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2017 31 Jan

Philip Glass & Koyaanisqatsi

von: Hans-Dieter Klinger Filed under: Blog | TB | Tags: , | 3 Comments

Wenn ich ins Filmtheater gehe, suche ich einen Platz in der Mitte des Raumes. Meistens habe ich dann freie Sicht auf die Leinwand, sie erscheint so groß, dass man nicht alles gleichermaßen im Blick hat, die Augen können und müssen im Bild wandern und seit Jahren kommt der Schall nicht nur von vorne, sondern von allen Seiten. Ich bin ja froh, dass die meisten Besucher andere Gründe für ihre Platzwahl haben.

Bei vielen Filmen, die ich im Kino anschaue, verlasse ich als letzter den Saal, so etwa bei Wiplash oder The Revenant. Schuld daran ist die Filmmusik. Die Namen der vielen Mitarbeiter ziehen vorbei ohne dass ich mich bemühe, sie mir zu merken. Aber es passiert hin und wieder, dass ein Name aufhorchen lässt – wenn ich das so sagen darf.

 
 
 

 
 
 

Heute wird Philip Glass 80 Jahre alt. Deshalb habe ich vor einigen Stunden Koyaanisqatsi wieder gesehen, am Bildschirm. Der Film verdankt seinen andauernden Ruhm nicht nur, aber auch der Musik von Philip Glass. Andererseits hat in den frühen 80er Jahren gerade dieser Film die Popularität des Komponisten Glass außerhalb des Kreises der Minimal Music Kenner beträchtlich gesteigert.

In den letzten 35 Jahren hätte ich auf die Frage nach Godfrey Reggio passen müssen. Dass Walter Bachauer als Music Consultant und als Dramaturg Anteil nahm, weiß ich erst seit der Lektüre eines Essays von Walter Bachauer, erschienen in

 
MusikTexte – Zeitschrift für Neue Musik Heft 3, Februar 1984

Verlag MusikTexte Köln

Postfach 190155, 50498 Köln

 

Dieser „Filmreport“ dürfte nur für jene von Interesse sein, die den Film Koyaanisqatsi schätzen und gelegentlich wiedersehen. Ich darf ihn mit freundlicher Genehmigung von Gisela Gronemeyer (Verlag MusikTexte) hier vorstellen. Wegen seiner Länge erscheint er in der Kommentar-Rubrik.

 
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3 Comments

  1. Hans-Dieter Klinger:

    Ein Leben außer Balance und Kontrolle

    Zur Entstehung des Films „Koyaanisqatsi“ von Godfrey Reggio und Philip Glass

    Ein Report von Walter Bachauer

    Im Team der Filmemacher von „Koyaanisqatsi“ hat der österreichische, in Berlin lebende Musikjournalist, Veranstalter, Produzent und Musiker (Pseudonym: Clara Mondshine) Walter Bachauer die Rolle des Dramaturgen ausgefüllt. Sein Report ist damit zugleich ein Report der eigenen Arbeit.
     
     

    „Koyaanisqatsi“ ist ein Wort aus der Sprache der Hopi-Indianer, von denen heute eine kleine Rest-Population, der Abglanz ehemaliger Stammesgröße, in den Reservaten des amerikanischen Westens wohnt. Die Hopis haben sich, gegen alle Versuche der Eingemeindung in den american way of live, ein Stück ihrer traditionellen Kultur bewahrt. Sie halten ihre Sprache am Leben, einige ihrer Rituale, wie etwa das Regenmachen, und sie hören auch noch auf einen Rat älterer Männer, die sich in der Kunst der Prophetie auskennen. Die Hopisprache liebt vieldeutige Worte wie dieses „Koyaanisqatsi“ Es kann einen Zustand des sozialen Wahnsinns bezeichnen, ein Leben außer Balance und Kontrolle, eine Existenz, deren Grundlagen rechtzeitig verändert werden sollten, bevor sie in Schutt und Asche fällt. Mit dem Wort ist eine alte Weissagung verbunden. Die Hopi-Philosophen behaupten, das Ende des Stammes und der ganzen Welt sei an einem Zeichen am Himmel abzulesen. Er würde sich, wenn es an der Zeit sei, mit Spinnen-Netzen überziehen. An manchen Stellen des Bundesstaats Arizona erblickt man jetzt am Horizont ein gigantisches Geflecht von Überlandleitungen, die zu den Zentren der Netze führen, jenen Kraftwerken, die den Energie-Moloch Kalifornien mit Strom versorgen. Die Hopis reden bei diesem Anblick von „Koyaanisqatsi“.
     

