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Archives: Kari Ikonen

In Erinnerung an den Pariser Schlangenclub aus Julio Cortazars „Rayuela – Himmel und Hölle“, ein Roman, so unvergesslich die Lektüre anno 1982, dass ich noch heute ab und zu im dritten Arrondissement auftauche, mit der „Lady In Satin“ von Billie Holiday und „Alone In San Francisco“ von Thelonious Monk in der Papiertüte – neben all dem Mate, und einem im Jardin de Luxembourg frisch gepflückten Blumenstrauss für die Maga. I surrender, dear.


Wäre ich in diesen kalten Tagen in Helsinki und würde ihn gut kennen, wäre die Wohnung dieses finnischen Pianisten eine meiner ersten Anlaufstellen. In seinem Wohnzimmer steht ein Konzertflügel, ein Steinway & Sons B211, 1969 angefertigt in New York. Mit und ohne ein Maqiano (hat er selbst gebastelt) und andere Präparierungen entstand dort eine meiner Lieblingspianosoloalben des 21. Jahrhunderts, „Impressions, Improvisations And Compositions“.

 

Ozella Records ist bekannt für audiophile Schätze, und dies ist mein Favorit von allen Alben, die je bei Ozella, der Firma von Dagobert Böhm, erschienen sind. Ich möchte die Platte hier gar nicht en detail vorstellen. Eine überragende Abbildung des Klaviersounds (die Zeit, dass „home recordings“ für „lofi“ statt für „hifi“ standen, ist schon länger vorbei). Und auch wenn ich der Pressung nur eine glatte 2 gebe (dead quiet ist schon was anderes, aber die eine oder andere Knisterrille ist mir völlig schnuppe), würde ich der Musik eine 10 geben, und dem Klangerleben (Sound) eine 11. (So machen die das etwa bei Analog Planet, wo man unendlich viele Plattenkritiken von Vinylophilen wie Mark Smotroff und Michael Fremer findet – 11 ist das absolute, selten vergebene Maximum, nur für den Sound, wie gesagt, bei der Musikbewertung ist 10 die einsame Höhe.)

 

So viele Besprechungen von Kari Ikonens Meisterstück aus dem Jahre 2020 finden sich gar nicht, aber es würde mich wundern, wenn irgendjemand aus der Kritikergilde weniger als 8, 9, oder 10 aus dem Hut holen würde. Mann muss solche Bewertereien auch gar nicht so ernst nehmen, aber als Anregung taugen sie allemal, und die Leser dieser Zeilen haben gewiss bestimmte Lieblingskritiker, auf deren Meinung man sich oft verlassen kann, weil man über die Jahre gemeinsame Wellenlängen und dergleichen ausfindig gemacht hat. Übrigens: Kandinskys Bild „Blue“ von 1922, ein Ausschnitt davon, ziert das gatefold-Cover. Ob Kari wohl auch Farben sehen kann, wenn er Klänge hört, wäre eine Frage meines Interviews gewesen.

 

 

 


Etwas, das mich an dem Album komplett fasziniert, dass es keine Sekunde und kein Stück gibt, das mir nicht zusagt, dass ich für überflüssig oder Beiwerk halte. Springlebendig, atonal, sowieso melodisch auch, lyrisch, experimentell, monkisch, verwegen, lustvoll, verträumt, Haken schlagend, aus den Ärmeln geschüttelt, laut und leise, kunterbunt, wild und hochkonzentiert, all das und vieles andere noch, 
könnte auf der Rallye der freien Assoziationen aufsteigen und Wortblasen ratzfatz zum Platzen bringen. Einfach versinken, am besten sprachlos – darauf breche ich es mal runter, als freundliche Losung des Augenblicks. Fernab eines bloss virtuos inszenierten Ohrenkitzels, ist das schlicht und ergreifend „deep stuff“. Viel weniger zerebral, als erste Reflexe nahelegen.

