieden und lauten Baustellen und ungetragenen Masken halte ich jetzt niemanden groß auf, habe ich gestern aber alles erlebt.

Ist auch egal, so ein 9 Euro Ticket ist ja irgendwie ein geschenkter Gaul, dem will ich nicht zu lange ins Maul schauen. Es hatte sein Gutes: Zeit, die zweiten 60 Seiten von „Gentzen oder Betrunken Aufräumen“ von Dietmar Dath zu lesen. Sehr gut, angenehm verwirrend, ein Labyrinth: die Lektüre ist ein wenig so, als wenn man in einem Blog stöbert – immer wieder kommen neue Einträge (Kapitel), werden neue Themen angeschnitten, der Gesamtzusammenhang erscheint derzeit noch recht lose. Bis jetzt bin ich sehr angetan.

Als ich dann einigermaßen fertig mit allem zu Hause ankam, war an das vorgenommene und notwendige Arbeitspensum nicht mehr zu denken. Passte gut, hatten die Paketboten doch zwei Schallplatten bei den Nachbarn abgegeben. Mit dem Album „A Light For Attracting Attention“ hatte ich gerechnet. The Smile sind ein Bandprojekt von Thom Yorke und Johnny Greenwood von Radiohead, zusammen mit einem Drummer von Sons Of Kemet, Tom Skinner. Ausdifferenzierte, ziselierte Klanglandschaften, könnte auch als Radiohead Album durchgehen. Mir gefiel das beim zweiten, flüchtigen Hören heute genau so gut wie beim deep listening gestern. Auch hier bin ich sehr angetan.

Eine Überraschung war dann das zweite Paket: „A Black Man‘s Soul“ von Ike Turner. Ich hatte das Album vor zwei Monaten bei einem Freund gehört, war begeistert und er hat mir nun recht günstig über Ebay oder Discogs ein Exemplar gesichert. Hier ist das Klangbild nicht audiophil, ganz im Gegenteil. Ich vermute, die Stücke sind überwiegend auf Tour in wechselnden Studios mit mäßiger Technik entstanden. Zwölf Instrumentals, die meisten werden nach knapp drei Minuten zügig ausgeblendet, Schlagzeug und Bass sind recht laut abgemischt, ansonsten sind Bläser und Gitarre zu hören, ab und an mal ein Moog. Aber ziemlich uptempo und uplifting, unverschämt funky und so gut gelaunt, dass es auch nach einer anstrengenden Bahnfahrt ansteckend ist.

2022 23 Juni

Player, Piano

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Im Januar 2021 war es recht einsam auf Sylt (man kann sich das schon gar nicht mehr vorstellen), und doch fand ich zwischen Sansibar und Samoa ein freigeistiges Paar, mit dem ich wunderbar reden konnte über die üblichen Verdächtigen einiger Manafonisten: so staunten wir unisono, wie rigoros ein gewisser Daniel Lanois letzthin seine Träume umsetzte, ohne Rücksicht auf populären Widerhall. „La Noise“ war gewiss kein grosser kommerzieller Erfolg, seine Gospelplatte aller Klasse zum Trotz auch nicht, und 36 Jahre nach „Apollo“ einen nahezu ebenbürtigen Nachfolger in der gleichen Besetzung (Eno/Eno/Lanois) abzuliefern, grenzte an altmodische Tollkühnheit.

 

 

Und jetzt also das: in einer Zeit, in der man noch Singles kaufte, wäre „My All‘ allemal dezent exzentrisch gewesen, ohne vocals, eine Abschiedsmelodie. Für den kleinen toten Bruder. Wehmütig, weit ausholend, kitschbefreit. Das neue Album, auf dem dieses Stück zu finden ist, wird Ende September erscheinen und viele verblüffen, im Gewande einer historischen Aufnahme mit allerlei raumbildenden Massnahmen.

 

Der Klavierpart basiert auf einem Ansatz, den ich von Steven Tyler von Aerosmith gelernt habe. Vor einiger Zeit war Steven bei mir zu Hause und spielte auf meinem Klavier. Er zeigte mir einen Pianostil in den man einen Akkord mit der rechten Hand wiederholt und währenddessen mit der linken Hand eine bewegte Melodie spielt. Das war ein Wendepunkt in meinem Klavierspiel … Danke, Steven!“

 

„In einer Zeit, in der ich nirgendwo reisen konnte, hat mich die Aufnahme dieser Platte wegtransportiert. Ich konnte nach Kuba, Mexiko und Jamaika reisen. Ich konnte die Geister von Erik Satie und Oscar Peterson und Harold Budd besuchen. Ich konnte in die Vergangenheit gehen und meine Arbeit mit Brian Eno und Kate Bush und Emmylou Harris erleben. Und das alles, ohne jemals mein Studio zu verlassen.”