    Das Wort „Koyaanisqatsi“ steht nun als Titel über einem Film, der den Zustand unserer Zivilisation gleichsam mit den Augen der Indianer-Priester beschreibt: als ein Leben in den Fesseln der Supertechnologie, der Maschinen, der Fahrzeuge, der unkontrollierbar wachsenden Metropolen, in denen das menschliche Individuum zu einem Rädchen der computergesteuerten Produktion herabsinkt. Die Mittel des Films sind spartanisch. Es tritt kein Schauspieler auf, kein predigender Ideologe, es gibt keine dramatische Story, ja es fällt nicht ein einziges Wort des Kommentars. Die Bilder entstammen der Realität, der amerikanischen Gegenwart. Ihr einziger Widerpart ist Musik, ein gewaltiges Filmscore des New Yorker Komponisten Phil Glass. Man könnte sagen, „Koyaanisquatsi“ sei der erste Film, der abendfüllend mit nicht-verbalen Mitteln auskommt und eine schwerwiegende politische Botschaft allein mit Bild und Klang verkündet, ein Film, der nicht zuletzt in keinem Land der Welt der Synchronisation bedarf.
     

    Die Geschichte der Entstehung von Bildern und Musik für „Koyaanisqatsi“ ist erzählenswert, fast selbst Stoff für einen Film. Er könnte zeigen, daß die Medien-Industrie des amerikanischen Westens eben doch nicht nur in Star-Wars-Mythen und Begegnungen der dritten Art zu schwelgen versteht, daß sie den Auftritt kritischer Außenseiter durchaus zuläßt und sogar finanziert. Die Geschichte beginnt in Santa Fé, New Mexico, Ende der sechziger Jahre. Ein junger Mönch des Christian Brothers Teaching Order, Godfrey Reggio, nimmt sich vor, die Lehrtätigkeit des Ordens auf ein unkonventionelles Feld zu führen. Er geht auf die Straße, zu denen, die elementare Unterweisung im Lesen und Schreiben am dringendsten brauchen. Reggio freundet sich mit den Führern der jugendlichen Straßenbanden von Santa Fé an. Sie tolerieren bald, daß er in ihrer rauhen Wirklichkeit die Botschaft des Alphabets verkündet und Konflikte mit Polizei und Behörden schlichtet. Reggio erkennt aber sehr schnell, daß die Probleme dieser Jugendlichen das Krankheits-Symptom einer ganzen Gesellschaft sind. Er beginnt sich für die Krankheit selbst zu interessieren und sucht nach Kanälen, die gewonnenen Einsichten zumindest in New Mexico einer Majorität von Menschen mitzuteilen. Er produziert Werbespots für die lokalen Fernsehstationen. Darin wird nicht geworben, sondern gewarnt. Reggio führt dem Zuschauer etwa vor Augen, wie tief das Computersystem der Banken und Kreditkarten-Organisationen bereits das private Leben durchleuchtet. Jeder Besitzer einer Tankstelle kann über Terminal die Kreditwürdigkeit seines Gegenübers prüfen, und in den Zentralen des Big Money wissen die Datenbanken so gut wie alles über die ökonomische Situation von Millionen Amerikanern. Reggios Warnungen vor der Allmacht der großen Brüder bedienen sich einer klaren optischen Sprache. Andere Massenmedien greifen das Thema auf. Bald finden sich reiche Neu-Mexikaner, die weitere Sendezeiten für die Kampagne finanzieren, und man gründet eine Stiftung unter dem Namen „Institut für Regionale Erziehung“, in der die Spenden aufgeschreckter Bürger zusammenfließen. Auf solcher Basis entsteht 1973 der Plan zu einer groß angelegten Filmproduktion. Sie beginnt ohne Drehbuch, gleichsam als eine Sammlung von Bildern, von filmischen Metaphern, die keiner weiteren Worte bedürfen. Reggio will nicht als Priester auftreten, er will Beweise für die Selbstzerstörung der Gesellschaft vorlegen, die jeder versteht. Für ihn und seinen Kameramann Ron Fricke beginnt eine siebenjährige Odyssee quer durch den amerikanischen Kontinent. Viele der entstehenden Aufnahmen sind Schnappschüsse, die man nur mit Geduld oder Glück, meist auch nur einmal an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt aufs Zelluloid bekommt. So ist das Team dabei, als die Trabantenstadt Priut Igoe, ein Vorort von St. Louis, aufgegeben, geräumt und gesprengt werden muß. In den neuen Betonklötzen war die Kriminalität auf ein für die Polizei nicht mehr beherrschbares Maß gewachsen.
     

