Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Februar 2022

„You play with my world.“

(Masters of War / Bob Dylan)

 

Wer sich tiefer mit dem Thema „Russland und der Westen“ beschäftigen möchte, dem empfehle ich das Buch Die Erfindung Russlands von Boris Groys, erschienen im Hanser Literaturverlag. Groys ist ein russisch-deutscher Philosoph, der lange mit Sloterdijk am ZKM gelehrt hat.

Im Winter ist es ein alter russischer Brauch, ein Eisbad zu nehmen, um gereinigt das neue Jahr zu beginnen. Mir hat eine Georgierin erzählt, dass eine junge russische Mutter bei Petersburg in ein Eisloch gesprungen sei und den Weg zurück nicht mehr gefunden hätte. Man fand sie tot – 1 km entfernt vom Einstieg. Auch Putin nimmt jährlich ein Eisbad. Er hat bisher überlebt. Die russische Band AIGEL hat zu diesem Thema einen Clip gemacht, der mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Song darin  heißt sinnigerweise „You‘re Born“. Bitte schaut das beeindruckende Video an.

Musik aus einer völlig anderen Gegend, und es ist doch die Nachbarwelt, bringt die ukrainische Gruppe DakhaBrakha, sie verknüpft Tradition und Gegenwart. Die jüngsten Ereignisse bezeugen die großen kulturellen Unterschiede in der Ukraine, einem Land, in dem sehr unterschiedliche Traditionen aufeinander treffen. Die Band DAKHABRAKHA verschmilzt traditionelle Klänge mit neuer Musik in einen hypnotisierenden Mix. Mit einer bilderreichen und hypnotisierenden Musik erweckt das Quartett ein Echo der traditionellen Volksmusik ihrer Heimat, transponiert ins Hier und Jetzt.

 

 

DakhaBrakha sind ein unbeschreibliches Quartett aus Kiew, das seine Musik als Ethno-Chaos bezeichnet. Ihr Konzept: ukrainische und andere Volksmusik vor Ort aufnehmen, verarbeiten, mit anderen musikalischen Einflüssen verbinden und das Produkt dann den Menschen vor Ort wieder zurück geben: “Geben und Nehmen” nennen sie das und das ist auch die Übersetzung ihres Band-Namens: DakhaBrakha. In diesem Video sind sie – während ihrer Tournee durch die USA – auf einem der wunderbaren Tiny Desk Konzerte zu hören.

Zum Schluss möchte ich „You Can Close Your Eyes“ von James Taylor empfehlen, in der Studioversion oder live at BBC. Es ist eins der trostvollsten Songs in der Popgeschichte.

 

2022 28 Feb

Mit einem „Wolkentanz“ durch Dortmund

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Das erste Mal hörte ich dieses Album 1976, im fünften Stock meines Würzburger Studentenheims, und ich glaube, dass ich von den ersten 250 ECM-Alben ungefähr 200 besass. Kurz und gut: Musik war mir ziemlich wichtig. In meinem fabelhaften Toyata Yaris, Baujahr 2012, gibt es noch einen dieser wunderbaren CD-Player, die damals serienmässig installiert wurden, und so konnte ich nunmehr endlich an eine gute Tradition anknüpfen, mich mit Seelennahrung durch die Lande zu bewegen. Den Vogel schoss heute eine CD ab, der ich nur Aussenseiterchancen einräumte, weil ich Alben aus dem Hause ECM vorzugsweise in heimischer Höhle laufen lasse – aber die Scheibe von Colin Walcott, aufgenommen zwei Monate nach dem legendären Auftritt von Keith Jarrett in Köln, im März 1975 im Tonstudio Bauer, Ludwigsburg, war das heutige Highlight: druckvoll, plastisch, wild, sphärisch, fusion ohne Nabelschau. Neben dem tragisch früh verstorbenen Sitar- und Tablaspieler agiert das „Gateway“-Trio (das ich, wie Oregon und das Jan Garbarek-Bobo Stenson-Quartet, damals live erlebte, in Münster, kurz vor meinem Umzug ins Frankenland) mit John Abercombie, Dave Holland und Jack DeJohnette. Perfektes sequencing, kluge Spannungswechsel, die Freude an der Musik ist allen Beteiligten anzuhören. Die Siebziger Jahre, the golden years, Manfred Eicher in seinem Element. Bei der Fahrt von Marten nach Hörde alles sonnendurchflutet, gestochen scharf, die Wolken, die alten Orte, die eine und andere Abfahrt hätte en passant in die Kindheit entführt. Call the music of „Cloud Dance“ powerful! In the words of Tyran Grillo: „The telephone wires on the cover are like the strings of some large instrument, with the sky as its sound box. Its clouds don’t so much dance as perform, caressing endless waves of voices careening through the ether. The joy of Cloud Dance is that it makes those voices intelligible. Fans of Oregon, of which Walcott was of course
an integral part, need look no further for likeminded contemplation.

