Manafonistas

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Absencen
 
 
 
Es war einmal in Deutschland eine wilde Zeit, da schossen die seltsamsten Experimente wie Pilze aus dem Boden. Ende der Sechziger Jahre und im Laufe des nicht minder magischen Siebten Jahrzehnts sorgten Gruppen wie Can, Kraftwerk, Cluster und andere für eine Alternative zur anglo-amerikansichen Vorherrschaft der Rockkultur. Die Musik war systemisch, schrullig, archaisch. Brian Eno besuchte Moebius und Roedelius im Weserbergland und fand dort Seelenverwandte seiner „Ambient Music“!

Jahrzehnte später, Ende der 90er Jahre, entwickelte sich, in fast provinzieller Abgeschiedenheit und um den Karsruher Multinstrumentalisten Thomas Weber herum, eine Formation, die manche dieser alten Rezepturen durchleuchtete, verwarf, sich seitwärts treiben liess, und, nach Lehr- und Wanderjahren, drei Alben von einsamer Klasse in die Welt setzte: „Cicadiae“ (2003), „“Absencen“ (2005) und „Jinx“ (2007).

Die Grenzen zwischen digitaler und analoger Musikproduktion verschwammen bei diesen Klangsuchern zusehends. Es entstand eine Gegenwelt zu allem Modisch-Technoiden: wäre da plötzlich eine flüchtige Trompetenfigur  von Jon Hassell aufgetaucht, eine vekratzte Tonspur aus King Tubby´s jamaikanischer Holzhütte, oder ein verlorener Akkord aus einem Go-Betweens-Song: alles wäre an seinem Platz gewesen!   

Musik funktioniert nie ohne Erinnerung: was das Kammerflimmer Kollektief heraufbeschwört, mit seiner Melange von Jazz und Elektronik, mit dem langen Atem des Folk und den langsam rollenden Wellen unbewusst wirkender Melodien, ist eine Form des Erinnerns, der das Zitieren mittels postmoderner Heiterkeit abhanden gekommen ist. Hier steht vor dem Zitat das Vergessen, der Punkt Null – und was dann, in sehnsuchtsvollen, ihre Spannung nie ganz preisgebenden Kompositionen ans Licht kommt, ist reich an fernen Anklängen, und zugleich ureigene Handschrift! 

So mag man sich, in Momenten, erinnert fühlen an die Schwebezustände alter Robert Wyatt-Lieder, an die offenen Stimmungen von Joni Mitchell´s „Hejira“, an ätherisch freie Improvisationen melancholischer West-Coast-Musiker, die abends Richard Brautigan lesen und nachts mit John Coltrane´s „Live At The Village Vanguard Again“ im Ohr einschlafen!  

Die Musik des Kammerflimmer Kollekitefs bleibt indes ein Geheimnis, verrätselt, nicht wirklich zu entziffern! Endlich gibt wieder eine  Formation – „post krautrock“ und „post postrock“ -, die in stillen Kammern das lyrische Potential des freien Jazz genauso weiter wirken lässt wie die unverblümte Lust an Ohrwürmern, Erosionen und all den Stillständen, aus denen Unerhörtes und Unheimliches kommt!

 

This entry was posted on Freitag, 15. Juli 2011 and is filed under "Gute Musik, Musik vor 2011". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

1 Comment

  1. Jochen Siemer:

    Der Name „Kammerflimmer Kollektief“ hat etwas Irritierendes – plötzlich wird mir klar: Kollektiv müsste es eigentlich heißen. Das sind diese kleinen, kaum spürbaren Ver-rückungen, an denen wohl auch ein Surrealist wie Max Ernst seine Freude gehabt hätte.

    Kammer, Flimmern, Kollekte, Tiefe … überhaupt sehr metaphernreich, der Name.
    Musik funktioniert nie ohne Erinnerung – und nie ohne Einbildungskraft, wie ich meine. Wie die Musik auf mich wirkt, ist das Eine. Interessant ist aber auch: Was war die Intention des Künstlers? Insofern steht Musik – wie die Bildende Kunst – ja immer auch in einem philosophischen Kontext.

    Wem die Musik des Kammerflimmer Kollektiefs neu ist, dem begegnet hier tatsächlich etwas Unerhörtes: als hätte das Unbewußte ein Sprachrohr (wieder denke ich an Max Ernst); als müsse erstmal alles plattgemacht werden – Pommerland ist abgebrannt -, bevor etwas Neues entsteht: am Nullpunkt.


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