 

Und wenn wir schon (spiele mit!) dabei sind, den Koffer für die kommende Inselreise zu packen – ((wähle deine ganz persönliche „desert island“ – es kann Langeoog sein, ein Eiland im Indischen Ozean, weiss der Kuckuck wo, und es gibt in deiner Unterkunft einen „record player“ von VPI Industries Inc. und, ähem, (die Spielregel, der Kick fürs Stöbern auf dem Dachboden), für diese vier (!) Wochen darfst du lediglich fünf Schallplatten mitnehmen, reine Solo- oder Duoaufnahmen, das Piano muss, akustisch oder elektrisch bei allen Fünfen dabei sein)). Hier, zur Vervollständigung meines „Quintetts“, das Meer ringsum, und alles, zum „Versinken“ (es geht nicht um einen Kanon, allein um eine Momentaufnahme, eine atemraubende Liste, die in einer Woche, in einem Jahr wieder ganz anders aussehen könnte): Dollar Brand Duo (with Johnny Dyani – Good News  From Africa (Enja) /// Art Lande with Jan Garbarek: Red Lanta (ECM) /// Archie Shepp & Mal Waldron: Left Alone Revisited (Enja) /// Keith Jarrett & Jack DeJohnette: Ruta & Daitya (ECM). So weit, so gut.

 

Da Spielregeln stets etwas Begrenzendes haben, gibt es, Überraschung, Augenzwinkern incl., einen „Ausreisser“, eine „wild card“, eine sechste Platte (gern auch ein Doppelalbum), das aus der Reihe fällt, mit oder ohne Klavier. Meine „Nummer Sechs“ wäre Steve Tibbetts: Life of (ECM). – (one of these albums, the name „desert island record“ could‘ve been coined for. The minor quibble: the vinyl still has to be pressed. If that is not going to happen, Farid El Atrache‘s Nagham Fi Hayati would do the trick in the windmills of my mind.)

 

The first „5+1 piano solo / duo lists of magic“ that arrive in my email till Sunday evening, will probably be posted here (micha.engelbrecht@gmx.de) – and don‘t forget the name of the island. P.S. Kaum schliesse ich die Seite, begegnet mir ein neuer Text von Jo, und folgendes Zitat von Dietmar Kamper springt mir entgegen: „Das Leben lebt nicht. Man muss zaubern können.“ 

Eine Woche hat die Schallplatte hier verpackt herumgestanden. Eine Mischung aus Präsenzunterricht und Homeschooling (wahrscheinlich gut das als Lehrer auch aus Elternperspektive zu erleben, allerdings kann ich auf manche Erfahrungen verzichten), einem zickenden Computer, gesundheitlichen Scherereien, gepaart mit der ja nicht gerade rosigen Gesamtsituation hat mich voll ausgelastet – keine Zeit für Kari Ikonen, kaum Momente überhaupt zum Musikhören. Am Freitag dann ein erstes Hören, während meine Tochter etwas backt. Alles andere als optimale Bedingungen, zumal „Impressions, Improvisations and Compositions“ eher Ruhe benötigt, für den Raum zwischen den Tönen und dem Nachhall – die Geräusche von Küchenmaschine und Schneebesen sind da eher störend. Ein zweites Hören dann am Samstagabend, im Dunkeln, pro Seite ein Glas Balvenie, ein drittes dann vormittags mit Keks und Kaffee. Ein streng angelegter Klanggarten, in dem munterer Wildwuchs herrscht: wilder Hopfen wuchert über geometrische Beete, zarte Frühblüher schauen aus trockenem Herbstlaub hervor, Wassertriebe zittern in der Luft. Rhythmisches Klopfen, Gegenstände auf oder zwischen den Saiten und eine erfundene Vorrichtung, ein Maquiano, bereichern das Klangbild des Flügels. In den letzten beiden Stücken höre ich Instrumente, die nicht gespielt werden, Trompete, Saxophon, Bass, Schlagzeug, so wie das Auge im März manchmal schon statt den Knospen die Blüten am Magnolienbaum sieht.