 

2022 26 Feb

Die Sache mit dem Kunstfehler

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Sehr geehrter Prof. Dr. Brümmendorf!

Ich möchte Sie darüber informieren, dass der Qualitätsmanager der Klinik, Dr. Reis, es vorzieht, die Sicht der Schmerzambulanz 1:1 zu übernehmen, und mich zudem als Patient mit fragwürdiger Motivation und geringer Compliance darzustellen. Nicht nur aus meiner Sicht wurde ich Opfer eines Kunstfehlers, in der Behandlung der Schmerzambulanz, die meine über Jahre unerträglichen Schmerzen fälschlicherweise als Spannungskopfschmerz diagnostizierte und nicht als trigemino-autonome Migräne. Erst ein anderer Arzt in Aachen deckte diesen Fehler auf und befreite mich nach zwei verheerenden Jahren voller unzähliger vierstündiger Schmerzattacken von dem Elend mit dem Einsatz von Triptanen. Ich prüfe eine Rechtsweg wegen Schmerzensgeld – ein offenes Gespräch in Anwesenheit der zuständigen Schmerztherapeuten*innen wurde abschlägig beschieden.

Mit besten Grüssen,
Michael Engelbrecht

 

Hier das Antwortschreiben an Dr. Reis …

Sehr geehrte Damen und Herren!

Da Sie es offensichtlich vorziehen, den Dialog zu beenden  werde ich ihn hiermit fortführen, mit der aktuellen Faktenlage.

Ich wurde von der Schmerzambulanz Aachen über einen langen Zeitraum (2019-2021) krass falsch behandelt. Ich litt nie unter einem Spannungskopfschmerz, sondern unter einer trigemino-autonomen Migräne. Es wurde nicht einmal ein Versuch mit Triptanen unternommen, die mir mittlerweile ein schmerzfreies Leben sichern hinsichtlich meiner Migräne, und unter Berücksichtigung der bei einer Triptan-Therapie geltenden Rahmenbedingungen.

Die Antwort, die mir Dr. Reis als Qualitätsmanager zukommen liess, war nichts anderes als das Bestehen auf einer objektiv falschen Diagnose, das Anzweifeln meiner Motive hinsichtlich einer Behandlung mit Opioiden – und es gipfelte in der Dreistigkeit, meine Behandlung mit Triptanen als äusserst fragwürdig darzustellen.

Die Faktenlage ist anders. Unnötigerweise litt ich in der Zeit der Behandlung auch weiterhin unter unerträglichen chronischen Schmerzattacken, denen man mit einem Triptan-Versuch SOFORT ein Ende hätte bereiten können.

Ich verlange ein klärendes Gespräch mit einigen Beteiligten, auch deshalb, damit in Zukunft Patienten mit einer ähnlichen Symptomatik ein ähnlich unnötiger Leidensweg erspart bleibt. Juristisch wird das nicht easy going, aber dass ich einen gerechtfertigten  Anspruch auf ein Schmerzensgeld habe,  steht für mich ausser Frage. Wir reden hier von einem „Kunstfehler“.