    Neben solchen filmischen Unikaten entstehen aber auch Bilder des Alltags. Nur ist er darin kaum wiederzuerkennen. Frickes Kamera entzieht sich unserer normalen Sehweise. Mit einer eigens konstruierten Bildsteuerung für extreme Zeitlupen und Zeitraffer wird der Code des Auges manipuliert und die gewohnte Wahrnehmung in Frage gestellt. Man sieht die Welt wie durch das Objektiv eines „Alien“, eines Besuchers aus fernen Galaxien, der die irdische Zivilisation in verschiedenen Zeitrastern betrachtet, mit Staunen und partiell auch mit Abscheu. So kann man in den ultraschnellen Bildfolgen sehen, wie der Mensch Maschinen baut, die er zu steuern glaubt, von deren Bewegungsmechanismus er indes so abhängig ist, daß man sagen kann: sie steuern ihn. Zeitraffer-Aufnahmen von den nächtlichen Freeways, den Arterien von Los Angeles, zeigen den stetigen Strom dahinschießender Lichter, die nur noch in der Summe wahrnehmbar sind. Die Stadt selbst ist zum Organismus geworden, Fahrzeuge und Insassen zeigen sich als austauschbare Lichtpunkte ihres Energiefelds. Sieht man sie durch die Straßenkanäle der Metropolis sausen, ist man um eine Illusion der Freiheit ärmer.
     

    Äußerst schwerwiegend wurde deshalb die Frage, welche Musik derlei Bilder tragen könnte. Am Ende würde sie ja, da keine Erzählform existiert, ganz und gar disparate Visionen klanglich zusammenfügen, Bilder zumal, die das Tempo der filmischen Wahrnehmung nicht respektieren, jedenfalls nicht den Zeitcode von Hollywood-Produktionen. Für die Komponisten der Film-Industrie von Los Angeles gilt indes immer noch der schon vom emigrierten Hanns Eisler geschmähte Satz, Filmmusik dürfe alles, nur dürfe sie nicht hörbar sein. Sie ist hier stets die treue Sklavin der Regie. Ärmlich gedrehte oder zu lange Einstellungen werden mit symphonischem Brimborium einfach zugekleistert, Schauspieler, die keine Gefühle wecken können, dürfen sicher sein, daß ein komponierender Routinier ihnen beispringt. Diese Leute verfügen über ein Arsenal emotionsweckender oder -dämpfender Techniken. Es sind meist dieselben Mittel, die schon im Hollywood der fünfziger Jahre wirkten: Leitmotive für die Hauptpersonen, Streicher für die Liebesszenen, große orchestrale Orgelpunkte für die Weite der Landschaft, Elektronik für das Fiktive.
     