 
 

Ich kehre gerne zu dieser Vinylscheibe zurück, die vor Wochen bei Ozella Music erschien, und die mich schon nach dem ersten Hören, seltsam genug, an meine Zeit mit Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ erinnerte. Ich war damals vielleicht 13, und mein kleines Fischer-Taschenbuch mit Lithographien ausgestattet, die so manch unterirdische Szene in niemals klamaukartigen Motiven ausleuchtete. Immer noch weit hinter den eigenen Fantasien angesiedelt, mehr wie die Erinnerungen eines alternden Geologen, der die gesammelte Psychedelik des grossen Abenteuers seines Lebens in  eine fein ziselierte Welt aus Grautönen verwandelte. Man wurde ja in diesem Buch von Unterwelt zu Unterwelt geschleust, mit einer recht kauzig besetzten Mannschaft, in der eine junge blonde Frau so wenig fehlen durfte wie ein tollkühner Professor. Allein mit Pfadfindertugenden wäre man nicht weit gekommen, und es ist alles gar nicht so weit hergeholt, dass mir bei diesen Leseerinnerungen (immerzu abends, einmal Blitze, Donner hinter Rolleauschlitzen, nie kam ich dem See tief unter der Erde näher) Kari Ikonen in den Sinn kommt. Der Finne hat sein Album zuhause aufgenommen, und offensichtlich ein Klasseklavier mit bestens positionierten Mikrofonen umgeben, so dass ein lebhafter, springlebendiger Sound garantiert ist. Das Fachwort ist wohl „close miking“. Zu all dem hat Kari Ikonen noch ein kleines Gerät entwickelt, das geschickt zwischen den Saiten des Flüges einzuspannen ist: allerlei exotische Skalen werden da getriggert, die die Exotik merklich erweitern. Und tatsächlich, im Lauf dieses Trips, werden wir mal durch arabisches, dann wieder japanoides Terrain geschleust, was kurz den Verdacht nahelegt, der liebe Kari wäre wie der Held eines anderen Jules Verne Romans in 80 Tagen und entsprechender Tastenzahl um die Welt gehastet. Was ja nun heute, zumindest vor Corona, nichts Fantastisches mehr an sich hätte, so ausgeleuchtet ist jeder touristische Trampelpfad – und in der Musik ist es nicht viel anders. Ein Stück heisst gar „Koto“, und leicht könnte man auch hier einen „trickster“ wittern, der ein paar japanische Nettigkeiten aus dem Flügel lockt wie ein zweitklassiger Zauberer tote Kaninchen aus seinem Hut. Zum Glück passiert so ein fauler Zauber nicht mal im Ansatz. Zu lebendig gerät jeder einzelne Augenblick, und Kari Ikonen entführt uns mit seinen „Impressions, Improvisations & Compositions“ in ein erstaunliches Feld fortwährender Überraschungen (oder wäre Abenteuer das bessere Wort?). Eine gravierende Idee im Hinterkopf war es wohl, komme, was wolle, den vertikalen Blick für seine Klangbilder zu schulen, ihnen in jede erdenkliche Tiefe zu folgen, tiefer und tiefer (auch in hellsten Tönen mit leuchtendem Gelb) – immerzu den schönen Schein von Glitzer, Tand und Tollerei abstreifen, und so, Schritt für Schritt, die Reise zum Mittelpunkt des Klaviers antreten, in dem eine beträchtliche Wärme herrscht! Für solche Hausmusik braucht es kein Kaminfeuer. (In meinen Klanghorizonten am 20. Februar spielte ich, zu Anfang, nach einem Gedicht aus Dana Rangas „Cosmos!“, die Miniatur „Blue“, beflügelt von dem Kandinsky-Bild des Covers. Wie schön, dass einige Hörer auf Anhieb aufhorchten, und ahnten, welch besonderen Räume sich hier wohl, Schritt für Schritt, öffnen.)


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