Und Ihnen, Herr Dr. Reis, möchte ich sagen, dass Ihr Antwortschreiben an mich herzlich wenig mit Qualitätsamanagement zu tun hatte, und sehr viel mit Beschwichtigung, Anzweifelung, Beharren auf einer falschen Diagnose, und Diskretierung meiner Person (letzteres habe ich so wahrgenommen, genauso wie eine Juristin, der ich dieses Schreiben vorlegte).

Sie, Dr. Reis,  haben doch sicher noch eine Person in leitender Funktion über sich, bei der ich mich, sollte sich wiederum nichts von Ihnen hören, melden werde. Denn dieser krasse Fall einer falschen Therapie mit verheerenden Konsequenzen für meine Lebensqualität über einen langen Zeitraum hinweg wird nicht „ausgesessen“.  Das wird weiterhin thematisiert, mit jeder mir zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeit.

Hochachtungsvoll, usw.

2022 26 Feb

My musical archetype

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It was in the early 90s, when I sat together with two other students in one of the guy’s room. We had met to discuss some kind of stuff, no private things. The guys were befriended and shared their position, so I felt a bit lost in my orange plastic armchair. It was a tiny room in a Student Residence, with beautiful wooden furniture. The first thing I noticed when I entered the room was an impressive record collection, about 80 cm, I guess, and we were still young. I don’t remember the name of the student whose room we were in, I just remember that he kept taking the few steps to the record player and putting on another record or turning the record over. He did it as a matter of habit, a ritual. The music played quietly, you could listen to it or not. As for me, the music transported me far away, somewhere I had never been. I asked him about the music, but he didn’t seem like he wanted to make that an issue. I didn’t understand the band’s name and I didn’t dare to ask once more. I would have loved to browse the record collection or – even more tough – to stay in this room for a few days, just for my own. I remember the music, but I remember it in a subconscious way. In fact I don’t remember it at all, but I’ve been searching it since then.

„Naked Truth“, das mag grossspurig klingen, in einer Zeit, in der nichts so leicht zu verbiegen und deformieren ist wie schlichteste Fakten und Wahrheiten. Doch lauscht man dieser neunteiligen Suite des Avishai Cohen Quartetts vom ersten bis zum letzten Ton (und nur so macht es Sinn), wird kaum jemand eine Spur von Pathos ausfindig machen – das ist tatsächlich „nackte Musik“ fernab von Verzierungen, selbstgenügsamen Kunstgriffen, edlen Wallungen. Und jeder der vier Musiker waren sich bewusst, dass der existenzielle Kern dieses Albums das Gedicht „Departure“ von Zelda Schneurson Mishkovsky ist, dessen englische Übersetzung aus dem Hebräischen dem Album beiliegt – Avishai Cohen trägt es im Finale fast seelenruhig vorträgt – ein Gedicht, das, manch schockierenden Zeilen zum Trotz, auch Trost, Akzeptanz und Dankbarkeit bereithält – es beginnt so … 

 

„Es ist notwendig, mit dem Abschied von der Pracht des Himmels und den Farben der Erde zu beginnen, allein zu stehen und sich der Stille des Todes zu stellen, sich von der Neugierde zu trennen, sich von den Worten zu trennen, von all den Worten, die ich gelesen und gehört habe. Und vom Wasser, das ich gesehen habe und nicht gesehen habe. Zu sterben, ohne das Meer gesehen zu haben. Ich trenne mich von der Luft der Nacht und von der Luft des Morgens. Vom Unkraut, von einem Obstbaum und von einem kahlen Baum, vom schwachen Licht und von den Sternen. Verzichte auf den Anblick eines fliegenden Vogels, verzichte auf den Anblick eines Tieres oder eines Insekts, verzichte auf meine Freunde und Kameraden, verzichte auf die feuchteste Aufregung und auf die Angst vor dem undurchsichtigen Wahnsinn.“