    Ein Film wie „Koyaanisqatsi“ muß natürlich auf derlei kalkulierte Wirkungen verzichten. Die Philosophie, daß allein Bilder und Musik die Botschaft tragen, fordert zumal eine neue Rolle der Komposition. Sie kann nicht Begleitung, sie muß Kontrapunkt sein, autonomes Element in einer beinahe musikdramatischen Konzeption. Wahrscheinlich hätte man vor 1970 kaum einen Musiker gefunden, der mit Godfrey Reggios Vorliebe für äußerst rasche, maschinelle und vielfach auch wiederholte Bildsequenzen zurechtgekommen wäre. Gerade während der Dreharbeit aber hatte sich in der New Yorker Avantgarde um Steve Reich und Phil Glass der Stil des musikalischen Minimalismus durchgesetzt, eine Musik der Repetitionen, nicht selten in aberwitzigen Tempi vorgetragen. Mit seiner zusammen mit Robert Wilson verfaßten Oper „Einstein on the Beach“ hatte Phil Glass bewiesen, wie gut dieser Stil aufs Theater paßt, ja daß er geradezu Bilder und Szenen herbeiruft und in eine ganz neuartige Bewegung bringt. Nun sollte Glass diesen Beweis auch für den Film antreten.
     

    Die Geschichte dieser Filmpartitur zu „Koyaanisqatsi“ läßt sich als eine Serie von künstlerischen Glücksfällen beschreiben. Als Godfrey Reggio und Phil Glass zum ersten Mal in New York zusammentrafen, stand keineswegs schon fest, daß der Komponist der rasenden, ekstatischen Wiederholungen innerhalb kürzester Zeit zu Weltruhm kommen würde. Glass akzeptierte das Angebot des Filmteams offensichtlich aus rein experimentellem Interesse. Erste Filmsequenzen, die er zu sehen bekam, hatten ihm eine Art Wahlverwandtschaft mit dem strukturellen Denkens des Regisseurs gezeigt. Aber es hätte damals keinen Sinn gemacht, ein fertiges Stück auf Probe zu komponieren. Man war noch inmitten der Sammlung von Materialien, hatte zumal keine Vorstellung, wie sich die tausend kleinen Einzelthemen von „Koyaanisqatsi“ zu einer Form von 90 Minuten Dauer aneinanderfügen könnten. Jahre später, Anfang 1980, war die Filmarbeit in ein Stadium getreten, das praktisch keine neuen Dreharbeiten zuließ. Auch die gutwilligen Mäzene machten deutlich, daß sie Geld nur noch für den Schnitt, die Fertigstellung und eine weltweite Distribution geben würden. Auch Francis Ford Coppola, der das Projekt stets wohlwollend gefördert hatte, mochte sein Renommée allenfalls für die Endproduktion einsetzen. Godfrey Reggio mietete also ein kleines Industriegebäude in Venice, einem südlichen Stadtteil von Los Angeles. Man richtete sich mit Schneidetischen und einem Tonstudio ein, tausende Meter Film lagen wohlgeordnet in den Regalen. Genau dies aber erwies sich als ein Augenblick der Wahrheit. Reggio stand vor einem Museum der Bilder, die seine kritische Vision perfekt verkörperten, doch gab es niemanden, der jetzt einen Schlüssel zu ihrer endgültigen Filmform hatte. Sollte es eine Montage sein, ein Epos vom nahen Untergang der Zivilisation oder gar ein dramatisches Gedicht in Bildern. Kaum jemand hatte es bislang gewagt, ohne Story, ohne Darsteller abendfüllendes Kino zu machen. Hier aber, in „Koyaanisqatsi“, war genau das die Vorgabe. Erfahrene Filmcutter kamen aus den Hollywood-Studios, um sich anzusehen, was das Mosaik der Sequenzen hergeben könnte. „Erfahren“ heißt aber in Hollywood: man weiß, wie ein Filmdrama geschnitten wird. Totalen und Großaufnahmen, Zwischenschnitte und Bewegungsabläufe, all das hat im konventionellen Film einen Rhythmus, den das Drehbuch ohnehin weitgehend festlegt. Hier aber gab es weder Drehbuch noch Szenario, eine Situation, die zum offenen Experiment einlud und daher alle erdenklichen Risiken des Scheiterns barg. Manche der Schnitt-Professionals zeigten sich begeistert über die Chance einer so freien Arbeit. Sie schwärmten von Eisensteins Montage-Techniken, von René Clair und dem frühen Bunuel – und gingen teils auch tatsächlich an die Arbeit. Sie würfelten Bilder und Themen durcheinander, immer auf der Suche nach gut aussehenden Schnitten und Blenden. Aber die Botschaft des Films wollte sich in derlei schönem Chaos nicht zeigen. Das Gefühl der Krise dieser Arbeit wurde nicht selten so vehement, daß das Team an der möglichen Vollendung von „Koyaanisqatsi“ zweifelte. Es wurde Zeit, sich noch einmal von Grund auf zu überlegen, wie nonverbale Filme überhaupt funktionieren könnten. Die älteren europäischen Montage-Filme, selten länger als eine halbe Stunde, konnten als Modell für dieses Großprojekt nicht herhalten. In einem Langfilm muß der Zuschauer an einen Punkt der Identifikation kommen, von dem aus sich die Sache mit zunehmendem Interesse verfolgen läßt. In einem Film ohne Schauspieler kann nur die Kamera selbst der Standort des Zuschauers sein. Er reist gleichsam mit ihrem Auge durch die Szenerien und will die Zusammenhänge verstehen, ja geradezu lesen können. Nun gab es aber im Material von „Koyaanisqatsi“ kaum vereinbare Kontraste. Man hatte einerseits herrliche Symbole der unberührten Natur, Aufnahmen von Steinformationen in der Wüste oder von Wolkenlandschaften rund um die Vulkankegel von Hawaii. Andererseits zeigte der Film die unglaublichen maschinellen Perversionen der Fließband-Arbeit oder einen Schuß auf die New Yorker Park Avenue, der das Leben der Städtebewohner im sturen Rhythmus der Verkehrsampeln auf groteske Weise sichtbar werden läßt. Kurz, der Standort des Zuschauers als eines Reisenden muß durch eine Synthese, eine übergeordnete Idee gefunden werden, die ihn mit einem gewissen Anflug von Logik durch die disparatesten Landschaften der Erfahrung trägt. Einer der interessantesten Teile der Filmarbeit glich also der Lösung eines Vexierspiels. Und wie immer bei dieser Art von Rätsel liegt die Lösung fast auf der Hand. Sie ist eine reine Frage der Intuition.
     