 

Um die zeitlos klingenden Aufnahmen auf „Player, Piano“ zu erzielen, machten sich Lanois und Lorenz daran, jedes der drei Klaviere im Studio umzugestalten, die Saiten mit Geschirrtüchern zu dämpfen und den perkussiven Aufprall der Hämmer abzuschwächen, indem sie kleine Filzkissen auf die Köpfe legten. Für die Aufnahmen wurden alte Bändchenmikrofone verwendet, die nicht vor, sondern hinter den Instrumenten angeordnet wurden, um den Klang noch weicher zu machen.

„Ich beschloss, dass ich eine Klavieraufnahme machen wollte, die wie Aufnahmen aus den 40er und 50er Jahren klingen sollte, als das Klavier noch weich und schön war“, erklärt Lanois. Und lässt dabei, zum Glück, ein paar Fragen offen.

 

 

Mark Smotroff und ich erzählen einander gerne kleine Variationen dieser Story, aber heute ist er an der Reihe, keine Frage. Und letztlich ist „Swindon Andy“ unsere Quelle. 


1967 entdeckte (zumindest die Älteren unter euch werden sich erinnern) das aufstrebende Label Instantaneous Records, das befürchtete, in den sich rasch verändernden, swingenden und zunehmend psychedelischen 60er Jahren abgehängt zu werden, eine junge Band, die sie mit ihrer neuesten technologischen Innovation, dem Pserumic Psurround Psound, aufnehmen wollten. Die Idee war, ein Klassik-Rock-Fusion-Album zu machen (Gerüchten zufolge sollten sie eine Version von Nikolai Rimsky Korsakovs Märchen vom Zaren Zultan aufnehmen), das über ihre neue Tochtergesellschaft Pserum Records veröffentlicht werden sollte. Die fast bankrotte Band freute sich über diese Gelegenheit, war aber dennoch ein wenig dreist und gab das Budget wahllos aus, um stattdessen zwei reichhaltige, bahnbrechende psychedelische Meisterwerke, 25 O’Clock und Psonic Psunspot, zu schaffen.

Das Label war verblüfft und verblüfft, aber in der Zeit, in der man sich abmühte, das Angebot zu überdenken, brachte der Erzkonkurrent Deram Records Days of Future Passed von The Moody Blues heraus, das zu einem internationalen Hit wurde und die Bühne für psychedelische Musik für die nächsten Jahrzehnte bereitete. Niedergeschlagen, angewidert und empört wurde das brillante Surround-Sound-Album der Dukes in einem versteckten Bunker in den Chalkhills außerhalb von Swindon, England, vergraben (angeblich in der Nähe des Hodensacks des Uffington Horse, aber das muss noch bestätigt werden).

Bis jetzt, denn nach einer großen archäologischen Ausgrabung unter der Leitung des bekannten Dukes-Biographen Andy Partridge von den Swindoner Popsensationen XTC und des Super-Fan-Produzenten Steven Wilson haben die beiden die lange verschollenen Psurroundabout Ride-Bänder ausgegraben, die diese Woche von Ape House Records auf einer neuen 5.1 Surround Sound Blu-ray Disc veröffentlicht wurden.“

Den ungeheuren Vorwurf des ukrainischen Botschafters Melnyk, dass sich die Ukrainer von den Deutschen nicht willkommen geheißen fühlen, hat nun Peter Sloterdijk entschieden öffentlich zurückgewiesen. Auch aus meinem Umfeld kann ich berichten, dass die aufgenommenen Ukrainer dankbar sind und sich aufgenommen fühlen.

Die französische Philosophin Barbara Cassin hat ein Buch zu diesem Thema vorgelegt. NOSTALGIE. Es beschäftigt sich mit der Frage: Wann sind wir wirklich Zuhause? Sie definiert Nostalgie mit den deutschen Wörtern „Heimweh“ und „Sehnsucht“. Heimweh ist der Wunsch zurückzukehren. Sehnsucht ist das Begehren, der Trieb, überall und nirgends zuhause zu sein. „Ein solcher Trieb kann Philosophie nur sein, wenn wir, die philosophieren, überall nicht zuhause sind. Überall zu Hause sein heißt: jederzeit und zumal im Ganzen sein.“ (Heidegger / S. 99)

Barbara Cassin schreibt über Hannah Arendt, dass trotz wechselnder Wohnorte in verschiedenen Ländern, Arendt immer auf die deutsche Sprache geachtet hat. Sie verstand sie als ihr Zuhause.