2022 22 Feb

Zur Russland-Krise

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Wenn Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht reden, schwingt subtil der alte Kader-Muff längst vergangener kommunistisch-totalitärer Regime mit. Die Wagenknecht leiert in sturer Weise ihren immergleichen Sermon ab, auch wenn sie in Teilen Recht haben mag und ihre Klugheit unbestritten ist: wer bockig ist, dem glaubt man nicht. Philosoph Richard David Precht brachte es einmal im Gespräch mit der Vorzeige-Linken auf den Punkt: „Mir fehlt in Ihrer Weltanschauung das positive Bild, die motivierende Utopie!“ Ja, alles Grau-in-Grau und strikt antiamerikanisch, wenn so jemand Königin von Deutschland wäre. Man versucht ja immer, Argumenten gegenüber offen zu bleiben, aber als sie sich neulich bei Anne Will wie gewohnt und ohne das geringste sotto voce in monoton sägendem Sprachfluss ergoss, schaltete man entnervt ab.

 

„Die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine durch die russische Regierung unter Wladimir Putin ist ein Schurkenstreich erster Güte, ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, eine widerrechtliche Annexion fremden Territoriums.“

(Telepolis)

 

Das ist die Lage, aus dem Mund von Kader-Linken hört man Solcherlei vergebens. Auch wenn Amerika Europa gegenüber in fast dummdreister Arroganz eigene Interessen vertreten mag, auf russische Öllieferungen in gigantischem Ausmass nicht verzichten, den Deutschen aber Nord Stream Zwei verbietet will: mit Putin kann man nicht gemeinsame Sache machen. Der sogenannten „Nato-Osterweiterung“ liegt ja das Selbstbestimmungsrecht der Völker zugrunde. Das soll nun von den Machtphantasien penetrant beleidigter Irrer rückgängig gemacht werden? Wer jetzt noch so blöd ist, mit dieser kriminellen Kreml-Mischpoke verhandeln zu wollen, dem ist wirklich nicht zu helfen. Scholz und Macron hätten sich ihre Bemühungen sparen können. Sie wurden von einem komplexbeladenen Schmierenkomödianten gründlichst verarscht.

 

 


Just all the right (and leftfield) notes in a very silent way. Deep listening is rewarded in regards to some new and forthcoming albums that reach from soft drone to neo classical, from radical chamber jazz to wind-swept, sun-parched guitars. No time for easy listening even if listening seems easy (and who says so). Moving along the point of vanishing seems to be the ethos on Mark Nelson’s Pan American opus (Martina‘s secret favourite) – „12 songs are given just enough space to develop a clutch of themes, mostly on guitar, which are then wrapped in textural detail via effects and subtle electronics“. Or the lovely music from Korean drone queen Park Jiha: slow music gradually moving from morning reveille “At Dawn”, with the especially lovely “Nightfall Dancer” soothing at the day’s end. Roger Eno is mixing colours again, on „The Turning Year“ (to be released in April, along with Joep Beving’s piano meditations) – masterly executed with blurred horizons (the piece „Intimate Distance“ made me think of switching a tiny light on in one of my favourite, almost pitch-black, Rothko paintings). Did you ever follow a tensely plotted dulcimer through a fog of scraped strings? Abd then, Trumpet player Avishai Cohen‘s take on naked music (let us avoid the word „awesome“, but how do so?) – listen to the words of drum master Ziv Ravitz below! „Naked Truth“ is, in the words of John Fordham  „a barely-40-minute miniature of an album, beautifully executed and steered by the idea that improvising musicians good enough to play any headlong stream of consciousness can reveal a lot more if they sometimes play only a fraction of what they know.“ All has been said (and not enough) on Group Thinking‘s „Wohnzimmermusik“. When asked for a recording anecdote Stephen Black said: „
Nothing particularly exciting, just your usual next door’s dog barking, or the sound of a pigeon in the chimney breast. It was fuelled by coffee and cheap bread.“ And then Joep Beving‘s courageously hypermelodic attempt on letting notes hang in the air – a little bit longer (it impressively worked as part of a trance work with a client of mine). And Richard Williams is diving deep into the blue moments of 21st century Frippertronics: „Miraculously, at least to my ears, the risk of passivity is avoided. Some tracks, like “Strong Quiet I and II” from Brussels in 2009, feature an improvised solo guitar line over the drifting clouds of sound: recognisably Fripp, completely lacking in ego-play, always worth following where they lead.“ A garden of treasures indeed. If earthly or unearthly, you may decide for yourself. A solitary evolution in sound anyway: so close to, and so far away from, the heartbreaking spaciousness of side one of the Eno/Fripp ancient ambient expedition „Evening Star“. One instant ECM classic, and some other „most beautiful sounds next to silence“. Be prepared.