    Man ging also am Schneidetisch noch einmal die Stapel der Filmrollen durch und fand, das einzig wirklich verbindende Element sei der Stil der Bilder, dieser seltsam außermenschliche Blick auf das Allzumenschliche unserer Zivilisation. Warum also sollte nicht tatsächlich ein Außerirdischer, gewissermaßen als heimlicher Hauptdarsteller und Inkarnation des Zuschauers zugleich, die Reise durch „Koyaanisqatsi“ antreten. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit würde er auf der Erde in einer Wüstenzone landen. Er könnte zu dem Schluß kommen, der Planet sei unberührt und unbewohnt. Er würde dann vielleicht die bewegten Naturformationen studieren, würde Flüsse und Ozeane entdecken, Wolkenbilder und Pflanzenwachstum. Es gibt menschenleere Gegenden auf der Erde, im Film gut dokumentiert, die durchaus den Gedanken zulassen, ein Außerirdischer könnte die Schönheit dieser Teile des Planeten eine ganze Weile genießen, bevor er auf intelligente Bewohner stößt. Und wie könnte diese Begegnung aussehen? Es wäre denkbar, das fiktive Wesen stößt zuallererst auf ein Flugzeug, ein Auto, irgendein Vehikel, das ihm suggeriert, so sähen die Lebewesen der Erde aus. Das Filmmaterial zeigte dazu großartige Schüsse auf Jumbojets, die wie gigantische Insekten aus flimmernd heißer Luft auftauchen, und auf Autoschlangen, die sich im Format von gegliederten Riesenwürmern bewegen. Aber natürlich würde der Außerirdische sich nicht lange narren lassen und die Menschen hinter all ihren gespenstischen Fahrzeugen entdecken. Neugierig würde er den Strömen des Verkehrs folgen und in irgendeiner Stadt ankommen. Im Film ist es eine Mischung aus New York und Los Angeles. Als ein Exemplar der nächsten Generation von Bio-Computern kann unser Gast die Zeitstruktur seiner Wahrnehmung verändern, er kann sich wohl auch unsichtbar machen und die internsten Vorgänge unserer Welt in aller Ruhe betrachten. „Koyaanisqatsi“ zeigt zunächst, wie er die Makrostrukturen sehen könnte: die Gleichschaltung der menschlichen Abläufe durch die Regelsysteme der Großstadt, die engen Raster der Superzivilisation, in denen der einzelne wenig Wahl hat, weder auf der Rolltreppe, noch in der Subway oder an den Sammelpunkten der Massen. Wege, ja sogar Bewegungen, sind hier vorgeschrieben. Vielleicht würde der Besucher zu dem Schluß kommen, die universale Metropolis selbst sei das Lebewesen und die Menschen nur Blutkörperchen in ihren Adern, vergängliche Funktionsträger, die entstehen und absterben. Bestärkt würde er in dieser Ansicht, wenn er die industrielle Seite des Gestirns unter die Lupe nimmt. Mit ungeheurer Präzision hängen die Menschen im Takt ihrer Produktionsmittel fest, ob an der Schweißstraße für Autokarosserien oder an der Maschine, die in einer Minute einen Kilometer Hot Dogs auswirft und in Büchsen einschließt. Der Film macht dies in extremen Zeitraffertricks anschaulich. Das normale Auge hat sich längst an das Bild des täglichen Einsatzes von Menschen als Robotern gewöhnt. Am Ende kann einem Außerirdischen auch nicht verborgen bleiben, daß der Mensch mit Energien umgeht, von deren Auswirkung er im Grunde keine Ahnung hat. Er bastelt Bomben, die andere Individuen der Spezies zu Millionen und ganz unkalkulierbar auslöschen können. Er legt seine Behausungen in Asche und selbst sein glanzvollstes Geschöpf, die große Megalopolis, zittert vor seiner Zerstörungswut. Man kann dies mit Aufnahmen von der brennenden South Bronx belegen und mit den erbärmlichen Gestalten, die noch ihre Ruinen bevölkern. Koyaanisqatsi“, ein Leben außer Balance und Kontrolle.
     