Das lesenswerte Buch endet mit der schon erwähnten Frage: „Wann sind wir wirklich zuhause? Wenn wir selbst, unsere Nächsten und unsere Sprache willkommen sind.“

 

2022 22 Juni

„The Sylt Loneliness Treatment“ (remix)

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Auf dem Weg zum nördlichsten Punkt des Landes stoppten mich, es ist nun auch schon länger her, ein paar Schafe auf dem holprigen Weg, die aber nichts am Fluss der Gedanken änderten. Ich liess ihnen alle Zeit der Welt und dachte über die Umstände des Suizids von Ulrich Wildgruber nach, dessen Leiche vor Ewigkeiten morgens am Strand von Westerland gefunden wurde. Ich hatte ihn, etliche Jahre zuvor, in dem Film „Die Hamburger Krankheit“ gesehen, in dem die BRD von einer todbringenden Seuche heimgesucht wurde. Am Vorabend war mir der Tod des Schauspielers zum ersten Mal durch den Kopf gegangen, als ich allein in einer Sauna am Meer war und später im Stockdunklen ins Wasser ging, aber nicht weit, aus Respekt vor den Buhnenresten. Schliesslich trotteten die Schafe dahin, wohin sie gehörten, auf ihre Weide, und ich fuhr weiter, schön langsam.

Das Radio blieb, während meiner Tage auf der Insel, weitgehend aus dem Spiel, aber in diesem Moment hatte ich das dringende Bedürfnis, irgendeinen alten, gut abgehangenen Song zu hören. Ich zappte mich durch die Sender, und, hey, da war er, ein „fucking golden oldie“, und ein altmodischer Schauer des Glücks durchfuhr mich. „Sunny Afternoon“. Wir haben das schon auf dem Schulhof gesungen. Ich sang die paar Zeilen lauthals mit, die mir besonders gern im Kopf rumschwirren. Und ich imitierte die absteigende Basslinie.

 

 

 

 

 

 

Selten habe ich in einer Radiostunde langsamer gesprochen, zumindest stellenweise. Das war die Zeit des ersten knallharten Lockdowns, und nachdem ich zuvor auf Lanzarote schon in den Mauern der Hotelanlage bleiben musste, besorgte ich mir nun über die Pressereferentin der Kieler Landesregierung (mir der ich bis heute Krimitipps austausche) eine Akkreditierung für eine Inselreportage. Unvergessen der kauzige Polizist, der in Hörnum jeden Fremden in Empfang nahm, bevor der Blaue Autozug bestiegen werdem konnte. Zu dem Zeitpunkt mussten auch alle Zweitwohnungsbesitzer Sylt verlassen. Als ich da einmal eine frende blonde Frau traf, auf einem Parkplatz, sie in ihrem Sportwagen, ich ein meinem Toyata, kurbelten wir die Scheiben runter, und wir wechselten Worte miteinander geradezu wie alte Freunde am Ende der Welt. 

 

 

 

 

Gestern fiel mir die neue HörZu in die Hände,  mit einer Coverstory über die Lieblingsinsel der Deutschen, und ich konnte an dem Luftbild so ungefähr erkennen, wo ich mich in jenen Tagen  rumgetrieben hatte. Was ich erlebte, war eine kleine Sylter „Gespenstergeschichte“, und alles, was ich erzähle, ist wirklich passiert. Aus Braderup machte ich Brederup, so what! Wenn man so seltsam allein über eine ansonsten hypertouristische Trauminsel stromert, werden manche Dinge von allein etwas dunkler, und in die Reportage des Aussen spielt immerzu das Innen hinein. Die Zeitzonen verschieben sich. Auch die Räume. (Eine kleine mp3-Aufzeichnung. Alles live, deshalb die kleinen Pausen, wenn etwas nicht gleich anspringt  wie es sollte, und ab und zu liess ich dem Reden freien Lauf, verliess die Notizen und das Skript. Dass es nachts Räume gibt, solche Stimmungen entstehen zu lassen, weg von den genormten Empfindsamkeitsstandards, rechne ich dem Deutschlandfunk hoch an.)


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