 

 

 


Park Jiha: The Gleam 

Group L i s t e n i n g : Clarinet & Piano: Selected Works, Vol. 2 
Roger Eno: The Turning Year 
Pan American: The Patience Fader 
Avishai Cohen Quartet: Naked Truth    
Joep Beving: Hermetism
Robert Fripp: Music for Quiet Moments

2022 20 Feb

Gespenster

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Die Kindheit ist voller Gespenster, wer erinnert sich nicht?! Gute Geister waren auch dabei. Ich hatte ein paar Heldinnen und Helden, die mich durch die frühen Jahre begleiteten: da war Robert Fuller von „Am Fuss der blauen Berge“, da war „Okko“, der verlässliche Freund aus hunderten von Träumen, in denen ich die aufregendsten Abenteuer zu bestehen hatte. Wenn die Gefahr am grössten wahr, brauchte ich ihn nur zu rufen, und er eilte herbei. Es waren gefährliche Situationen, in denen ich mich wiederfand, in der weiten Prairie, in exotischen Landschaften. Überall konnte, wie bei Karl May, das Finstere lauern. Meine Geschichten  mit Okko, und der Umstand meiner ersten  Initiation in 1001 erotische Nacht, in Serienträumen, in denen eine ranke Schönheit von braunem Teint – ich nannte sie die „Farbenfrau“ – mich von hinten sanft umschlang mit ihren Armen, während ich wieder und wieder und wieder am Rande eines Swimmingpools sass. Eine moderne warme Höhle. Ein seltsames Glücksgefühl durchströmte mich in ihrer Gegenwart (ich war keine sieben Jahre alt), und da prägte sich mir sicherlich mein „Urtyp“ ein, eine androgyne Erscheinung, eine Macht, der ich nicht widerstehen konnte noch wollte. Aber reiner Schrecken war natürlich auch eine Option, immer, überall, zum Beispiel hier: England im späten 19. Jahrhundert. Die Gouvernante Miss Giddens wird in einem entlegenen Landhaus mit der Erziehung der wohlerzogenen Waisenkinder Flora und Miles beauftragt. Voller Eifer widmet sich Miss Giddens der Arbeit. Aber dann. Dieser Gruselschocker entging mir in meinen Babyboomerjahren: „The Turning of The Screw“ (1961) wurde zu „Das Schloss des Schreckens“. Er kam in die Kinos, als ich nachts noch ausritt mit Okko und die Farbenfrau mir Lektionen völliger Hingabe erteilte. Sweet surrender! Und morgen also Deborah Kerr in meinem „electric cinema“. Reisen in die Kindheit ohne Flipper und Fury, und ohne die Monkees! Das Unheimliche kennt keine Dunkelziffer.

 

2022 19 Feb

Electronic Vibrations

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Derzeit in der arte-Mediathek, wundersamerweise nicht mal geogeblockt: Thomas Steinaeckers 50-minütiger Film Electronic Vibrations, Untertitel: Ein Sound verändert die Welt.

Drunter tun wir’s nicht. Schon der Einstieg zeigt, wie sehr sich die Wahrnehmung elektronischer Musik in den letzten Jahren in ein ganz anderes Genre verschoben hat. Wer heute mit 20-Jährigen über elektronische Musik spricht, muss darauf gefasst sein, dass die darunter völlig selbstverständlich Tanzmusik verstehen. Da ist ein Blick zurück sicher sinnvoll.