    Diese Großform des Films ist zugleich auch die seiner Musik. Jeder Teil, jede Entdeckung des imaginären Besuchers zeigt ein anderes Tempo der Wahrnehmung. Ein Beispiel zu den Naturaufnahmen aus dem ersten Teil: die Musik spielt zu den schon erwähnten Wolkenbildern aus Hawaii. Sie stammen von dem Kameramann Luis Schwarzberg, der zehn Jahre seines Lebens auf den vulkanischen Höhen der Inseln verbrachte, nur um die besten Aufnamen von Kumulus-Wolken, Gewittern und fließendem Nebel zu schießen. Man hat die Illusion, Wolken seien lebendige Wesen, die miteinander kommunizieren und bisweilen die Gestalt von Wasser annehmen, das durch die Wipfel des tropischen Walds zu Tal schießt.
     

    Die relativ starren, geradeaus laufenden Rhythmen dieser Musik und auch der meisten anderen Teile der Filmpartitur zeugen von einem Umdenken in den Beziehungen zwischen Klang und Bild. Solche Musik kann schon wegen ihrer geringen Flexibilität kaum je Untermalung sein. Sie ist nicht, wie üblich, in die Sekundenbruchstücke geteilt, die es erlauben, mit dem nächsten Schnitt im Film gleich auch in eine andere musikalische Gefühlswelt einzutauchen. Bei einem nicht-verbalen Film – das scheint ein handwerkliches Gesetz dieser unkonventionellen Gattung zu sein – müssen die Bilder auch der Musik gehorchen können. Kleine Schnitte müssen Takt- und Harmoniewechseln folgen und der Komponist seinerseits braucht einen genauen Überblick über das Bildmaterial, das Gewicht der Aussage und die Dauer der Sequenzen, denn nun ist er es, der hier, in der Mikro-Welt des Films, Regie führt. Phil Glass war auf diese Funktion schon durch seine Theater-Arbeit glänzend vorbereitet. Als er an die Partitur zu „Koyaanisqatsi“ ging, hatte er gerade seine Gandhi-Oper „Satyagraha“ beendet und in Stuttgart uraufgeführt. Auch die Besetzung der Filmmusik mit großem, meist bläserischem Orchestersatz und instrumental geführten Chorstimmen erinnert an seine üppigen Opern-Ensembles. Einige der instrumentalen Sätze, etwa der Trompeten-Chor, erfordern allerdings eine spielerische Akrobatik, die man nur im Aufnahmestudio so perfekt zu hören bekommt und für die man sich schon die Bläser der New Yorker Philharmoniker engagieren muß.
     