Der Film ist arte-typisch Frankreich-orientiert und beginnt gleich mit einem Missverständnis. Die Anfänge der elektronischen Musik werden vor allem in Frankreich verortet, insbesondere bei Pierre Schaeffer. Dessen Musique concrète war in der Tat hochinteressant und ist auch heute noch hörenswert, aber sie hatte (1.) nichts mit elektronischer Musik zu tun, sondern mit Schallplatten, später Tonbändern und aufgezeichneten Originalklängen, und (2.) war Schaeffer keineswegs der erste, der sich an solchen Werken versucht hat. Der erste, dabei würde ich immer bleiben, war Walter Ruttmann mit seiner Klangmontage Weekend von 1930. Da es noch keine Tonbänder gab, kam Ruttmann auf die Idee, Lichttonfilm zu verwenden. Den konnte man schneiden und beliebig montieren. Selbst die große Lotte H. Eisner war begeistert von dem Resultat. Aber wie gesagt: Mit elektronischer Musik haben solche Montagewerke nichts zu tun, ebensowenig wie die im Film erwähnte „Revolution No. 9“ vom Weißen Album der Beatles (das eigentlich ohnehin nur zeigt, dass sie Stockhausen nicht so ganz verstanden hatten).

Bis zum nächsten Missverständnis dauert es nicht lange. Natürlich kommt man an der Pionierrolle Karlheinz Stockhausens nicht vorbei, und was sein Sohn Simon zu dessen Werk zu sagen hat, ist allemal spannend. Da bewegen wir uns in der Mitte der 1950er Jahre, das legendäre Studio für Elektronische Musik wurde im tiefen Keller des WDR-Funkhauses gegründet und „Elektronische Musik“ groß geschrieben, weil man das, was dort produziert wurde, als eigenständiges Genre wie Jazz oder Streichquartett ansah. Dass Stockhausens erste vollelektronische Studien einiges von den Hörern verlangt haben, ist sicher; mehr noch der legendäre Gesang der Jünglinge, der, weil leicht auf YouTube auffindbar, wahrscheinlich in vielen Fällen das einzige ist, was man von Stockhausen überhaupt kennt. Dass es allerdings, wie der Film behauptet, bei der Aufführung vor Publikum im Sendesaal zu Schlägereien gekommen sei, ist ebenso ein Märchen wie die angebliche Massenpanik bei der Ausstrahlung von Orson Welles‘ Hörspiel War Of The Worlds oder der Aufruhr bei den Uraufführungen von Stravinskys Sacre du Printemps oder Ravels Bolero. (Aber jeder Komponist hätte sich solches natürlich gewünscht.) — Das Missverständnis liegt hier darin, dass der Film mit Ausschnitten zu zeigen versucht, Stockhausen habe die Erfahrungen mit seinen elektronischen Werken auf das Orchester übertragen. Nein, hat er nicht! Werke wie Carré für vier Orchester und vier Chöre oder Gruppen für drei Orchester spielen vor allem Stockhausens Idee durch, instrumentale Klangfarben und Klangmischungen und ihre räumliche Positionierung in den kompositorischen Prozess einzubeziehen, und er tat das, etwa in Punkte für Orchester, lange vor den elektronischen Kompositionen. Diese Erfahrungen hat er dann auf seine elektronischen Werke übertragen. Es mag gewisse Gleichzeitigkeiten gegeben haben — aber wer seine Werke kennt, weiß, dass das ein Lebensthema für ihn blieb.

Und so geht es weiter. Die alte Mär von der musikalischen Wüste im Deutschland der 1960er Jahre, in denen es angeblich nur schreckliche Schlager und sonst nichts gab, darf nicht fehlen, und die selige ach so wilde 68er Zeit desgleichen. Dass Autobahn 1974 ein Geniestreich war, ist unbestritten, dass damit ein neues Musikgenre erfunden wurde, darf man aber anzweifeln — elektronische Popmusik gab es schon vorher. Ralf Hütters Spruch „Wir können nicht so gut reden, deshalb machen wir Musik“ wird ebenso unvermeidlich hervorgekramt wie die falsche Feststellung, der DJ Afrika Bambaataa habe in seinem „Planet Rock“ Samples aus Kraftwerks „Trans Europa Express“ verwendet. Nein, hat er nicht! Er zitiert kurz das Stück, und das auch noch falsch. Das ist alles. Und natürlich darf nicht fehlen, dass daraus Hip-Hop, Acid House und sonstnochwas hervorgegangen ist. Als ob Musiker wie Quincy Jones oder Herbie Hancock wirklich auf Kraftwerk angewiesen gewesen wären, um groovende Rhythmen zu zaubern — ich denke ja, Miles Davis‘ On the Corner war da sehr viel wichtiger, auch wenn die heutigen Musiker das vielleicht gar nicht mehr wissen. Und plötzlich ist man dann holterdipolter in der Love Parade. Aber geschenkt, 50 Minuten sind halt nicht länger.

Trotzdem ist Electronic Vibrations sehenswert. Jean-Michel Jarre, Jan Werner, Peter Baumann und einige andere vermitteln durchaus nachdenkenswerte Einblicke, auch werden einige Künstlerinnen und Künstler vorgestellt, die sich mit der Elektronik befasst haben und von denen ich nie gehört habe. Dass dabei ein Name wie Oskar Sala fehlt, ist bedauerlich. Die unterschiedliche Herangehensweise deutscher und amerikanischer Musiker an den Synthesizer und die resultierende unterschiedliche Musik wird immerhin angedeutet, wenn auch nicht ausgeführt. Aber siehe oben: Man kann in 50 Minuten ein so umfangreiches Feld wie die Geschichte der elektronischen Musik nicht komplett beackern. Der Film gibt eine Menge Anregungen, mal wieder in die Plattenkiste zu greifen.

 

Ich ahnte es, als ich erste Beschreibungen des Albums las, und ich wusste es, als ich die Schallplatte zum ersten Mal hörte. Und mich wunderte auch nicht mehr, dass ich beim Zusammentragen einiger Hintergründe bemerkte, dass Robert Wyatts „Maryan“ und Brian Enos „Julie with …“ auf der Playlist ihrer ersten Sammlung von Coverversionen für Piano und Klarinette  auftauchen. Genauso wie Arthur Russell und Roedelius. Ich habe das Teil leider nie gehört. „Volume 2“ ist jedenfalls ein dermassen bezauberndes Werk dieses walisischen Duos namens „Group Listening“, dass ich schon nach dem ersten Hören zwanzigtausend Zeichen dazu aus den Gedanken schütteln könnte. Es tauchen auf „Volume 2“ auch mehr Klangquellen auf als die beiden einmal mehr so spröde angeführten (p, cl). Und wieder sind es alles Coverversionen – obwohl die Ursprünge wesentlich weiter voneinander entfernt sind als bei „Volume 1“, realisiert das Duo einen entspannten wie zwingenden „erzählerischen“ Bogen, und ich bin schlicht beglückt von dieser Platte, in der auch mal Teile eines Telefongesprächs vorkommen, eine rhythm box, die wie von den Young Marble Giants geborgt klingt, und am Schluss scheinen die Zwei durch abenteuerlich matschiges Marschland zu stiefeln (so endet ihre Version von „Seeland“ von „Neu!“ – wie schreibt ein Hörer auf youtube zum Original: „The rain wakes you up at the end“). Aber das ist vielleicht nur eine Halluzination meinerseits. Durch diese zehn Aneignungen und Entdeckungen, die mehr Wert auf natürliche Wohnzimmeratmosphäre legen als auf gestochen scharfe Klangaufzeichnung (auch, weil sie nun mal in einem Wohnzimmer entstanden), taumeln so viele hinreissende Eingebungen des Augenblicks, dass ich aus dem Staunen kaum rauskomme. Das erste Stück heisst „Sunset Village“ und ist ihre Deutung der Komposition aus Beverly Glenn-Copelands „Keyboard Fantasies“. Ich wünsche eine gute Reise.

 


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