    „Koyaanisqatsi“ ist nun in den USA auf dem besten Weg, ein Kultfilm der 80er Jahre zu werden. Manche Kritker sehen in ihm einen Vorboten der Zukunft. Sie überlegen, ob es nicht noch viele weitere wortlose Filme geben könnte, in denen Musik und Kamera ein ungetrübtes Eigenleben führen. Ohnehin bietet der neue Hollywoodfilm mit seinen brillanten technischen Gags einen recht traurigen, verwahrlosten Anblick, sieht man ihn aus der Perspektive des Theaters und der Schauspielerei. Die Stories sind meist mythologisch, es gibt nur noch Gute und Böse, die ihren immergleichen Krieg für die Zielgruppe der unter 25jährigen führen. Die Drehbücher sind zu Partituren für die große Hollywood-Trickmaschine herabgesunken, sind im Grunde schon reine Anweisungen für Video-Spiele im 70-mm-Format. Auch die Helden dürfen nach dem Willen der Marktstrategen keine wirklichen Gesichter haben. Der All-American Boy und das durchschnittliche High-School-Girl würden sich in den Charakterköpfen vom Schlag eines Humphrey Bogart nicht wiedererkennen. Und nicht zuletzt: die eigentlichen Video-Spiele, ein Milliardengeschäft der letzten Jahre, verzichten ohnehin schon auf jeden Anflug von Theater. Es ist also nur eine Frage der Zeit, daß eines Tages die Vorstellung gänzlich verschwindet, Film habe entfernt noch etwas mit Shakespeare zu tun.

  2. Michael Engelbrecht:

    Hans-Dieter, da weiss ich, was ich heute sehen und hören werde.

    Ich staune nicht schlecht, in welchen Zusammenhängen der Name Walter Bachauer immer wieder auftaucht. Mit Terry Riley brachte er Ragamusik ins Cafe Einstein, mit Nico, Cale und Eno hatte er Avantgardisten im Programm, die die Geschichte der Publikumsskandale fortführten, und dann all die Sendungen, die mir Seelennahrung gewesen wären, hätte ich nur Radiosendungen aus Berlin hören können. aber Stück für Stück öffnen sich hier Archive – wunderbar.

    Und, „passend“ zur Historie des Einstein Cafés (und nach der Diskussion der frühen zwei Kraftwerkscheiben (hier), habe ich mir die Kraftwerkplatte, auf Vinyl, besorgt, von der ich gar nicht weiss, ob sie mir so gefallen wird wie all die Teile davor: The Electric Café, leider später umbenannt in den schlichten plakativen Titel TECHNO POP – wieder so eine Businessmassnahme, damit auch jeder weiss, was Kraftwerk für Techno bedeutete ?! Da habe ich ja Programm heute … ich hatte „The Electric Café“ damals nur am Rande wahrgenommen, anders als AUTOBAHN etc.

  3. Michael Engelbrecht:

    Und „Electric Cafe“ … nun gehört … ist dann doch tatsächlich in meinen Ohren ein ganz schwaches Album, nach etlichen Klassealben hintereinander… die Tage gehört, und für immer zur Seite gelegt. Sowas nennt man Selbstentleerung, das weit zurück liegendeVorspiel zu dieser Tour-de-France-Kommerz-Nostalgie-Platte.

    Das „kostet“ Kraftwerk Platz 3 in meiner „Krautrockrangliste“, sie rutschen hinter Neu! und Faust auf Platz 5:)


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